Von Feuerland zur Karibik8. Reisebericht: Lima (Peru) – Quito (Ecuador)Eine Woche hatte ich nun doch in Lima verbracht, mehr als ich ursprünglich vor hatte. Nun aber ging es wieder hinein in den wilden Verkehr, wobei mir nicht ganz wohl zumute war. Die 6-spurige Stadt-Autobahn hatte meist keinen Seitenstreifen und so musste ich als ungeliebter Radfahrer mir den Platz von den Autofahrern erstreiten. Endlich, nach über 30 Kilometern, hatte ich die Stadt hinter mir und konnte wieder frei atmen. Wenige Kilometer weiter irritierte mich eine groß angelegte Kreuzung. Während die Autobahn weiter geradeaus verlief, fuhren fast alle Autos den Abzweiger ab von ihr. Eine von mir befragte Streifenwagenbesatzung sagte, dass ich jedoch die Autobahn fahren könnte. Als ich bald darauf die ganzen Autos fast parallel zur Autobahn fahren sah, fuhr ich auch dorthin, denn es musste ja einen Grund haben. Nun stand der Streifenwagen dort und die Polizisten rieten mir ab, diese Strecke zu fahren, da sie sehr schmal sei, an der Steilküste entlang führt und der ganze Schwerverkehr dort fährt. Ich fuhr also wieder zurück auf die Autobahn und fragte zwei Läufer, was denn nun günstiger sei. Diese meinten, dass die Autobahnstrecke viel weiter sei und so wollte ich wieder zur anderen Straße. Wieder kamen gerade die Polizisten an und rieten mir eindringlich, die Autobahn zu nehmen. Nun, so ganz wollte ich ihren Rat nicht ignorieren und war bereit, für eine fast leere Autobahn auch einen Umweg zu machen. Erst viel später musste ich feststellen, dass ich nicht nur eine längere Strecke, sondern auch ca. 500 Höhenmeter mehr zu fahren hatte. Darüber war ich doch ganz schön wütend. Die Straße an der Steilküste wäre sicherlich viel schöner gewesen. Allerdings sah ich so einen vielleicht 700 Meter hohen kleinen Bergzug, komplett begrünt und über und über mit gelben und blauen Blümchen bedeckt. Das ist in dieser Wüstengegend sehr ungewöhnlich, es muss dort wohl eine besondere Luftströmung geben, die für die Pflanzen genügend Feuchtigkeit abgibt. Von einem kleinen Aussichtsturm ließ sich das ganze Gelände überblicken. Zum Meer hinunter lag die Wüste mit wunderschönen Sanddünen und oberhalb sah ich das satte Grün, welches dann in Richtung Norden abrupt abgeschnitten war. Nur einige verlängerte "Zungen", fast wie mit dem Lineal gezogen, ragten noch in den Wüstensand, da Nebelwolken – und dadurch die nötige Feuchtigkeit – wie durch eine Sogwirkung zwischen ein paar Meter hohen Sandhügelchen hindurch gepresst wurden. In den nächsten beiden Tagen hatte ich morgens richtig starken Nieselregen. So ganz wohl fühlte ich mich nicht bei dem Gedanken an die Autofahrer, die auf diesen glitschigen Straßen mit ihren meist abgefahrenen Reifen dahinheizen. Zum Glück war der Regen nicht von langer Dauer. Dann kam die Abzweigung, an der ich die Pan Americana verließ, um wieder in die Berge ins 200 km entfernte Huaraz – auf 3100 m Höhe – zu fahren. Lange Zeit fuhr ich zwischen großen Zuckerrohrfeldern hindurch, welche in allen Wachstumsstadien zu sehen waren. Von neu bepflanzten bis erntereifen Feldern nebeneinander. Ist schon toll, was das Klima ermöglicht. Natürlich alles von den Gebirgsbächen bewässert. Bis zum letzten Tag hatte ich mir die Entscheidung aufgehoben, ob ich mir die Fahrt ins Gebirge wirklich antue oder doch lieber die Küstenstraße weiter fahren sollte. Ein französischer Motorradfahrer, den ich im Hotel in Lima traf, bestärkte mich in der Entscheidung für die Gebirgsstrecke nach Huaraz auf 3.100 Meter. Doch hätte ich mir die Karte vorher genauer angesehen, wäre die Entscheidung bestimmt gegen die Bergstrecke gefallen. Ein deutsches Motorradfahrerpaar, das ich unterwegs traf, klärte mich auf, dass ich erst über den Pass Fortaleza mit 4.100 Meter muss, um dann 80 Kilometer nach Huaraz hinunter zu fahren. Oh, das war ja ein kleiner Schock! Da ich nun aber schon 45 Kilometer im Tal drinnen war (nur ganz geringe Steigung), wollte ich auch nicht mehr zurück und war wieder gespannt wie es ist, von Null auf 4.100 Meter zu fahren. (Auf dem 4.776 Meter-Pass Agua Negra von Chile nach Argentinien hatte ich das unter schlechteren Bedingungen schon einmal.) Den ersten Tag beendete ich auf 760 Meter und am zweiten Tag war reine Bergfahrt mit 1.860 Höhenmeter angesagt. Am dritten Tag waren es dann noch gut 1.500 Höhenmeter bis zum Pass und mit den Gegensteigungen bei der Abfahrt kam ich auch wieder auf über 1.800 Meter. Ich war über mich selbst erstaunt, denn ich hatte keinerlei Probleme und hätte an beiden Tagen noch gern weitere Kilometer zurück gelegt. Doch die beiden Orte, wo ich Quartier bekommen konnte, zwangen mich zum Aufhören. Die Straße war aber sehr gut ausgebaut und die Steigungen nur zwischen 5 und 9 %, wobei es meist im unteren Bereich blieb. Huaraz, eine Stadt mit 80.000 Einwohnern (Hauptort des Tales), liegt im Zentrum der – Callejon (Gasse) de Huaylas – bzw. im Tal des Rio Santa. Sie ist eingebettet in das relativ schmale Tal zwischen der Cordillera Blanca und der Cordillera Negra, mit vielen Eukalyptusbäumen, dessen angenehmer Duft das ganze Tal durchzog. Die Cordillera Blanca ist schnee- und eisbedeckt, die Cordillera