Von Feuerland zur Karibik9. Reisebericht: Quito (Ecuador) – Caracas (Venezuela)Nach eineinhalb Wochen verließ ich Quito wieder. Weil in Kolumbien keine größeren Attacken zwischen Militär und Guerillas in letzter Zeit gemeldet wurden, bestand kein Grund meine Reiseroute zu ändern und nicht durch dieses Land zu fahren. Trotzdem rief ich die österreichische Botschafterin in Bogotá an, welche Ratschläge sie mir geben könnte, außer, dass ich nicht durch Kolumbien fahren sollte. Bis Pasto, etwa 90 Kilometer nach der Grenze, wäre es relativ sicher. Von Pasto nach Cali im Süden und von Santa Marta bis zur venezolanischen Grenze im Norden sollte ich unbedingt den Bus nehmen, weil es wegen der Guerillas, Paramilitärs, Drogenmafia und "ordinären" Kriminellen sehr gefährlich sei. Beide Strecken führen durch dünn besiedelte Gebiete und im Süden auch noch durch unübersichtliches Bergland. Bei angenehmen sommerlichen Temperaturen ging es nun auf die letzte, große Etappe. Gleich am ersten Tag: Großerlebnis – Äquatorüberquerung! Kurz nach Quito begann eine schöne lange Abfahrt, die ich sehr genoss. Aber nichts ist umsonst, und so durfte ich auch bald wieder in kühle Regionen bis knapp unter die Wolkendecke hoch strampeln. 14 Grad und Nieselregen am Äquator – das war enttäuschend. Auch das ich den Äquator überfuhr ohne es zu merken, war kein Glanzlicht. Doch zu sehr hatte ich mich auf eine Markierung im Asphalt (lt. Handbuch) verlassen. So musste ich nächsten Morgen bei Regenwetter von der nahen Stadt Cayambe – in der ich übernachtete – zurückfahren. Nun konnte ich das Äquator-Monument in Form einer relativ kleinen Weltkugel betrachten und diesen "großen Moment" würdig in mich aufnehmen. Nach dem Stelldichein mit Fotos wechselte ich nun, nach mehr als 12.000 Kilometern, "bewusst" auf die nördliche Halbkugel über. (Übrigens, übertragen auf die nördliche Halbkugel, wäre dies breitengradmäßig Hamburg – Nairobi in Kenia.) Vom Äquator steuerte ich nun die etwa 40 Kilometer entfernte Stadt Otavalo an, die durch ihren Indiomarkt (jeden Samstag) sehr bekannt ist. Unterwegs sah ich viele Treibhäuser in denen d i e Blumen gezüchtet werden, die per Jets zu uns kommen und unseren Blumenzüchtern Sorgen bereiten. Die Treibhäuser brauchen natürlich keine Heizungen und auch kein Glas wie hier, sondern nur leichte, luftdurchlässige Kunststofffolien. Auch begegneten mir auf dem Weg zwei kolumbianische Fernradler aus Bogotá, die nach Cusco in Südperu unterwegs waren. In Otavalo hörte ich am Abend auf der Plaza noch einen Teil eines sehr schönen Weihnachtskonzertes mit einem großen Kinderchor und Jugendorchester. Sogar "Stille Nacht Heilige Nacht" wurde auf spanisch gesungen. Da auch das Wetter entsprechend dunkel und kühl war, bekam ich zum ersten Mal weihnachtliche Gefühle. Hier traf ich auch Reinhold aus Augsburg, der von mir ein Päckchen mit Filmen nach Deutschland mitnahm, um es nach Hamburg zu schicken. Dies ist für Filme immer der sicherste Weg. Nach einem Tag Aufenthalt in Otavalo ging es weiter nordwärts Richtung Kolumbien. Mein Tagesziel war das Dorf Bolivar. Am frühen Nachmittag zeigte mir ein offizielles Schild zehn Kilometer bis dorthin an, tatsächlich waren es 26 Kilometer und dies bei reiner Bergfahrt. Nun war ich nur noch eine Tagesetappe von der kolumbianischen Grenze entfernt. Landschaftlich ging es durch grünes, sehr hügeliges Gelände. Kurz vor der Grenzstadt Tulcán musste ich mich nach langer Zeit wieder einmal bei einer Polizeikontrollstelle ausweisen. Die unbefestigte Zufahrtsstraße in die Stadt, war sehr gefährlich, denn es fehlten sämtliche Sieldeckel. Wie die Autos, musste auch ich in Schlangenlinie um die bis zu zwei Meter tiefen Löcher fahren. Überhaupt gefiel mir die Stadt nicht, sie war staubig und abgashaltig. Von hier war es nicht mehr weit bis in die kolumbianische Grenzstadt Ipiales. Es wäre kein Problem gewesen, diese noch zu erreichen, doch nahm ich mir noch etwas Zeit, um mich innerlich auf das neue Land einzustellen. Ein etwas mulmiges Gefühl hatte ich schon, da ich um die Gefahren wusste, Kolumbien auf dem Landwege zu bereisen. Das Auswärtige Amt rät grundsätzlich von solchen Reisen ab. Also, nun war es soweit, nur 16 Kilometer waren es von Tulcán bis in die kolumbianische Grenzstadt Ipiales, und weiter wollte ich an diesem Tage auch nicht. Die Grenze verlief in der Mitte einer Brücke, die eine tiefe Schlucht überspannte. Es war die erste Grenzabfertigungsanlage - die wie europäische Anlagen - großzügig und unmittelbar hintereinander gebaut war. Auch der Betrieb war enorm und ich wunderte mich, woher all die kolumbianischen Autos kamen, denn in Ecuador hatte ich kaum welche gesehen. Die Aus- und Einreise war auch hier wieder ohne Probleme, und ich bekam meinen Stempel für 90 Tage Aufenthalt in den Pass. Gewöhnungsbedürftig aber war nun die Währung. 2.600 Pesos gab es für nur einen Dollar, und das, da ich gerade aus Ecuador kam, wo der US-Dollar offizielles Zahlungsmittel ist. In Ipiales blieb ich für eine Nacht. Nun war ich in einem Land, wo die Regierungen seit Jahrzehnten dem Problem der Terrorakte verschiedener rechtsextremer Gruppen (Paramilitärs), linksgerichteter Guerillabewegungen und der Drogenmafia nahezu machtlos gegenüberstehen. Dazu dann noch die "normalen" Kriminellen. Das Gefahrenpotential war also enorm. Mir war aber nun wohler zumute, denn jetzt musste ich mich mit der Lage auseinandersetzen und hatte den Schritt nicht erst noch vor mir. Interessantes erfuhr ich von einem deutschen Paar, das in Sorata (Bolivien) ein Café hatte. Bei den Unruhen dort im August/September 2003 wurde – neben anderen Brandschatzungen – auch das Hotel eines (etwas zwielichtigen) Deutschen von Demonstranten in Brand gesteckt. Ich wohnte in diesem Hotel. Meine erste Etappe führte mich nach Pasto (87 km), und ich bewegte mich in sehr schönen Berglandschaften immer zwischen 2.900, 1.800 und 3.300 Meter Seehöhe. Nicht weit nach Ipiales begann eine herrliche, lange Abfahrt hoch über einem wilden Gebirgsfluss, die auf einer Brücke über einer spektakulären, tiefen Schlucht endete. Die Menschen schienen Blumenliebhaber zu sein, denn überall an und vor den Häusern hatten sie Blumen in Töpfen, Kästen, Kübeln oder Beeten gepflanzt. Auch stellte ich bald erfreut fest, dass die Lkws und Busse die Auspuffrohre hochgezogen hatten und sie nicht, wie in Ecuador, zur rechten Straßenseite hin ausgerichtet waren. In Pasto erkundigte ich mich erst bei der Touristinformation, die sich daraufhin telefonisch mit der Polizei in Verbindung setzte und auch persönlich in einer Polizeistation, nach der Lage auf der Strecke Pasto – Cali. Von beiden bekam ich die Auskunft, dass es keine Probleme