Negra ein paar tausend Meter niedriger und schneefrei. Die Cordillera Blanca ist wirklich atemberaubend! So viele spitze, mit Gletschern bedeckte 6.000er, die sich wunderbar von dem blauen Himmel abhoben. Viele dieser imposanten weißen Gipfel sah ich direkt von Huaraz aus, auch den mächtigen Huascarán, mit 6.768 Metern Perus höchster Berg. Von Huaraz aus machte ich eine organisierte Tour zur Laguna Llanganuco, unterhalb des Huascarán, mit. Dabei kamen wir auch durch den Ort Yungay, auf 2.600 Meter gelegen. Yungay hatte am 31. Mai 1970 eine große Tragödie erlebt. Durch ein Erdbeben wurden vom Huascarán große Teile des Gletschers abgesprengt. Diese Eismassen rissen Felsen, Erde und kleine Seen mit sich und begruben die Stadt mit ihren 20.000 Einwohnern völlig unter sich. Die Stadt ist inzwischen einen Kilometer nördlich wieder aufgebaut worden. Auf der Strecke zum See konnte ich noch die riesigen Felsbrocken in den Feldern oberhalb der damaligen Stadt liegen sehen. Auf der Rückfahrt hielten wir an der Stelle, an der die Stadt einmal war, und die Reisebegleiterin erklärte den Hergang. Fassungslos stand ich auf der ehemaligen Plaza, wo noch ein paar dicke Mauerreste von der Kathedrale lagen. Auch hier, so weit unten, noch riesige Felsbrocken. Ein paar Palmen haben das Inferno überstanden und drei tote Palmenstümpfe ragen wie Mahnmale in den Himmel. Rechts und links der ehemaligen Hauptstraße sind große Rosenbeete angelegt worden, doch das übrige Gelände liegt verwüstet da. Nur einige Felsbrocken und viele Kreuze unterbrechen das tote Land. Daneben auf einem kleinen Berg eine große, weiße Christusstatue über den kreisförmig angeordneten Gräbermauern. Ich hatte schon ein bedrückendes Gefühl, als ich mir das alles im Geiste vorstellte. Was muss es für ein Getöse gewesen sein, als diese gewaltige Eis- Schlamm- und Steinlawine, die den Menschen absolut keine Chance gab, zu Tal rauschte. Immerhin hatte sie ihren Ausgang zwischen 5.000 und über 6.000 Meter Höhe genommen und mindestens 15 Kilometer zurück gelegt. Und welch ein Gefühl muss es für diejenigen gewesen sein, an denen die Lawine knapp vorbei ging? Das Gebiet war (und ist wieder) auch oberhalb der Stadt besiedelt, da das Land sehr fruchtbar ist. Das Ortsschild unmittelbar an dieser Stätte hat neben den Ortsnamen auch noch einen Zusatz: "YUNGAY - CIUDAD SEPULDADA" (Yungay – die begrabene Stadt) Die ganze Region inklusive Huaraz war schwer zerstört und es gab auch hier viele viele Tote. Auch die Eltern meiner Pensionswirtin sind dabei umgekommen. Das Zentrum von Huaraz ist völlig neu aufgebaut, nur die Kathedrale ist noch nicht fertig gestellt. Von Huaraz fuhr ich dann weiter talabwärts und durch den spektakulären "Cañon de Pato" (Enten-Schlucht). Nach ca. 100 Kilometer war Schluss mit Asphalt, und Schotterpiste hatte ich ab nun unter den Reifen. Bevor ich in das Dorf Huallanca – tief unten, am Zusammenschluss von vier Tälern, sowie steil und hoch aufragenden Bergen gelegen – kam, durchfuhr ich die Schlucht mit 36 zum Teil längeren und finsteren Tunneln und tiefen Abgründen. Auf einem etwa 500 Meter langen Abschnitt ist bis auf mindestens 100 Höhenmeter hinauf der steile Hang "abgeschabt" worden, um unten neben dem kleinen Fluss Platz für die schmale Straße zu bekommen. Nachdem der Berg durch das Abtragen der festeren Oberschicht so verwundet wurde, ist der ganze Bereich in Bewegung und die haltlosen Erd- und Geröllmassen liegen unten auf der Straße. Einige Male war das Geröll nur notdürftig über den Straßenrand in den Fluss gekippt worden und der Rest meterhoch auf der Straße verteilt. Die "Enten-Schlucht", wo sich der Rio Santa tief eingegraben hatte, war nur etwa zwei bis drei Meter breit, doch leider hatte man gerade kurz vor dieser Stelle das Wasser abgeleitet und durch einen Tunnel zu dem Kraftwerk unten im Dorf geführt. Am zweiten Tag fuhr ich weiterhin durch eine wunderschöne Gegend mit vielen engen Schluchten und Tunneln. Ich musste fest strampeln, denn der Vorteil des leichten Gefälles wurde durch die schlechte Straße und vor allem durch den starken Wind, der das Tal wie durch einen Kamin hinauffegte, wieder aufgehoben. Grosse Felsbrocken, wie mit der Säge von den überhängenden Felsen herausgeschnitten, lagen laufend auf der Straße. Das war kein angenehmes Gefühl! Das Dorf Chuquicara, wo ich mittags schon sein wollte, erreichte ich erst am Abend kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Verschiedene Plätze hatte ich schon für ein Nachtlager geprüft, doch es war einfach nichts Geeignetes dabei, selbst wenn ich ohne Zelt und nur im Schlafsack geschlafen hätte. Dann um die nächste Biegung, das Dorf. Ich hätte mich geärgert, wenn ich am nächsten Morgen, nur einen Kilometer nach einem vielleicht schlechten Schlafplatz, das Dorf erreicht hätte! Morgens fuhr ich extra zeitig los, um die windarme Zeit zu nutzen. Doch schon nach zehn Kilometern hatte ich einen Platten und die Zeit lief mir davon. Dazu musste ich mich noch heftigst dieser kleinen Biester von Mücken erwehren, die meine Beine bereits arg mit kleinen Beulen versehen hatten. Sie waren aber auch so schnell, ich zerdrückte sie, kaum dass sie sich