mit den Guerillas gäbe und die Strecke einigermaßen sicher sei. Allerdings, so wurde mir von den Polizisten gesagt, wäre es besser am Wochenende zu fahren, denn dann sei die Polizei- und Militärpräsenz größer. Mit dem Wochenende wäre es ja hingekommen, es war Donnerstag, doch die 350 Kilometer in diesem Bergland nach Cali hätte ich nicht in zwei Tagen schaffen können. Also nahm ich, wie empfohlen, den Bus. Bei der Busgesellschaft im Terminal wäre es kein Problem gewesen, für nächsten Tag ein Ticket zu lösen. Man konnte mir jedoch nicht zusagen, ob auch für mein Fahrrad Platz ist. Wenn ich allerdings morgens schon um acht Uhr führe, würde es gehen. Bereits um halb acht Uhr stand ich vorm Schalter, doch genützt hat es mir nichts. Der Busfahrer nahm mein Rad nicht mit. Nun musste ich bei einer anderen Gesellschaft buchen. Deren Bus fuhr erst mittags und die Ankunftszeit in Cali war für 20 Uhr vorgesehen. Dies war wegen der dann herrschenden Dunkelheit keine gute Zeit. Auf den Busbahnhöfen muss man auf sein Gepäck besonders gut aufpassen. Mit meinem Fahrrad und den vielen Packtaschen, hatte ich es besonders schwer. Während der Wartezeit schenkte ich meinen warmen Fleece-Pullover einem armen Tagelöhner. Bei dieser Aktion wurde ich von einem Pferdefuhrwerk angefahren, was mir einen kräftigen Bluterguss in der Wade einbrachte. Die Strecke nach Cali war sehr schön. Am gefährlichsten mit dem Rad dürfte wohl der Verkehr sein, denn fast auf der gesamten Strecke ging es von einem Berg zum anderen und von einer Kurve in die nächste und das alles ohne Seitenstreifen. Die Lastzüge und Busse können gar nicht anders, als den ganzen Platz (zumindest in den Innenkurven) für sich zu beanspruchen. Einmal wurde der Bus von einer Militärkontrolle gestoppt und wir wurden aufgefordert auszusteigen. Draußen wurden die Taschen oberflächlich überprüft. Wie einige andere Passagiere auch, überhörte ich absichtlich diese Aufforderung, wollte aber nach der zweiten Aufforderung nach draußen gehen. Da stieg eine Frau wieder in den Bus, drängte mich zurück und sagte mir leise, ich solle nicht raus gehen. Bald darauf setzte der Bus seine Fahrt fort. In Cali fuhr der Bus nicht einmal auf den Terminal, sondern ich wurde als einziger mit meinen sieben Sachen gleich davor auf der Straße abgesetzt. Wie meist bei solchen Fahrten, geht irgend etwas beim Rad kaputt. Diesmal war es (wieder) der Kilometerzähler. Die abgerissene Lampe reichte mir der Fahrer noch nach und die Birne fand ich auf der Straße wieder. Glück hatte ich, weil auf dieser Straße kaum Passanten waren, sondern nur die Taxifahrer in langer Schlange warteten. So konnte ich alles in relativer Ruhe wieder aufpacken und ins Zentrum zur Quartierssuche fahren. Einen Tag blieb ich in Cali. Am nächsten Abend in der Avenida 6 (wo sonnabends die "Post abgeht") bekam ich wieder einmal das richtige "Gänsehautgefühl", als ich die fröhliche Ausgelassenheit der Menschen in den Straßenrestaurants, auf der Straße und in den offenen Bussen mit ihren kleinen Stimmungsbands beobachtete. Es wurde getrunken (die Kolumbianer sind auch den härteren Sachen sehr zugetan), getanzt und die kolumbianische Musik begeisterte mich sehr. Die jungen Frauen und Mädchen flanierten sehr offenherzig und bauchfrei, was sich bei Temperaturen über 25 Grad gut machen lässt – und schön anzusehen war es allemal. Ein merkwürdiger Kontrast dazu waren die beleuchteten Weihnachtsdekorationen, die unter den mächtigen, belaubten Alleebäumen hingen. Ich genoss es einfach, in einem fremden Land zu sein! Eigentlich hätte ich hier Weihnachten verbringen mögen, doch vier Tage darauf zu warten, war mir zu lang. So fuhr ich am nächsten Tag weiter in die zwei Tagesetappen entfernte Stadt Cartago, um dort die zweiten Weihnachten auf meiner Reise zu verbringen. Bald nach Cali kreuzte ich zum ersten Mal den Rio Cauca und fuhr in dessen breitem, fruchtbaren Tal bis Cartago – ohne ihn jedoch nochmals zu sehen. Dafür aber sah ich das erste Mal große Ananasfelder. Die einzelnen Pflanzen mit ihren noch jungen Früchten waren sehr schön. In Cartago fand ich ein hübsches, kleines Zimmer, in dem ich mich sehr wohl fühlte. Danach war ich erst einmal viele Stunden beschäftigt, um im Internetcafé meine Weihnachtspost zu sichten und zu beantworten sowie mit meiner Familie zu telefonieren. In der Stadt war mir angenehm aufgefallen, dass die Geschäfte kaum noch mit Rollläden verschlossen waren, die die Straßen immer so düster wirken lassen. Sie hatten normale Scheiben wie bei uns auch oder manchmal ansehnliche, weiße Gitter, die in den Tür- oder Fensterrahmen integriert waren. Für den Heiligen Abend ließ ich mir ein gutes Restaurant nennen, um diesen Abend würdig zu feiern. Weihnachtliche Gefühle stellten sich nicht ein, denn dazu brauchen wir Mitteleuropäer einfach die dunkle und kalte Jahreszeit. Der Abend war dann ohnehin nicht so gut gelungen, obwohl das Lokal sehr schön und weihnachtlich geschmückt war. Allerdings waren nur wenige Tische besetzt, denn auch dort feiern die Familien unter sich und gehen kaum aus. Außerdem witterte der Oberkellner in mir wohl eine "Weihnachtsgans", die er rupfen wollte. Eine Flasche Rotwein wollte ich mir gönnen und hatte die Wahl zwischen einem preiswerten Kolumbianer oder einem teuren Chilenen. In meiner "Bescheidenheit" entschied ich mich für den einheimischen Wein. Der junge Ober kam bald zurück, um mir zu sagen, dass dieser nicht vorrätig sei (was ich bezweifelte). Folglich musste ich den chilenischen nehmen. Von nun an übernahm der Oberkellner meinen Tisch und brachte mir den etwas zu warmen Rotwein im Eiskübel und anstelle des bestellten Mineralwassers, nach Chlor schmeckendes Leitungswasser. Das Essen war in Ordnung. Zum Schluss "verrechnete" er sich beim Zusammenzählen noch um gut 10 Prozent und mahnte auch noch Trinkgeld an. Nachdem ich ihm meine Meinung gesagt hatte, verließ er meinen Tisch schulterzuckend. War auch nicht in seinem Sinne gelaufen! Silvester wollte ich in Medellin feiern und so nahm ich am 27. Dezember die 260 Kilometer lange Strecke unter die Räder. Anfangs wurden überall an der Straße saftige, schmackhafte Ananasscheiben verkauft, die den Durst wunderbar löschten. Bald überquerte ich den Rio Cauca erneut und verließ damit sein Tal. Nun schloss sich eine etwa 40 Kilometer lange Steigungsstrecke in einer sehr schönen Berglandschaft an. Die ersten Kaffeepflanzungen zeigten sich (ich war am Rande des größten Kaffeeanbaugebietes von Kolumbien) und die Straße schlängelte sich von einer Kurve in die nächste. Ich war gut ausgeruht, somit gut drauf und mochte deshalb nicht schon gegen drei Uhr am Nachmittag meine Fahrt beenden, als ich das große Bergdorf Anserma erreichte. Dies war wieder gegen meinen Vorsatz: Lieber eine kürzere Etappe fahren, als in Schwierigkeiten zu kommen. Letzteres war dann der Fall. In der Hoffnung, die Steigungsstrecke müsste bald ein Ende haben, fuhr ich weiter, um den nächsten Ort Riosucio (schmutziger Fluss) zu erreichen. Die Straße stieg aber immer weiter an und die Sonne wanderte schnell dem Horizont zu. Dazwischen ein paar kräftige Regenschauer, und ich nahm mir nicht mehr die Zeit, um mich unterzustellen. Die Dämmerung rückte näher und das erfüllte mich mit Sorge. Gern hätte ich nun ein Auto angehalten – aber es kam keines. Immer wieder begegnete ich größeren und kleinen Gruppen von Soldaten, was ich als beruhigend empfand. Dann wollten sich zwei Soldaten mit mir einen Scherz erlauben. Schnell kletterten sie von einem Baum, von dem sie Ausschau hielten und sagten mir, sie wären Ladrones (Räuber). Dabei machten sie mit dem gekrümmten Zeigefinger die Gestik des Gewehrabzuges (nicht an der Waffe). Ich schenkte ihnen aber keine Aufmerksamkeit und war nur fixiert auf den vor mir liegenden Bergrücken hinter dem die Straße verschwand. Meine ganze Hoffnung lag darin, dass es zu dem noch etwa fünf bis sechs Kilometer entfernten Riosucio nicht weiter nach oben gehen möge. Mit großer Erleichterung sah ich dann bald die Lichter des Ortes u n t e n leuchten. Kurz darauf passierte ich noch einen größeren Trupp von Soldaten, die ihren Unterstand neben ein paar ausgebrannten Fahrzeugen eingerichtet hatten. Hätte die Straße nicht den gewünschten Verlauf genommen, wäre ich zu einem in der Nähe gelegenen Bauernhof gefahren, um für eine Übernachtungsmöglichkeit zu bitten. Wieder einmal hatte es im letzten Moment geklappt, und ich fand noch ein Bett für die Nacht. Wie ich erst viel später feststellte, unterhielt ich mich – ohne es zu wissen – in einem kleinen Dorf mit einer größeren Gruppe von Guerillas. Dies war, bevor ich auf die ersten regulären Soldaten traf und ich wollte wissen, ob es eine Übernachtungsmöglichkeit gebe. Sie verwiesen mich auf Riosucio. Wie das Militär, trugen auch sie Kampfuniformen. Mir fiel nur auf, dass sie über den ganzen linken Oberarm, so eine Art Ärmel mit den kolumbianischen Farben trugen, und ordnete dies einer bestimmten Einheit zu. Erst durch Bilder aus dem Internet wurde ich aufgeklärt! Zum Glück sagte ich ihnen nicht, dass ich mich durch die militärische Anwesenheit beschützt fühle – wie vorher schon öfters zu anderen Soldaten – worüber diese ganz stolz waren. Nach einer herrlichen Abfahrt kam ich am nächsten Morgen in das nun enge Tal des dort wilden Rio Cauca, neben dem ich dann lange Zeit entlang fahren konnte. Mittags musste ich ihn leider wieder verlassen, um bei großer Hitze 25 Kilometer und 1.650 Höhenmeter nach Santa Barbara hinauf zu fahren. Es war Sonntag und im Zentrum des Ortes war der Teufel los. Auf der Plaza und in den angrenzenden, schmalen Straßen war ein Lokal neben dem anderen und aus jedem dröhnte laute Musik. In und vor den Lokalen kreisten die Schnapsflaschen und viele Betrunkene torkelten auf der Straße. Wie ein Fremdkörper kam ich mir vor, als ich mir meinen Weg mit dem bepackten Rad durch die Menge bahnen musste, um ein Quartier zu suchen. Alle Pensionen, die ich fand, waren in den oberen Etagen. Das war für mich immer ein großes Problem, denn ich mochte mein Rad nicht alleine unten stehen lassen, um nach einem freien Zimmer zu fragen und es ggf. zu besichtigen. Ein Krämer von nebenan beaufsichtigte schließlich mein Rad, und ich nahm das erstbeste Zimmer, das mir angeboten wurde. Dieses war allerdings wohl das allerschlechteste, was ich jemals hatte. Ohne Fenster, winzig klein und gerade so lang wie das Bett und seitlich noch einen Meter, wo das Fahrrad Platz fand. Die Wände nur aus einem Lattengerüst, das mit Sperrholz ausgefüllt war. Eigentlich waren es nur Boxen, die in einen großen Raum hineingebaut waren. Ich hatte richtig Angst, wenn etwa ein Feuer ausbräche und sah mich gleich nach Fluchtwegen um. Zur Straße hin hatte das Haus nur eine Etage, nach hinten gut drei, da es an einem steilen Hang stand. Zwar hatte ich ein Zimmer mit Dusche und WC gemietet, doch es gab wieder einmal kein Wasser. Nach meiner Reklamation lief die Wirtin zu mehren Wasserhähnen und tat ganz überrascht, als auch dort kein Wasser kam – dabei wusste sie ganz genau, dass es kein Wasser gab. So musste ich mir einen Eimer voll Wasser aus den Reservetonnen in der Waschküche holen. Morgens stritt ich mich mit der Wirtin, da ich nicht gewillt war, den vollen Preis zu zahlen. Sehr erleichtert war ich, als ich das Haus wieder verlassen hatte. Die nächsten Stunden musste ich gleich tüchtig in die Pedalen treten, denn, obwohl gestern schon so hoch "geklettert", ging es nochmals um 650 Meter höher auf knapp 2.500 Meter. Wie ich später erfuhr, gehört dieser Pass zur 1.Kategorie bei Bergwertungen (laut kolumbianischem Radsportbund). Eine schöne Abfahrt brachte mich bis 30 Kilometer vor Medellin, und auch der Rest bis in das Zentrum hatte meist leichtes Gefälle. Unterwegs stoppte ein junges Paar mit einem Motorroller neben mir und lud mich in das gegenüber liegende Restaurant zu einem Getränk ein. Wir trennten uns mit meinem Versprechen, sie in Medellin anzurufen. Dies tat ich nächsten Tag dann auch. Schon am Abend holten sie mich ab, um mir ihre Stadt zu zeigen, auf die sie sehr stolz sind. Medellin – 1,7 Mill. Einwohner, in einer großen Talmulde zwischen hohen, grünen Bergen auf 1.500 Meter Seehöhe gelegen und mit einem sehr angenehmen Klima – sowie die ganze Provinz Antioquia haben in Kolumbien einen guten Ruf. Hier sollen die fleißigsten Leute leben und wirtschaftlich floriert es am Besten. Auch ich war von der grünen Stadt begeistert, ebenso von der aufwendigen Weihnachtsdekoration- und Beleuchtung, die jährlich viele Touristen aus dem ganzen Land anzieht. Die Innenstadt hat kaum koloniale Gebäude und ich fand nichts besonderes an ihr. Doch von einem riesigen Supermarkt mit 52! Kassen war ich wirklich überrascht. Nachts soll sie wegen hoher Kriminalität sehr gefährlich sein, deswegen schließen angeblich auch die Internet-Cafés schon um 19 Uhr. Trotzdem, abends war ein schöner, breiter Boulevard für den Autoverkehr gesperrt und zum Flanieren für die Bevölkerung freigegeben. Man konnte sich an den verschiedenen künstlerischen Darbietungen sowie an Angeboten von frisch gepressten Fruchtsäften bis hin zum Kunsthandwerk und Malereien erfreuen. Ansonsten erinnerte mich viel an Hamburg, was die aufgelockerte Bebauung und das Grün anbelangte. In vielen Straßen gibt es große, schattenspendende Alleebäume und außerdem viele Parks. Natürlich gibt es auch weniger gute