gesetzt hatten, und trotzdem hinterließen sie schon Blutspuren. Glücklicherweise wurde der Wind nicht so stark, denn das Tal weitete sich und somit fehlte die Sogwirkung. Das Tal wurde wieder grün und die Straße verlief zwischen großen Baumwollfeldern, die in Blüte standen. Über viele Kilometer schlängelte sich am Berghang ein neuer, großer Bewässerungskanal, der in das Nachbartal führte. Schon um halb fünf war ich in der Stadt Santa und somit wieder auf der Pan Americana. Ich hatte damit den Fluss Santa vom Ursprung auf dem Fortaleza Pass bis zur Mündung begleitet. Eigentlich wollte ich in Santa übernachten, ich fuhr aber doch noch weiter, um es am nächsten Tag nicht mehr so weit nach Trujillo zu haben. Nun bekam ich jedoch Schwierigkeiten, einen Schlafplatz zu finden. Neben einem Straßen-Restaurant – es war das letzte Haus für eine längere Strecke – konnte ich letztendlich doch noch mein Zelt aufstellen. Nun sollte es eigentlich die letzte Etappe nach Trujillo werden. Während ich unterwegs die Fahrradkette und Schaltung vom Sand und Staub der letzten Tage säubern und ölen musste, begegnete mir Raphael, ein Brasilianer mit dem Fahrrad, und es gab natürlich allerhand Informationen auszutauschen. Auch er, wie mehrere andere auch schon vor ihm, empfahl mir das "Casa de Ciclista" (Haus der Radfahrer) in Trujillo, welches ich ohnehin ansteuern wollte. Kaum hatte sich Raphael verabschiedet, als mir ein kanadischer Motorradfahrer entgegenkam, der mir Infos über Kolumbien geben konnte. Wieder war es schön, die Erfahrungen und Erlebnisse anderer zu hören. Anschließend schrieb ich Trujillo (noch 120 km) für diesen Tag ab. Unterwegs hatte ich noch kräftigen Wind, der zwar nicht immer störte, aber die Landschaft durch den aufgewirbelten Sand wie im Nebel aussehen ließ. Mehrmals kam ich durch Abschnitte, wo die Wüste rechts und links der Straße über Bewässerungsleitungen großflächig fruchtbar gemacht worden ist. Große Obstplantagen und Gemüsefelder wurden von vielen Landarbeitern von Hand bestellt, ein für uns Westeuropäer schon ungewohntes Bild. Vor allem der Spargel, wovon wohl der Samen exportiert wird, stand hoch im Kraut. Autos, die auf diese Anlagen fuhren, mussten durch ein Desinfektionsbad fahren. Die Sonne war schon hinter einem dichten Dunstschleier verschwunden, als ich noch immer auf einer längeren Steigung war und ich einen Ort, 10 Kilometer vor Trujillo herbeisehnte, wo ich übernachten wollte. Doch dann, wie schön, es kam eine wunderbare, lange Abfahrt und ich sah nicht nur die Lichter des Ortes, sondern fast ohne Übergang auch die von Trujillo. Dies katapultierte mich förmlich in die Stadt, so dass ich mich entschloss, gleich zu meinem anvisierten „Casa de Ciclista“ zu fahren, denn nun hatte ich außer meinem Fahrradlicht auch noch die Straßenbeleuchtung. In dem Haus angekommen, welches zum Glück auch noch nahe beim Zentrum lag, wurde ich gleich von der Familie mit den Worten "unser Haus ist auch dein Haus" willkommen geheißen. Luis, Aracelli und die 9-jährige Tochter Angela haben ein Herz für Radfahrer und hatten schon bis zu acht Radler zur gleichen Zeit beherbergt. Das Quartier war ganz einfach, zwei große Räume (und nur ein Bett) standen zur Verfügung, Dusche nur kalt und von ca. 19.00 bis 6.00 Uhr gab es kein Wasser. Die Schlafplätze gab es umsonst, aber bei den Einkäufen beteiligte man sich. Luis ist ein ehemaliger Radrennfahrer und hat viele Pokale in seiner kleinen Werkstatt stehen, die ein Teil vom großen Wohnzimmer ist. Er hilft auch bei Reparaturen und zeigt gern seine Stadt und Umgebung. Wie die Gästebucheintragungen zeigten, fühlten sich alle Radler wie zu Hause und einige bekannte Gesichter, denen ich unterwegs begegnet war, sah ich hier auf Fotos wieder. Aber auch ein spanisches Radlerpaar, Saivani und Dai, das ich in Sorata (Bolivien) bereits getroffen hatte, stand eines Tages hier vor der Tür. Zwei Gästebucheintragungen waren allerdings wenig ermutigend. In Ecuador wurde ein thailändisches Paar von fünf bewaffneten Männern mitsamt den Rädern völlig ausgeraubt. Ein Franzose hatte etwas mehr Glück, denn die Räuber ließen ihm das Fahrrad und einige andere Habseligkeiten. Mit den Rädern fuhren Luis und ich zu den Ausgrabungsstätten von Chan Chan, unmittelbar bei Trujillo. Hier wurde die Hauptstadt des Chimú-Reiches vom Wüstensand freigelegt, der sie über Jahrhunderte bedeckte. Nach Schätzungen dürften zur Blütezeit im 12. und 13. Jahrhundert etwa bis 100.000 Menschen dort gelebt haben. Erbaut wurden die zehn Stadtviertel, die jeweils von einer Tempelpyramide überragt wurden, aus ungebrannten Lehmziegeln, die in dieser trockenen, wüstenhaften Gegend durchaus Bestand hatten. Die hohen Lehmmauern dieser Palast- und Tempelstadt sind mit herrlichen Reliefs verziert, so z. B. mit Darstellungen des Seeotters oder einem im Zickzack verlaufenden Reliefband mit stilisierten Fischen, Enten und Pelikanen. Obwohl die Chimú als kriegerisches Volk bekannt waren, hatten sie den heranstürmenden Inka-Kämpfern auf Dauer nichts entgegen zu setzen und mussten sich ihnen nach zahllosen blutigen Schlachten unterwerfen. Die geschickten Goldschmiede wurden zum Palast des Inka in Cusco