Stadtviertel. Eine ausschließlich oberirdisch fahrende Metro besitzt die Stadt seit acht Jahren. Die Züge und Bahnhöfe sind sehr sauber und kein Papier, keine Zigarettenkippen oder Kaugummi beschmutzen die Bahnsteige. Kurios, aber der ganze Fahr-Betrieb wird von der Metro-Polizei abgewickelt. Gewöhnungsbedürftig für mich war, dass Gebiete der Umgebung in "gefährlich" und "ungefährlich" klassifiziert wurden. So soll es in den westlichen Bergen gefährlich sein (Guerillas) und in den östlichen nicht. Die Drogenmafia hat in Medellin nicht mehr den großen Einfluss wie früher. Viele Drogenbosse sitzen im Gefängnis, aber in den USA, denn die USA finanzieren die Drogenbekämpfung. Alicia, Anibal und ich stellten bald fest, dass wir uns sehr gut verstehen. Deshalb luden sie mich ein, Silvester mit ihnen und Freunden auf ihrer Finca südlich von Medellin zu feiern. Nach einem wirklich verhunzten Silvester-Vormittag, wo geradezu alles schief lief (keine Telefonverbindung, Computerabsturz und E-Mail Text weg, kein Geld aus dem Automaten usw. usw.) und ich förmlich in die Luft hätte gehen können, war der Abend um so gelungener. In einer wunderschönen Berglandschaft, hoch über dem Städtchen Amagá, erlebte ich den krönenden Abschluss des Jahres 2003. Sehr herzlich wurde ich gleich von Jimmys (72) Großfamilie aufgenommen und mit Aguardiente (Schnaps) wurde auf das neue Jahr angestoßen. Feuerwerkskörper, wie bei uns auch, wurden abgefeuert und außerdem ist es Brauch, "Muñecos" (menschengroße, männliche Stoffpuppen) vom alten Jahr abzubrennen und die "Witwen kreischen fürchterlich" in Form von eingenähten Knall- und Heulkörpern. Auch den Neujahrstag verbrachten wir dort alle gemeinsam bei schönstem Sommerwetter. Meine Abreise aus Medellin verschob ich um ein paar Tage. Alicia und Anibal wollten mich mit dem Auto aus der Stadt begleiten, damit mir auch ja nichts passiert, wenn ich durch die nach ihrer Meinung sehr gefährlichen Vororte komme. Allerdings mussten wir uns dann schon vorzeitig verabschieden, weil die Straße an diesem Sonntag für Radler und Fußgänger reserviert war. Somit hatte ich genug Schutz, nicht nur durch viele Radler, sondern auch durch starke Polizeipräsenz. Nach einer herzlichen Verabschiedung und "Suerte" (welch ein schönes Wort für Glück) für den Weg, ging ich die letzte Bergetappe meiner Reise an. Das letzte Mal noch in kalter, regnerischer Höhe auf 2.700 Metern in einem großen Bergdorf übernachten, jedoch mit der Aussicht, am nächsten Tag das warme Tiefland zu erreichen. Wie so oft auf meiner Reise, auch hier wieder ein stark "verhügeltes" Land, wo ein Hügel auf dem anderen sitzt, dann noch einer drauf und noch einer.... und entsprechend abwechslungsreich schlängelte sich auch die Straße um- und über dieses buckelige Gelände. Bevor ich endgültig in das Tiefland abfahren konnte, gab es noch mehrere längere Zwischen-Abfahrten, die ebenso wieder hochzufahren waren. Mehrmals begegnete ich kleinen Militärtrupps, die mit aufgebautem Maschinengewehr am Straßenrand in Stellung standen - oder gerade für einen Stellungswechsel unterwegs waren. Erstaunt hatte mich, dass in dieser nassen und kalten Höhe, unmittelbar an der Straße, viele primitivste Behausungen nur mit ein paar Stangen und schwarzem Plastik an die Böschungen gebaut waren. Kleine Kinder spielten auf der Straße oder bettelten Autofahrer an. Einige Autofahrer warfen auch tatsächlich Münzen hinaus, ohne jedoch anzuhalten. Als letzte Aufbäumung der Berge musste ich bei der Abfahrt in die Wolkendecke eintauchen. Der Nebel war gleich so dicht und der Sprühregen so stark, dass die Lkws und Autos vor einem steilen Abschnitt stehen blieben. Ich "tastete" mich vorsichtig hinunter und mir war fürchterlich kalt. In Erwartung auf wärmere Lagen war ich zu bequem, mir mehr anzuziehen. Nach 700 Höhenmetern kam ich unter der Wolkendecke wieder hervor und gleich wurde es wesentlich wärmer. Nun hatte ich immer noch eine weite, angenehme und nicht so steile Abfahrt vor mir, bis ich wieder an den Rio Cauca auf nur 240 Meter Seehöhe kam, an dessen Ufer ich noch 40 Kilometer entlang radeln konnte. An diesem Tag hatte ich zwei Rekorde gebrochen, nämlich: 3.520 Höhenmeter Abfahrt und 152 Kilometer Tagesstrecke. Zuvor aber noch 1.155 Höhenmeter Bergfahrt. Außerdem hatte ich nun auch (fast) endgültig das Gebirge hinter mir, welches mich mehr als 13.000 Kilometer begleitet hatte. Nur bei Caracas musste ich später noch einmal auf über 1.100 Meter, den östlichsten Andenausläufer, hinauf. Sechzig Kilometer begleitete ich den schon sehr breiten Fluss auch am nächsten Tag noch, und die Temperaturen stiegen ab jetzt auf über 35 Grad. Doch damit konnte ich gut umgehen, wobei der Fahrtwind auch immer etwas Kühlung brachte, wenn es nicht gerade eine Steigungsstrecke zu bewältigen gab. Getränke habe ich literweise in mich hinein geschüttet. Nach langer Zeit begegnete mir wieder einmal ein Tourist – auch einer mit dem Fahrrad! Es war ein Japaner, der in den USA studierte und nach Feuerland unterwegs war. Wie ich später über E-Mail erfuhr, wurde er zwischen Pasto und Cali von fünf Guerillas angehalten und musste, mit dem Gewehrlauf am Kopf, seine komplette Ausrüstung "herausgeben", incl. Fahrrad und Geld. Mir rieten meine neuen Freunde aus Medellin dringend ab, von Planeta Rica die Hauptroute nach Cartagena zu nehmen, weil dies Guerillagebiet sei. (Der Japaner hatte diese Strecke unbeschadet befahren.) Ich sollte besser die weiter westlich verlaufende Strecke nehmen, die bereits in Coveñas an die Karibik führt. Nach meinem Reiseslogan "Von Feuerland zur Karibik", erreichte ich damit mein primäres Ziel früher als erwartet. Es war ein wunderbares Gefühl, den Kontinent von Süd nach Nord fast durchfahren zu haben. Ich konnte es kaum fassen! Noch stundenlang habe ich mit bepacktem Rad unter Palmen am Strand gesessen und sog dieses großartige Erlebnis in mich hinein. Von meinem Endziel, Caracas in Venezuela, war ich allerdings noch gut 1.500 Kilometer entfernt. Mein Nahziel aber war erst einmal Cartagena und bis dorthin waren es nur 170 Kilometer. Ich war gut in Form, und ich hätte diese spielend an einem Tag schaffen können. Leider verhinderten Reifenpanne und starkes Gewitter dieses. Wegen einbrechender Dunkelheit musste ich mir 30 Kilometer vor der Stadt ein Quartier suchen und kam in einem kleinen Dorf bei Privatleuten unter.. So kam ich am frühen Sonntagvormittag in die Stadt und war gleich hellauf begeistert, besonders von der Altstadt. Außerdem war es für mich auch ein Wiedersehen, denn vor gut 30 Jahren bei der Seefahrt, betrat ich hier zum ersten Mal südamerikanischen Boden. Die Altstadt hat eine tolle Lage. Sie ist auf eine