gebracht, wo man ihre Kunst sehr zu schätzen wusste. Trujillo hat 850.000 Einwohner und liegt nahe an der Küste, knapp 600 Kilometer nördlich von Lima. Fast das ganze Zentrum ist noch aus der Kolonialzeit und sieht recht beschaulich aus. Alles geht wesentlich ruhiger zu als in Lima, obgleich vor allem die Fahrer von den Taxen, die mit ihrer gelben Farbe das Straßenbild prägen, am Hupen auch ihre Freude haben. Viele Uralt-Amischlitten meist als Überlandtaxis unterwegs, gab es – wie in ganz Peru – auch hier. Bei so manchem waren statt Scheinwerfern und Bremslichtern nur noch die "Augenhöhlen" zu sehen, und bei anderen fehlte schon mal die Motorhaube oder Kofferraumklappe oder hatten keine Scheiben mehr. Ungefährlich schien aber auch diese Stadt nicht zu sein, nach den vielen Warnungen, die ich immer wieder mit auf den Weg bekam. In vielen kleineren Läden nahm man entweder gleich von draußen durch ein Gitter die Ware entgegen oder der Verkaufstresen war vom Kundenraum durch ein Gitter getrennt. Die größeren Geschäfte und Banken hatten sowieso ihre Polizisten oder privaten Sicherheitsdienste in ihren kugelsicheren Westen und mit Gewehr vor der Tür stehen. Auch Luis, mein Gastgeber hatte seine Tür stark gesichert und in verschiedenen Räumen Alarmanlagen. Ein befreundeter Zahnarzt von ihm, bei dem ich mehrere Tage in Behandlung war, hat sich in seinem Haus mit Praxis in einem besseren Viertel richtig eingebunkert. Eine etwa dreieinhalb Meter hohe Mauer umgibt das Haus, die oben mit einem elektrischen Zaun zusätzlich gesichert ist und Kameras überwachen die Bürgersteige von dem Eckgrundstück. Dazu sitzt tagsüber ein junger Mann vor der Tür, der über die Sprechanlage durchsagt, wer da hinein möchte. Zusätzlich hält er auf dem Grundstück auch noch große Hunde. Viele weitere Häuser sah ich mit elektrischen Zäunen und andere hatten wieder tolle Konstruktionen von Eisengittern mit Querspitzen usw. Dazu liefen auch noch in den Straßen private Wachleute mit Pfeifen und Knüppeln oder Ketten herum. Auch in der Straße meiner Herberge, die nicht zu den guten Vierteln zählte, lief nachts immer ein Wachmann auf und ab und pfiff laufend mit seiner Trillerpfeife. Was das sollte, verstand ich nicht so recht, denn so weiß jeder, wo er sich gerade aufhält. Auch was das Geld angeht, wurde in ganz Peru jeder Schein und jede Münze immer genau angeschaut (oft auch angerochen), weil sehr viel Falschgeld im Umlauf ist. Sogar 50 Centimo und 1-Sole Münzen (0,28 Euro) werden gefälscht, wovon mir ein paar als Souvenir blieben. Endlich wollte ich mir einen Friseurbesuch gönnen. Mehrere Friseurläden waren in der Straße und die ersten sahen alle recht gut aus, doch überall schnitten Friseurinnen die Haare. Weil ich damit in Hamburg genauso wie auch in Südamerika schlechte Erfahrungen gemacht hatte, sollte es ein Mann sein, der mir die Haare und den Bart schneidet. Der letzte Laden sah zwar etwas altertümlich aus, aber ein Mann bediente dort. Nachdem ich aus diesem Laden wieder rauskam, wusste ich, dass dies nicht nur der letzte Laden, sondern auch der allerletzte Friseur war. Richtig "zugerichtet" hatte er mich. "Sólo un poquito corto" (nur ein bisschen kürzen) sollten Haar und Bart werden, doch er rasselte mit seiner alten Elektromaschine darüber, als würde er nach der Menge der abgeschnittenen Haare bezahlt. So kurz und hinten so hoch rauf hatte ich die Haare wohl noch nie. Beim Bart wollte er besonders kreativ sein und hat mir außer einem stufigen Schnitt auch einfach eine neue Bartform verpasst, indem er unterhalb der Mundwinkel fast bis zur Kinn-Mitte alles frei rasierte und nur in der Mitte einen Steg bis zur Lippe stehen ließ. Dies dann aber auch noch sehr auffällig ungleich, dafür hatte er dann an den Wangen ebenso ungleich ausgeschnitten, aber entgegengesetzt. Außerdem hatte der Mann starken Mundgeruch und musste dabei auch noch dauernd pfeifen, um mir diesen in gezieltem Strahl ins Gesicht zu blasen. Da ich auf dem Stuhl fast lag, konnte ich nichts sehen und mein Entsetzen war groß, als ich wieder in die Vertikale kam und mich sah. Später jedoch musste ich darüber lachen, immerhin hatte ich noch eine neue Südamerika‑Erfahrung gemacht. Ein anderes Erlebnis war ein Kinobesuch mit meiner Gastgeberin und deren Tochter. Ein großer, langer Saal, die Sitzpolster fast ausnahmslos mit Klebestreifen geklebt und trotzdem voller Risse. Die Rückseiten der Sitze waren verschmiert und auf der breiten schrägen Mauer vor der Leinwand lag der Staub von Jahren. Die Leinwand selbst war aus hellen Stoffbahnen zusammengenäht, Risse dazwischen waren einfach zusammengezogen und mit weißer Farbe übergerollt worden. Einige Stellen blieben vergilbt, weil der Maler mit seiner Rolle nicht alle Ecken erreicht hatte. In der Mitte des Saales stand auf einem hohen Gestell ein kleiner Projektor, der die Bilder derart unscharf auf die Leinwand brachte, dass ich oft Mühe hatte, etwas zu erkennen. Es war ein amerikanischer, so eine Art Westernfilm im Originalton, der in den 40er oder 50er Jahren gedreht worden war. Ein Kinogenuss nach unseren Vorstellungen war es natürlich nicht, ich fand es trotzdem herrlich, da es mir wieder einmal zeigte, in welch anderer Welt ich mich befand. Amüsant war eine Einladung zum Mittagessen von Luis’ Freund Carlos und dessen Schwester Juli. Die Eltern der beiden hatten eine gut gehende Konditorei und Geld schien für sie kein Thema zu sein. Wie schon mehrmals in Lima, wurde ich auch hier wieder gefragt, ob ich schon "Cebiche" gegessen hätte. Ich musste wieder verneinen und nun wurde ich zusammen mit Luis in ein populäres Fischrestaurant zum Cebiche‑Essen geführt. Bis dahin wusste ich nur, dass es sich um Fisch handelte. Auf die Frage, ob ich reines Cebiche oder gemixt wolle, schloss ich mich den anderen an, die gemixt bestellten. Ich staunte nicht schlecht, was da alles auf dem Teller war. Von Muscheln über Krebse, Krabben, Fischfilet, Seetang und ich weiß nicht was noch alles – und dies alles roh mit einer scharfen Zitronensauce. Nach einer Paella vor fast dreißig Jahren, hatte ich Meeresfrüchte nicht mehr angerührt. Jetzt musste ich da aber durch und aß auch fast alles auf. Wir alle haben uns köstlich amüsiert, als ich ihnen erzählte, dass ich solche "Tierchen" überhaupt nicht mag. Es waren lustige Stunden. Nach zwei Wochen bei Luis und seiner Familie in Trujillo hatten wir uns richtig angefreundet, und entsprechend schwer fiel der Abschied. Mit Dai hatte ich für eine knappe Woche einen neuen Radlerpartner, seine Frau Saivani war schon einige Tage zuvor mit dem Bus nach Quito/Ecuador gefahren, um dort ihren Vater zu treffen. Dai hatte gut 25 kg weniger an Gepäck und fuhr natürlich schneller als ich. Er brauchte aber mehr Pausen und so glich es sich wieder aus, und wir kamen bestens miteinander zurecht. Luis begleitete uns mit seinem Rennrad noch etwa 50 Kilometer, unser Ziel war das 110 Kilometer entfernte Pacasmayo am Pazifik. Beim Abendessen in einer Gaststätte bettelte uns ein kleiner Junge an, während seine Schwester an der Tür wartete. Wir gaben ihm kein Geld, sondern gaben für beide ein Menü mit Getränken aus. Mit leuchtenden Augen löffelten sie die Suppe und machten sich über die riesige Portion Reis mit Hähnchen her. Die nächste Tagesetappe war Chiclayo, wir fuhren zwischen großen Reisfeldern hindurch und konnten auch die Reispflanzer bei ihrer Arbeit beobachten. Kurz vor dem Ziel wurde ich noch durch eine Reifenpanne aufgehalten. Anschließend kehrten wir im Casa de Ciclista von Javier ein (ein Freund von Luis). Doch anders als bei Luis konnte er uns keine Schlafplätze anbieten, sondern nur den staubigen Hof für die Zelte. Weil Javier aber andeutete, etwas anderes für uns zu haben, brachten wir lange Zeit mit Warten zu, bis wir zum Essen eingeladen wurden. Hier dann die große Überraschung für mich, denn ich bekam netten Besuch von Anja und Gili (Deutschland/Israel), die diesen bereits per Mail für Trujillo angekündigt hatten, aber dort erst ankamen, als ich schon weg war. Sie waren ebenfalls unterwegs nach Ecuador (mit Bus) und hatten die Adresse von Luis. Für die nächsten zwei Tage radelten wir durch Dornensavanne, schade, denn nach meiner Karte hätte es Wüste – die ich so gern mag – sein sollen. Die Straße verlief über lange Strecken schnurgerade und verlor sich in der Luftspiegelung. Ca. 150 Kilometer lang gab es kein Dorf, aber ab und zu ein "Restaurant". Am Abend, 134 Kilometer hatten wir auf dem Tacho, war Zelten angesagt. Ich fand es nach langer Zeit wieder richtig schön, im Zelt zu schlafen, angenehm dabei war, dass wir zu zweit waren. Es war keine Schwierigkeit, einen geeigneten Platz zu finden, da ja genügend Deckung im dornigem Buschwerk vorhanden war. Kochen brauchten wir nicht mehr, denn wir hatten zuvor schon in einem Restaurant an der Straße gegessen. Am nächsten Tag hatten wir nach 84 Kilometern schon mittags Piura erreicht, eine Stadt, die sehr gepflegt aussah, mit schönen Geschäften und Straßen in sehr gutem Zustand. Nun hatten wir nur noch 40 Kilometer gemeinsame Strecke vor uns, und die waren schnell abgeradelt. Noch vor Mittag erreichten wir die Stadt Sullana, wo sich unsere Wege wieder trennten. Noch ein gemeinsamer Besuch im Internetcafe, ein kleines Mittagessen sowie Unterhaltungen mit an unserer Reise sehr interessierten Leuten, dann kam schon der Abschied, und ich war wieder allein. Ein eigenartiges Gefühl war es schon, und ein bisschen Traurigkeit war auch dabei. Dai fuhr Richtung Nordosten nach Loja (Ecuador) und dann die Urwaldstraße nach Coca in Nord-Ost Ecuador. Ich blieb weiter auf der Pan Americana und fuhr erst mal Richtung Westen ins 87 Kilometer entfernte Talara. Sullana hatte ich über einen kleinen, steilen Abhang verlassen, und nachdem ich einen aufgestauten Fluss überquert hatte, fand ich auf der anderen Seite eine völlig andere Landschaft vor. Tropisch, mit vielen Bananen, hohen Kokosnuss-Palmen, Blütensträuchern und dazwischen viele kleine Häuschen. Später ging die Landschaft über in große Reisfelder, die immer wieder mit Kokospalmen aufgelockert waren. Schließlich wurde es wieder hügelig und die Landschaft trocken. Talara meinte es nicht so gut mit mir. Ich musste die Pan Americana verlassen, um in die sechs Kilometer entfernt liegende Stadt zu kommen. Leider hatte ich nun den Wind voll von vorne. Auch fand ich nicht gleich