vorgelagerte Insel gebaut, die durch eine schmale Lagune vom Festland bzw. von der Neustadt getrennt, aber mit Brücken verbunden ist. Ringsherum ist sie noch mit einer gut erhaltenen, größtenteils auch begehbarer Stadtmauer umgeben. Eine schlanke Halbinsel in L-Form schließt sich an, zieht sich am Meer entlang und knickt dann ab in die Lagune zur Neustadt. Dies ist eine sehr gute Wohngegend, die allerdings mehr und mehr mit Apartment-Hochhäusern bebaut wird. Ein gewaltiges Fort thront auf einem Hügel zwischen Alt- und Neustadt. In der Altstadt machten wunderschöne Häuser aus der Kolonialzeit mit kunstvollen Holzbalkonen, schönen Kirchen und Plätzen einen Stadtbummel zum Erlebnis. Sehr nette Menschen – Einheimische als auch Touristen - sind mir begegnet. Zu den netten Menschen gehörte auch Andreas, ein Schweizer, der auf der Plaza zu klassischer Musik vom Band auf einer rumänischen Panflöte spielte. Er zog sehr viele Zuhörer an, die durch den Kauf seiner CDs seinen Lebensunterhalt finanzierten. Ich hatte seiner Musik schon einmal in La Paz (Bolivien) voller Begeisterung zugehört. In meiner Pension „Casa Viena“, (österreichischer Besitzer) traf ich viele Traveller. Da auch Deutsche, Schweizer und Österreicher dabei waren, war auch die Unterhaltung auf deutsch wieder möglich. Nach langem Alleinsein fand ich das sehr schön. Im Landesinneren sind mir nur vier Japaner begegnet. Ursprünglich wollte ich für die Weiterfahrt Richtung Santa Marta die Hauptstraße nehmen. Weil ich aber nochmals durch die Altstadt fahren wollte, um den Blick von der Uferstraße auf die Karibik zu genießen, radelte ich gleich am Ufer Richtung Norden weiter. Mehrmals erkundigte ich mich bei der Polizei, ob ich die Küstenstraße gefahrlos fahren könne. Es gäbe keine Probleme wurde mir versichert, und so blieb ich auf dieser Straße. Abends kam ich wieder in Zeitnot und war froh, als etwa 20 Kilometer vor Baranquilla ein Pickup neben mir hielt und der Fahrer mich fragte, ob ich mitfahren möchte. Sechs Plastikstühle (zum Sitzen) und 11 Personen hatte er bereits auf der kleinen Ladefläche. Nun musste noch für mich und für mein Fahrrad Platz geschaffen werden. Gleich nachdem er losfuhr, bereute ich es schon, das Angebot angenommen zu haben. Er machte einen Kavaliersstart dass ich fast mit meinem Plastikstuhl über die hintere Bordwand fiel und fegte um die Kurven, dass wir alle hin und her flogen. Dabei fiel mir ein, dass Sonntag ist und sich gewöhnlich an diesem Tag viele Menschen betrinken. Die Bestätigung kam auch bald, denn eine Schnapsflasche nahm ihren Weg von der Ladefläche durch das Führerhaus und auf der anderen Seite wieder zurück. Offenbar ging ihnen der Alkohol aus, denn über einen staubigen und holperigen Erdweg wurde eine Abkürzung in den nächsten Ort genommen, um Schnaps nachzukaufen. Den Fahrer löste man im Ort ab und er kam auf die Ladefläche, um zu schlafen. Er verpasste es aber nie, wenn die Schnapsflasche bei ihm vorbei kam, und nahm wieder einen Schluck. Es hinderte ihn auch nicht, in der 1.1 Millionenstadt Barranquilla selbst wieder den Wagen zu fahren. Die ganze Gruppe hat sich dann aber sehr bemüht, für mich eine günstige Pension zu finden. Der nächste Tag – es war der 19. Januar 2004 – war ein besonderer Tag. Ich feierte meinen 64. Geburtstag und das Ende meiner Reise wurde konkret. In Hamburg wurde mein Rückflug für den 24. Februar gebucht. Auch meine Tagesstrecke war sehr schön. Gleich am Morgen überquerte ich den enorm breiten Rio Magdalena (Kolumbiens größter Fluss), fuhr anschließend meist in Sichtweite der Karibik und schließlich auf den Ausläufern der "Sierra Nevada de Santa Marta". Dies ist ein mächtiger, isoliert stehender Gebirgsstock, dessen höchste Erhebung, der Pico de Cristóbal Colón, mit 5.775 m Kolumbiens höchster Gipfel ist. In nur etwa 50 km steigt er von der Küste aus auf. In der Sierra Nevada wurde übrigens im Oktober 2003 die 8-köpfige Gruppe (darunter auch Deutsche) von Guerillas entführt, die aber vor Weihnachten wieder frei kamen. Abends in Santa Marta wollte ich zu meinem Geburtstag gepflegt zum Essen gehen. Ich war spät dran, aber im empfohlenen Lokal waren immerhin noch ein paar Tische besetzt. Vorsichtshalber fragte ich, ob ich noch ein Essen bestellen könne. Der Inhaber (dem bestimmt selten ein Lächeln gelingen wird) bejahte dies griesgrämig und so nahm ich Platz und bestellte. Die übrigen Gäste verließen bald das Lokal, und nun stand die Serviererin dauernd hinter meinem Rücken und bedrängte mich insgeheim, mein Essen hinunter zu schlingen. Es war alles andere als gemütlich. Tags darauf fuhr ich in das acht Kilometer entfernte Fischerdorf Taganga und fand mit "Casa de Felipe" das richtige Quartier. Felipe, ein Franzose, hatte sich dort seinen Traum erfüllt und eine wunderschöne Herberge gebaut. Es war viel Platz, um sich im Freien aufzuhalten. Ich genoss es in der Hängematte zu baumeln, auf die Bucht und das Meer hinunter zu schauen und zu relaxen. Sehr schade war es, dass genau zu dieser Zeit der angrenzende Nationalpark Tayrona wegen Gelbfieber gesperrt wurde, denn ich hatte vor, dort einige Tage an einem der schönen Palmenstrände mit dem Zelt zu verbringen. So dehnte ich den Aufenthalt eben bei Felipe auf eine Woche aus. Die Weiterfahrt zur venezolanischen Grenze mit dem Fahrrad oder mit dem Bus, machte ich von den Informationen der Polizei über die Sicherheitslage der Strecke abhängig. Da es keine Probleme geben sollte, entschloss ich mich für das Fahrrad. Zwei Tage vor meiner geplanten Abreise bekam ich von Dai (dem Spanier) eine Mail. Er sei in Cartagena und er möchte mit mir nach Caracas radeln. Das war eine gute Nachricht und so wartete ich auf ihn. Nun radelten wir bereits das dritte Mal zusammen, und das war besonders in dieser unsicheren Gegend gut, obwohl man deshalb nicht vor Überfällen geschützt ist. Sehr schön war die Strecke, denn wir waren lange Zeit zwischen Karibik und der Sierra Nevada in tropischer Vegetation. Viele kleine Flüsse fanden ihren Weg durch die üppige Vegetation von der Sierra Nevada und mündeten bald in die Karibik. Häufig konnten wir durch einen schmalen Palmenwald schöne Strände sehen, doch wegen der Zäune waren sie für uns nicht erreichbar. Oft führte die Straße an der Steilküste entlang mit herrlichem Blick auf das Meer. Die Nacht verbrachten wir in einer originellen, mit Palmenstroh gedeckter Unterkunft. Da die Duschen kein Wasser hatten, badeten wir unten im kleinen Fluss – was auch ganz interessant war. Das Restaurant war nur ein großer befestigter Platz mit einem ausladenden Strohdach darüber. Das ist Karibik! Die Landschaft wechselte allmählich von der tropischen Vegetation in Dornensavanne über. Unser Tagesziel war die Stadt Riohacha mit einem schönen, breiten Palmenstrand. Nun stand die letzte Etappe in Kolumbien an, genauer gesagt, in die letzte kolumbianische Stadt Maicao, 15 Kilometer vor der Grenze. Fast die ganzen 90 Kilometer führte die Straße durch kaum besiedelte Dornensavanne und ist deshalb ideales Guerillagebiet. Weil Dai sich meist einen Vorsprung herausgeradelt hatte, musste ich ihn bitten, einen kürzeren Abstand zu halten, denn sonst würde er es gar nicht mitbekommen, wenn man mich hinten "einkassiert". Schon am frühen Nachmittag waren wir in Maicao. Diese Stadt war schmutzig und hässlich. In den meisten Straßen der Innenstadt waren vor den eigentlichen Geschäften noch hohe Verkaufsstände. Uralte amerikanische "Schrottautos" mit venezolanischem Kennzeichen beherrschten das Straßenbild. Ein Hotel war bald gefunden und in meinem Baño Privado (Dusche/WC) waren im Wasserkasten – anstatt Wasser – Unmengen von Kakerlaken. Aus dem einzigen Geld-Automaten musste ich mir zigtausende Pesos ziehen (ich war Millionär), um sie in einer Wechselstube gegen Dollars einzutauschen. Diese brauchte ich für Venezuela, denn dort gibt es zwei verschiedene Kurse, einen offiziellen, von der Regierung festgesetzten (1,00 US$ = 1.920 Bolivares) und einen inoffiziellen (1,00 US$ = 3.000 Bs.). Schon um 16 Uhr hatten so gut wie alle Geschäfte ihre schweren Rollläden und Eisengitter herunter gelassen. Wie ich später im Südamerika-Handbuch las, soll es in der Stadt ab 17 Uhr schon sehr gefährlich sein. Ein ungutes Gefühl hatte ich dann auch, als wir später bei Dunkelheit in den angrenzenden Straßen nach einem Restaurant suchten. Ich trug nur Latschen und hatte auch mein Pfefferspray nicht bei mir. Gegessen haben wir schließlich auf der Straße, wo zwischen Müll gekocht und gebrutzelt wurde und Tische aufgestellt waren. Nun hatte ich auch das sechste Land durchradelt. Obwohl das Land am gefährlichsten war (Räuber, Guerillas, Paramilitärs, Drogenmafia) erinnere ich mich sehr gern an Kolumbien. Es war grün, hatte viele Berge und viel Meer. Auch sehr nette Menschen habe ich getroffen. Aufgefallen ist mir, dass die Leute im Tiefland und zur Karibik hin wesentlich lockerer und aufgeschlossener sind als die im Bergland. Auch rhythmisch waren die Körper grazil in Bewegung, wenn nur Musik spielte. Allerdings waren meine Erwartungen zu hoch gesteckt, was die Freundlichkeit der Menschen anbetraf – zumindest vom Fahrrad aus. Die meisten taten sich sehr schwer – wenn überhaupt – meinen Gruß zu erwidern. Da machten auch die Radfahrergruppen mit Rennrädern keine Ausnahme. Die Leute vorbeifahrender Pickups oder Mopedfahrer mit ihrem Sozius glotzten förmlich durch mich hindurch, ohne eine Mine zu verziehen. Das war in Peru ganz anders. Dabei hatte ich von anderen Travellern immer das Gegenteil gehört. Dagegen befragten mich die Leute sehr interessiert, wenn ich mit dem Fahrrad irgendwo stand. Gezeltet habe ich in diesem Land aber nie, denn dabei hätte es leicht zum "Interessenkonflikt" kommen können, da ich genauso versteckte Plätze bevorzugte, wie sie die Guerillas auch brauchen. Bereits früh morgens waren wir an der Grenze und tauschten für den ersten Bedarf Dollars in Bolivares (die venezolanischen Währung) bei einem der vielen Geldwechslern. Die Grenzabfertigungen waren wieder zügig und problemlos. Nur Dai musste bei der venezolanischen Abfertigung seinen Packtascheninhalt vorzeigen. Nachdem zwei Taschen kontrolliert waren, wechselte der Beamte und diesen interessierte nicht mehr der Inhalt der weiteren Taschen, sondern nur noch das Woher und Wohin seiner Reise. Mehrmals an Kontrollstellen im Grenzbereich musste n u r Dai seinen Pass vorzeigen (er war mir halt meist voraus) und einmal wurden wir dabei aufgefordert, ein Hemd überzuziehen, da es sich nicht schickt, mit nacktem Oberkörper zu radeln. (Dieser Beamte musste wohl aus der tiefsten Provinz sein.) Mit dem Grenzwechsel kamen wir auch in eine andere Zeitzone und waren damit nur noch fünf Stunden hinter der MEZ. Damit war es abends eine Stunde länger hell, was ich sehr begrüßte. Maracaibo am gleichnamigen See erreichten wir am Abend. Der riesige See (180 km lang und bis zu 120 km breit) ist eine Lagune, d.h. er hat eine Verbindung zum Meer und Seeschiffe – meist Tanker – befahren ihn. Unter dem See gibt es die größten Erdölvorkommen des Kontinents, welches durch rund 5.000 Bohrtürme gefördert wird - ich aber sah keinen einzigen. Wir verließen Maracaibo in Richtung Caracas über die mit 8.679 Metern längste Spannbetonbrücke der Erde. Allerdings durften wir sie nicht mit dem Rad befahren, aber ein Soldat hielt für uns ein Auto an. Geplant hatten wir, die direkte Hauptstrecke nach Caracas zu nehmen, aber schon bald mussten wir feststellen, dass diese 4-spurige Straße für Radfahrer lebensgefährlich war. Obwohl Sonntag morgen und Lkw-Verbot an diesem Tag, war der Verkehr sehr stark. So nahmen wir die letzte Möglichkeit wahr und wechselten über eine schmale Verbindungsstraße zur Küstenstraße. Somit mussten wir eine Halbinsel umfahren, aber der Verkehr war dafür gering. Das Meer zeigte sich uns nur ganz selten und wegen der dünnen Besiedelung konnten (bzw. mussten) wir sogar wieder zelten, diesmal zwischen Kakteen und Dornensträuchern. Interessant war die Vegetation auf diesem relativ kleinen Landstrich. Während im Westen der Halbinsel die Kakteen- und Dornensavanne überwog, war im Norden Grasland und im Osten tropische Vegetation mit großen Palmenwäldern unmittelbar an der Küste im Süd-Osten. Fünf Tagen brauchten wir, um diese Halbinsel zu umfahren, und für die letzten 220 Kilometer nach Caracas hatten wir Autobahn. Gleich zu Beginn stellte sich uns ein kleiner, 550 Meter hoher Pass in den Weg. Mehrmals versuchte ich, mich an einen geeigneten LKW zu hängen. Alle Versuche scheiterten und den letzten hätte ich beinahe mit einem Sturz bezahlt. Nachdem wir die Hauptstrecke Maracaibo – Caracas wieder erreichten, wurde der Verkehr entsprechend stark und stand unserem Autobahnverkehr in nichts nach. Es gab aber einen breiten Seitenstreifen, - der allerdings auch viel von anderen Fahrzeugen benutzt wurde. Ein Polizist im Streifenwagen hielt mich einmal an und erklärte mir, dass es eigentlich verboten ist, auf der Autobahn mit dem Rad zu fahren und wie gefährlich es sei. Ich überzeugte ihn, dass es auf den normalen Straßen durch Gegenverkehr und Überholmanöver für Radfahrer wesentlich gefährlicher ist. Ich durfte auf der Autobahn bleiben. Später, bei einer Rast, stoppte wieder ein Streifenwagen und der Polizist erklärte nun Dai ähnliches. Er bot aber an, uns ein Stück zu eskortieren. So fuhr er gut 20 Kilometer mit rotem Polizeiblinklicht