eine Unterkunft am Stadtrand und musste in das Zentrum hinunter fahren. Die Leute, die ich nach einer Unterkunft fragte, machten ratlose Gesichter, als gebe es so etwas in der Stadt überhaupt nicht. Als mir endlich eine genannt wurde, war diese belegt, und in der nächsten musste ich einen überhöhten Preis bezahlen. Zudem hat man mir meinen Liter Yoghurt vom Fensterbrett „genommen“, auf den ich mich für das Frühstück so gefreut hatte. Nach dem ersten Anstieg aus der Stadt heraus folgten noch viele weitere an diesem Tag, und ich fuhr durch sehr hügeliges Gelände mit vielen Ölpumpen, kreuz und quer verlegten Ölleitungen sowie Stromleitungen. An einer schönen Abfahrtsstrecke saß ich dann lange Zeit, verfolgte die weitere Straßenführung und genoss vor allem den herrlichen Blick auf den blauen Pazifik. In dem bald erreichten Badeort Máncora hatte ich vor, einen Tag auszuspannen und fand bald ein wunderschönes Quartier in der Hospedaje "el Pirata" bei Angela, einer Österreicherin, die mit José Luis, einem Peruaner, verheiratet ist. Die Gebäude waren aus Bambus gebaut und mit Palmenstroh gedeckt, der Hof mit feinem Sand aufgefüllt, Hängematten vor den Zimmertüren und mein Zimmer mit Dusche und WC. Statt Fensterscheiben nur Fliegendraht und über dem breiten Bett ein Moskitonetz. Das ist für mich der Süden (bzw. dort der Norden)! Zur Begrüßung gab es gleich ein kaltes Bier, und wenn ich Lust gehabt hätte, hätte ich ein Bad im großen, aufgeblasenen Gummibecken nehmen können. Das alles war so schön, dass ich drei Tage blieb. Und ich hätte sogar noch verlängert, wenn ich nicht gerade vorher zwei Wochen in Trujillo verbracht hätte. Der Ozean war nur etwa 150 Meter entfernt und auch das Wasser war schon angenehm warm, da der kalte Humboldstrom dort seine Wirkung bereits verloren hat. Als Gäste dominierten wieder die reiselustigen Schweizer. Neben drei Australiern, vier Kanadiern und einer Amerikanerin, waren gleich acht aus der Schweiz, allerdings keiner mit dem Fahrrad. Auch eine überdachte Küche im Freien war für die Gäste vorhanden, und so konnte ich mir nach langer Zeit wieder einmal Bratkartoffeln machen (Heimatgefühle?). Dazu ein kaltes Bier! Am Sonntagmorgen fuhren wir schon sehr früh zu fünft mit Angela und Luis zu einer warmen Quelle, um dort in der Morgenkühle im warmen Wasser zu sitzen. Angela hatte Kaffee, Tee und Brötchen dabei, und alles war sehr entspannend. Es handelte sich nicht um eine natürliche Quelle, sondern bei Probebohrungen für Öl kam, anstatt des erhofften "schwarzen Goldes", nur warmes Wasser. Am letzten Abend war es nochmals richtig nett, denn es waren Bekannte von Angela und Luis aus dem Dorf bei uns, und es wurde viel erzählt und bis nach Mitternacht Gitarre gespielt und gesungen. Nach drei wunderschönen Tagen – Hängematten finde ich besonders entspannend! – und einem ausgiebigen Frühstück, brach ich erst gegen zehn Uhr zu meiner letzten Etappe in Peru auf. Es war schön warm, und wie zum besonderen Abschied von der Küste und Peru führte die Straße auf gut 50 Kilometer meist unmittelbar am Pazifischen Ozean entlang, und ich ließ mir in der Mittagspause die Wellen um die Beine spülen. Dann führte die Straße landeinwärts und damit tschüss, mein großer Pazifik. In Tumbes übernachtete ich nochmals in Peru, und am nächsten Morgen ging es zur ecuadorianischen Grenze. Mit einer netten Geste überraschte mich ein Schuhmacher im Grenzdorf, bei dem ich meine Schuhe nähen ließ. Er wollte kein Geld, sondern wünschte mir "Suerte" (Glück), und die Reparatur sei zum Abschied von Peru. Nach der problemlosen Grenzabfertigung in Peru ging es in den Ort Huaquillas, wo auf einer Brücke die Grenze markiert ist. Grosse Schilder hießen auf der anderen Seite die Gäste in Ecuador willkommen. Damit hatte ich Peru und 3.371 gefahrene Kilometer im Land hinter mir. Nun war ich in Ecuador und kam gleich in ein fürchterliches Gewusel. Autos kamen hier so gut wie nicht durch und die Straßen waren voll von Marktständen und Menschen. Von allen Seiten wurde ich von Geldwechslern und anderen Leuten angesprochen. Ich musste in diesem Durcheinander höllisch auf meine ganzen Sachen aufpassen. Die ecuadorianische Grenzabfertigung war erst einige Kilometer außerhalb des großen Ortes, auch hier ging es schnell und problemlos, und ich hatte meinen Stempel für 90 Tage Aufenthalt im Pass. Nach einem Weiterreisenachweis – laut Konsulatauskunft in Hamburg hätte ich einen haben müssen – wurde ich nicht gefragt. Jetzt hatte ich das fünfte Land meiner Reise betreten, und merkwürdigerweise änderte sich die Landschaft ziemlich schnell. Erst war über eine längere Strecke hoher, trockener Buschbewuchs, dann kam langsam grünes und hügeliges Gelände mit hohen Palmen und anderen schönen Bäumen sowie den ersten Affenbrotbäumen mit ihren überproportionalen Stämmen und Ästen. Danach kam ein Abschnitt mit richtig norddeutscher Landschaft und schwarz-buntem Weidevieh, und danach passierte ich über viele Kilometer große Bananenplantagen. In der Kleinstadt Pasaje konnte ich im Clubhaus einer Radrennbahn, wohin mich trainierende Rennradler mitgenommen hatten, für die Nacht unterkommen. Zu bezahlen hatte ich nichts, und