hinterher und hielt uns somit den Seitenstreifen frei und das, obwohl die Hälfte leichte Steigungsstrecke war und unsere Geschwindigkeit entsprechend reduzierte. Auf seinem Polizeistützpunkt wurde er abgelöst und ein anderer Polizeiwagen, mit nun vier Polizisten, begleitete uns die letzten acht Kilometer bis in die nächste Stadt, in der wir übernachteten. Das war eine sehr nette Geste! Nun waren wir nur noch eine knappe Tagesetappe von meinem Endziel entfernt. Es war ein eigenartiges Gefühl. Obwohl wir gut 1.100 Höhenmeter nach Caracas hinauffahren mussten (die Stadt liegt in einem Hochtal auf 950 Meter), waren die 93 Kilometer bereits bis zum frühen Nachmittag abgeradelt, und ich war praktisch am Endpunkt meiner langen Reise angelangt. Wie oft hatte ich den Namen Caracas unterwegs genannt, wenn ich den Leuten erklärte, wo ich gestartet bin und was mein Ziel ist. Genauso wie Maracaibo, hatte auch Caracas seit je her eine große Faszination auf mich. Jetzt allerdings eilte ihr der schlechte Ruf voraus, die zweitgefährlichste Stadt Südamerikas (nach Sao Paolo / Brasilien) zu sein. Mehr als einmal wurde mir geraten, diese Stadt weiträumig zu umfahren, um zum Flughafen zu kommen – ich aber wollte meinen Zielort auch sehen. So, als müsste sie ihre Gefährlichkeit unter Beweis stellen, bin ich zusammen mit Dai überfallen worden. Es war fast wie inszeniert! Wir bummelten abends gegen acht Uhr gemeinsam auf einer sehr belebten Einkaufsstrasse. Dai erzählte mir, dass ihm ein Mann gesagt hätte, diese Strasse sei der gefährlichste Boulevard von ganz Venezuela. Ich konnte noch gar nicht darauf antworten, als ich von ihm auch schon hörte "pass auf" und ich aus den Augenwinkeln zwei Köpfe dicht an meinem Kopf sah. Sekunden später wurden wir von fünf bis sechs Männern von hinten in den Würgegriff genommen, in eine stille Seitenstrasse gezerrt und dort auf den Boden gedrückt. Während ich so zappelte, sah ich überall Hände an meinem Körper und mir gingen Bilder durch den Kopf, die ich mir von Erzählungen brutaler Überfälle gemacht hatte. Doch ich glaube, weil ich durch meine heftige Gegenwehr und vor allem mein lautes Brüllen (soviel ich noch an Luft hatte) die Aufmerksamkeit der Passanten erweckte, ließen sie plötzlich los und rannten weg. Ich aber dachte, die waren so geschickt und hätten bereits alles, was sie suchten. Nach dem ersten Abtasten merkte ich aber, dass mir nichts fehlte. Auch Dai fehlte nichts, aber er meinte, kurzfristig ohnmächtig gewesen zu sein, denn er hatte nur in Erinnerung, dass er in den Würgegriff genommen wurde. Umgerechnet gut 400,- US$, Reisepass und Kreditkarte, auf drei Stellen verteilt, hatte ich bei mir. Ich hatte wieder Glück, dass sie keine Profis und unbewaffnet waren. Wie schon oben erwähnt, hatte ich deshalb soviel Bargeld bei mir, weil man in Venezuela durch den inoffiziellen Umtauschkurs um etwa ein Drittel günstiger lebt. Deshalb brachte ich mir Dollars aus Kolumbien mit. Wertsachen in einem billigen Hotel zu lassen wäre noch unsicherer. Es war nachher immer ein Genuss, dassi c hdas Geld ausgeben konnte und nicht die verhinderten Räuber. Für Dai war es die erste unangenehme Überraschung dieser Art, obwohl er schon mehrere, jahrelange Reisen mit und ohne Fahrrad hinter sich hatte. Am nächsten Tag konnten wir fast von gleicher Stelle aus beobachten, wie zwei Männer auf der gegenüber liegenden Seitenstraße ein Auto mit Fußtritten traktierten. Sie versuchten, die Scheiben einzutreten, um an den Fahrer zu kommen. Es sah aus wie eine Entführung. Ohne Erfolg verschwanden sie bald darauf in der Menge. Ich muss gestehen, meine Knie waren hinterher ganz weich. Wie zum Teil auch schon in anderen venezolanischen Städten, zeigte es sich in der Hauptstadt am deutlichsten, wie viele Menschen der amerikanischen Lebensart mit Fast Food, Coca Cola usw. zugetan sind. Die unförmigsten Dicken auf meiner ganzen Reise habe ich dort gesehen. Caracas war zwar mein Endziel, doch der Flughafen liegt unten direkt am Meer und so verließen wir nach drei Tagen die Stadt, um mit dem Rad auf der Autopista (ca. 25 km) an die Küste hinunter zu fahren. Zum dritten Mal verabschiedeten Dai und ich uns voneinander, denn er wollte die Nacht am Flughafen verbringen, von wo er schon früh morgens nach Panama flog. Ich radelte noch etwa zehn Kilometer die stark besiedelte Küste in Richtung Osten entlang und fand ein Quartier in der Kleinstadt Macuto. Ich hatte ja noch fast zwei Wochen Zeit bis zu meinem Heimflug. Um die 15.000 Kilometer noch voll zu bekommen (35 km fehlten noch) machte ich tags darauf meine allerletzte Tour mit dem Rad und fuhr die Küstenstraße weiter gen Osten – aber ohne Packtaschen. Dieser Küstenabschnitt war weniger besiedelt und wunderschön. An der einen Seite die blaue Karibik und auf der anderen Seite die steil aufragenden Berge auf über 2.500 Meter. Wie in Macuto, so zogen sich auch in den anderen Orten die alten Ortsteile an den steilen Hängen hoch, während zum Meer hin Apartment-Hochhäuser das Bild beherrschten. Gleich in der Nähe von meinem Hotel war eine ganz annehmbare Uferpromenade mit vielen Lokalen. Zwei kleine Badebuchten gab es und an den Wochenenden war dort der Teufel los, denn dann kamen die Leute von Caracas herunter. Dort sah man dann die vielen "Fast-Food-Freaks" auch in Badekleidung und bei so manch einer verschwand der knappe Bikini unter den Fettmassen. Meine Radreise war nun endgültig zu Ende und das Rad musste für den Heimflug verpackt werden. Dies war nicht so ganz einfach, denn einen Fahrradkarton konnte ich nicht auftreiben und so musste ich mich mit unterschiedlichen Kartons aus dem Supermarkt behelfen. Diese wurden zurecht geschnitten und ‑geknickt und dem Rad von unten und von oben übergestülpt. Mit sehr viel Klebestreifen wurde dem Ganzen etwas Stabilität verliehen. Das verpackte Rad und mein übriges Gepäck konnte ich im Hotel deponieren, während ich nur mit kleiner Packtasche für fünf Tage mit einer kleinen Propellermaschine auf die Inselgruppe Los Roques flog. Bevor wir die Haupt- und einzige bewohnte Insel erreichten, überflogen wir einen großen, ovalen Inselring mit vielen kleinen Inselchen unter Wasser innerhalb des Ringes. Schwierig gestaltete sich die Hotelsuche, denn entweder waren sie ausgebucht oder sie waren mir mit 50,- bis 80,- US$ incl. Halbpension zu teuer. Mit Glück bekam ich dann für die ersten drei Tage eine Pension, weil mich eine nette junge Frau, die auch noch sehr gut deutsch sprach (österreichische Mutter), zu Bekannten von ihr mitnahm. Ich war überrascht, nun für 17 $ ein preisgünstiges und sehr schönes Quartier mit Halbpension zu bekommen. Ganze acht Schritte waren es von meiner Zimmertür zum Strand, der