ich bekam sogar noch eine Empfehlung für Cuenca mit. Morgens war es schwül-warm, und die ersten Steigungen Richtung Cuenca ließen nicht lange auf sich warten, denn es ging wieder in die Anden. Die Bananen-Monokultur hörte bald auf und schönes, tropisches Hügelland schloss sich an. Nun konnte ich Bananen, Papayas, Kakao (dieser wurde an den Straßenrändern zum Trocknen ausgebreitet) usw. bunt gemischt sehen, und mit den kleinen Anwesen und der übrigen Urwaldvegetation sah dies auf den steilen Hängen richtig schön aus. Die Vegetation hielt nur bis zu einer Höhe von etwa 700 Meter an, danach wurden die Berge wieder kahl. Die anfangs mittelmäßige Straße war nach ca. 50 Kilometern neu ausgebaut, doch jetzt ging es mit der Steigung richtig zur Sache, und ich hatte keine Verschnaufpausen mehr. Mein Übernachtungsziel war Santa Isabel, welches ich mir sehnlichst herbeiwünschte. Vier Männer, die ich bald nach der Entfernung zu dem Ort fragte, sagten einhellig, zwei Kilometer. Ich war froh, denn so hatte ich die Aussicht, trotz der meist 10‑prozentigen Steigung ihn noch bei Helligkeit zu erreichen. Bald sah ich oben auf einer Bergkuppe den vermeintlichen Ort, doch die Straße führte unterhalb vorbei, und erst nach mehreren Kilometern ebener Strecke erreichte ich ihn nach 10,5 Kilometern... Zum Glück musste ich nicht noch in den Ort hinauffahren, sondern fand am Abzweiger eine Pension. Eigentlich hatte ich mir das Fragen nach Entfernungen schon abgewöhnt, doch immer wieder fiel ich darauf herein. Die Menschen hier können mit Kilometerangaben nicht viel anfangen, sie können eher sagen, wie viele Stunden sie mit dem Bus oder Auto brauchen. Aber selbst auf die amtlichen Kilometerangaben (wenn denn welche da sind) kann man sich nicht verlassen, Differenzen auf relativ kurzer Strecke von 20 und mehr Kilometern sind durchaus drin. In meiner Karte sind bei den zweitrangigen Straßen leider keine Kilometerangaben eingezeichnet. Am nächsten Tag führte mich die Straße durch ein schönes, breites Tal immer wieder auf und ab, doch stetig ging es nun höher hinauf. Die Häuser hier verrieten einen hohen Lebensstandard, sie waren fast ausnahmslos sehr schön, mit Balkons, Terrassen und schönen Erkern. Alle waren in Pastellfarben gestrichen, hatten bunte Dächer, und viele sahen aus wie kleine Villen. Nichts war zu sehen von armseligen Hütten und schrottreifen Autos. Hier hatte ich seit neun Monaten auf dem Rad den ersten Regen, er war aber nach ein paar Stunden schon wieder vorbei. Auf der letzten Steigungsstrecke passierte mir ein Missgeschick. Beim Anfahren auf einem Steilstück hatte ich zu wenig Schwung und bevor ich den zweiten Fuß auf der Pedale hatte, kippte das schwere Rad zur Seite. Ich konnte es gerade noch im letzten Moment auffangen, jedoch bohrte sich die Schutzblechhalterung tief in meine Wade und riss sie etwa vier Zentimeter auf. Es blutete nur wenig, doch den Muskel konnte ich richtig hin und her schieben und auf den Knochen schauen. Nach einem Notverband ging die Fahrt weiter, glücklicherweise waren es nur noch wenige Kilometer bis zur Passhöhe auf 2,700 Meter, so dass ich das Bein nicht so stark belasten musste. Nun kam ich in ein schönes, breites Hochtal, und es war angenehm zu fahren. Wie so oft fehlte mir wieder eine Stunde, um in Ruhe mein Ziel zu erreichen, denn es war bereits kurz vor Sonnenuntergang, und ich wollte noch nach Cuenca kommen. Polizisten an einer Kontrollstelle meinten, es wären noch sechs Kilometer, und es ginge meist bergab. Dem schenkte ich wenig Glauben, und so ich ließ mich von einem pick up bis zum Stadtanfang mitnehmen. Ich radelte in das Zentrum, und bald hatte ich die Sportanlage gefunden, für die ich eine Empfehlung als Übernachtungsmöglichkeit hatte. Mit dem Taxi fuhr ich anschließend in ein Krankenhaus, und da nicht viel los war, kam ich auch sofort auf die Liege. Nach einer kleinen örtlichen Betäubung wurde die Wunde mit sechs Nähten zusammengehalten. Eine Ärztin nähte die Wunde, und ein Arzt assistierte. Sieben Ärzte hatten ihren Spaß beim Zuschauen und rissen Witze, so dass die Ärztin vor Lachen kaum die Nadel durch die Haut und der Assistent den Faden nicht zu fassen bekam. Das Ganze gab es für nur sechs Dollar – ein Dollar pro Stich – vorsorglich eine gegen Schmerzen und eine gegen Infektion. Am nächsten Morgen suchte ich im Zentrum eine Bleibe und fand diese gleich beim ersten Anlauf. Für sieben Dollar hatte ich ein sehr sauberes, schönes, großes und helles Zimmer, und mein "baño privado" (WC und Dusche) war nur zwei Schritte gegenüber der Tür. Nach Wochen endlich wieder mal eine warme Dusche und sogar das Waschbecken hatte warmes Wasser. Sonntagmorgen Cuenca, mit 400.000 Einwohnern Ecuadors drittgrößte Stadt nach Quito und Guayaquil, hat mich begeistert. Eine wunderschöne Altstadt aus der Kolonialzeit mit einer schönen Plaza, einer alten Kathedrale aus dem Jahre 1557 und einer großen doppeltürmigen aus dem Jahre 1885 mit schönen Kuppeln. Cuenca zählte somit für mich neben Sucre in Bolivien und Cusco in Peru zu den drei schönsten Städten auf meiner Reise. Schön und zum Milieu passend fand ich zwei alte Männer, die in einem einfachen Bäckerladen nur zu