allerdings nicht zum Baden geeignet war, weil dort die Boote fest machten. Zum Baden musste man mit dem Boot auf eine der Nachbarinseln fahren. Beim Abendessen wurde ich an den Tisch eines sehr netten, jungen italienischen Paares gesetzt. Wir verstanden uns gleich sehr gut und waren während meines Aufenthaltes viel zusammen. Auch die Suche nach einem Anschlussquartier war schwierig, und ich merkte, wie schön es ist, unabhängig von Pensionen zu sein. Doch mein Zelt war auf dem Festland. Es klappte dann aber doch noch, allerdings zum selben Preis eine "Dunkelkammer" (Zimmer ohne Fenster) sowie ohne Dusche und WC. Dafür war aber das Essen geschmackvoller. Auch hier hatte ich am Tisch wieder italienische Gesellschaft, diesmal drei Napolitaner und am Nebentisch eine große Gruppe aus Bologna. Überhaupt machten sehr viele Italiener Urlaub auf dieser Insel. Auch viele Landsleute von ihnen sollen in dem relativ kleinen Ort wohnen. Ihre Gesellschaft war sehr angenehm. Das, was ich aber suchte, fand ich auf diesen (Karibik) Inseln nicht, nämlich die palmenumsäumten Buchten mit weißem Sand usw.. Wunderbarer weißer Sand sowie türkisgrünes bis tiefblaues, klares Wasser gab es, aber ansonsten fühlte ich mich fast wie auf einer Nordseeinsel, was das Aussehen und die Vegetation anbelangte. Sehr interessant war, wie sich die vielen Pelikane ihren Nahrungsbedarf verschafften. Sie flogen auf, um dann im Sturzflug in das Wasser zu schießen, wobei ihr langer Schnabel im letzten Moment wie ein Pfeil nach vorne schoss. Mit ihren angewinkelten Flügeln sah es so aus, als ob kleine Düsenjäger ins Meer stürzten. Befestigte Straßen gab es im Ort keine, aber er war sehr sauber und die Häuser sowie Türen und Fensterrahmen waren alle bunt gestrichen, was sehr fröhlich wirkte. Am späten Freitag nachmittag flog ich wieder zurück, und ich wäre auch schon gern weiter nach Hause geflogen, doch ich musste noch vier Tage warten. Wegen Karneval gab es ein besonders langes Wochenende (einschließlich Dienstag) und viele Geschäfte hatten geschlossen. Der Ort war übervoll mit Kurzurlaubern und für mein gleiches Quartier musste ich ein Drittel Hochsaisonzuschlag bezahlen. Die letzten Tage wollte ich noch nutzen, um im einzigen Internet-Café diesen Bericht zu schreiben, doch auch dieses machte Karnevalsurlaub. Zum Glück, denn nun konnte ich wenigstens "mit reinem Gewissen" noch die letzten Sommertage genießen und brauchte nicht in dem künstlichen Eisschrank (Klimaanlage) zu sitzen. Am Montag fuhr ich nochmals mit dem Bus nach Caracas hinauf (für 34 km nur 0,36 €). Interessant ist für mich immer, wenn es in einer Stadt eine Metro gibt, mit dieser auch zu fahren. Auch hier (wie in Medellin) war alles sehr sauber. Aus unserer Sicht, konnte ich bei den Preisen schon neidisch werden. Bis zu acht Stationen kostete es lediglich 0,08 €. Noch neidischer aber wurde ich bei den Benzinpreisen. Für eine 60 Liter Tankfüllung sind gerade mal 1,20 € zu bezahlen!! Spaghetti Bolognese kosten in einem einfachen Lokal das gleiche und ein Liter Milch im Supermarkt kostet ca. 0,35 €. Leider hatten auch in Caracas mindestens die Hälfte der Geschäfte geschlossen, und ich konnte meine Einkäufe nicht erledigen. Den Karneval selbst merkte ich eigentlich nur, weil viele Kinder mit hübschen Kostümen verkleidet waren. Von den Erwachsenen hatten nur einige Masken auf und das waren in der Regel sehr hässliche. In den Straßen hielt ich meine Augen besonders weit offen und suchte mir immer Bereiche, wo gerade weniger Menschen gingen. Am letzten Tag fuhr ich noch in die Nähe des Flughafens, um dort Wohnhochhäuser zu fotografieren, wo so gut wie alle Fenster und Balkons bis obenhin vergittert waren. Es sah schlimm aus. Auch in den Slums von Caracas sind mir solche Wohnsilos schon aufgefallen. Aber ein paar hundert Meter weiter hatte ich ein wunderbares Panorama über den Flughafen, der auf einer kleinen Halbinsel in das Meer hinausgebaut ist. Hier saß ich lange und habe mich innerlich von der Karibik und von Südamerika verabschiedet. Meine Gefühle waren zwiespältig, einerseits freute ich mich auf das Nachhausekommen und andererseits fiel es mir sehr schwer, Südamerika zu verlassen. Meine Freude für die Zukunft aber war, wieder von Hamburg nach Österreich mit dem Rad ohne Anspannung zu fahren. Bei den vielen Warnungen, die ich ab Peru immer wieder mit auf den Weg bekam, musste ich doch stets mit unliebsamen Begegnungen rechnen. Frühzeitig am Abend war ich schon am Flughafen und das war auch gut so. Denn sehr lange Zeit musste ich mich mit einer Angestellten der British Airways auseinander setzen, weil diese mein Fahrrad als Übergepäck berechnen wollte. Mit Karton und Werkzeug, das ich auch darin untergebracht hatte, waren es immerhin etwa 23 Kilo, und pro Kilo hätte ich 20,- US$ bezahlen sollen! Nach vielen Telefongesprächen mit ihren Vorgesetzten bezahlte ich schließlich 50 –, wie beim Hinflug. Später hatte man mir im Hamburger Reisebüro die Statuten von der British Airways vorgelesen, in denen der Radtransport ausdrücklich mit 50 – angegeben ist. Kurz vor Mitternacht verließ ich Südamerika und nach mehrstündigem Aufenthalt in London, landete ich am 25. Februar 2004 – eineinviertel Jahre nach meinem Abflug – am Abend wieder in Hamburg. Meine Familie und Freunde bereiteten mir einen herzlichen Empfang mit Blumen, Luftballons, Rasseln und einem großen Schild mit meinem Reiseslogan "Von Feuerland zur Karibik". Dazu große Bildabzüge von meiner Reise. Das war eine gelungene Überraschung! Oft hatte ich mich unterwegs schon auf diesen Augenblick gefreut. Ich glaube bestimmt für die meisten sprechen zu können, die das Fernweh zu einer solchen Art des Reisens in die Ferne zieht, dass ihre Gedanken viel in der Heimat sind und sich auf den Augenblick des Nachhausekommens freuen. Fast alle Freunde nahmen sich noch am späten Abend die Zeit und kamen mit zu mir nach Hause. Nun wurde also mein jahrzehntelanger Traum (seit 1960) Wirklichkeit und ich werde künftig von meinem Traum träumen können, zum Beispiel von...
Dieses sowie vieles, vieles mehr gesehen und erlebt zu haben, war für mich nicht selbstverständlich und ich bin dankbar dafür, dass es mir überhaupt möglich war, diese Reise zu machen. Auch dass ich keine Unfälle oder Krankheiten unterwegs hatte, vor ernsthaften Überfällen verschont blieb, und dass mich die Kräfte nicht verließen. Wenn es manchmal auch noch so hart war, ans Aufgeben hatte ich zu keinem Augenblick gedacht, sondern jede Minute dieser Reise genossen. Zwei passende Verse las ich auf einem Kalender des Kinderhilfswerkes CCF, bei dem wir vor Jahren eine Patenschaft für ein Mädchen aus Bolivien übernommen haben.
Hans Windisch |