ihrer Freude und ohne Publikum mit Gitarre und Saxofon Musik machten. Ich ging einfach hinein und hörte ihnen eine halbe Stunde lang zu. Am Sonntagvormittag spielten auf der Plaza fünf Musiker und besonders ein Mann in den Fünfzigern beherrschte sein Saxofon, dass es eine wahre Freude war. Beides, die Amateurmusik im Bäckerladen und die professionelle auf der Plaza, fand ich wundervoll. Der Verkehr läuft relativ ruhig, und sogar Verkehrsregeln werden eingehalten. Statt der Uraltbusse, wie in den übrigen Ländern, fahren dort relativ neue Stadtbusse. Weihnachtsdekoration – obwohl es erst Anfang November war – sah ich auch schon, und es erinnerte mich an zu Hause. Ungewöhnlich war für mich, dass in Ecuador der US-Dollar offizielles Zahlungsmittel ist. Nach zwei Tagen erhielt ich ein Mail von Dai, der seine Urwaldroute geändert hatte und nun in Cuenca sei. Was für eine freudige Überraschung! Gleich nächsten Morgen suchte ich ihn in seiner Pension auf, und wir beschlossen, bis Baños wieder gemeinsam zu fahren. Nach einem weiteren gemeinsamen Tag in Cuenca starteten wir tags darauf Richtung Norden, und unser Zwischenziel war die Kleinstadt Azoques, wo wir einen Zahnarzt, den meine Freunde aus Detmold kannten, besuchen wollten. Ein Teilstück der Autopista war wegen Bauarbeiten gesperrt, doch wie uns die Polizei zuvor sagte, durften wir auch diesen Teil befahren. Allerdings kamen wir nicht weit. Plötzlich hatten wir das Gefühl, es gäbe ein Erdbeben. Große Steinbrocken und schlanke Eukalyptusbäume flogen z. T. im hohen Bogen und auf breiter Front von einem Steilhang auf die Fahrbahn, die auf gut 200 Meter mit Geröll bedeckt war. Es war aber kein Erdbeben, sondern die Bauarbeiten fanden hoch oben statt, und Bagger rührten die Steine über den Abhang, die dann nach und nach auch die Bäume zerschmetterten. Diesen Abschnitt zu überqueren, wäre wie russisches Roulett gewesen! Wir kehrten also um und kamen so sicher nach Azoques, wo uns der Zahnarzt gleich zum Mittagessen einlud. Am Nachmittag regnete es in Strömen, und so zogen wir es vor, im Ort zu übernachten und erst nächsten Morgen den vor uns liegenden 3.500 Meter Pass anzugehen. Um sechs Uhr, so früh wie noch nie, waren wir auf der Straße. Die Steigung fing bald nach dem Ort an und schraubte sich ganz moderat auf den Pass hinauf. Hübsche Häuser auch hier und saftig grüne Wiesen, die mich an die Alpen erinnerten. Nach einer schönen Abfahrt dann bald wieder der nächste Berg, und so blieb es auch bis zum Abend. 2.082 Höhenmeter und 106 Kilometer fuhren wir an diesem Tag, waren aber auch 11 Stunden unterwegs. Dai hatte immer gleich einen großen Vorsprung heraus gefahren und somit lange Pausen. Ich dagegen legte etwa alle 100 Höhenmeter eine kleine Verschnaufpause ein und kam auf meine Weise gut über den Berg. Abends war dafür Dai kaputt und ich nicht. Am nächsten Tag ging dies so weiter, und immer wieder fragte Dai Leute nach dem Streckenverlauf. Für die Einheimischen hatte aber gerade die nächste Steigung Gültigkeit, und immer wieder hörten wir: "sólo un pequeño arriba y despues abajo o plano" (nur ein bisschen rauf und danach runter oder eben). Ein Stückchen ließen wir uns von einer Straßenwalze mitziehen. Kurzfristig eine schöne Erleichterung, doch bald hatte ich das Gefühl, der Arm würde immer länger werden. Am Abend hatten wir wieder über 2.000 Höhenmeter an Bergfahrten und nur gut die Hälfte an Abfahrten. Dai freute sich, dass diesmal auch ich ganz schön k.o. war. Wir übernachteten gleich neben der Straße im Rohbau einer künftigen Polizeikontrollstelle. Allerdings fragten wir zwei Männer, die gegenüber in einer Baracke wohnten und die Baustelle beaufsichtigten. Wir konnten uns sogar die "Zimmer" aussuchen, nur Fenster und Türen waren nicht drin, und der Wind drückte den kalten Nebel durch den Bau. Immerhin waren wir auf 3.200 Meter Höhe. Vorher gingen die beiden Männer mit uns noch in das nahe Dorf, weil sie Frauen kannten, die für uns noch kochen würden. Müde und durchgeschwitzt hinkte ich hinterher, und auch die Frauen waren zu müde, um für uns noch ein Mal zuzubereiten. So kauften wir in einem Laden Thunfisch, Brot und Bier und verzehrten es gleich dort, während die Inhaber uns interessiert ausfragten. Der nächste Tag war leichter, wir hatten weniger Steigungen und umso mehr Abfahrten. Gegen Mittag erreichten wir Riobamba und wollten Richtung Baños weiter fahren. Zuvor genehmigten wir uns noch ein Menü. Wie fast immer gab es Hühnersuppe, in der die Beine mit Krallen und Hälse mitgekocht und serviert wurden, dann, wie immer, Reis mit Hühnerteilen und dazu, wie immer, irgend einen Saft. In der Regel kommt Suppe und Hauptgericht gleichzeitig. Anschließend machten wir uns weiter auf den Weg und entschlossen uns für die schlechtere, aber kürzere Strecke direkt nach Baños. Dai befragte mehrere Leute über den Zustand der angeblich gesperrten Strecke und von "es geht", "es geht gar nicht", "wir müssten die Sachen einzeln tragen, weil Brücken weggeschwemmt wären" etc., war alles drin. Wir fuhren dann doch gar nicht erst weiter, weil wir uns von einer heranziehenden Regenfront abschrecken ließen und blieben zur Übernachtung in der Stadt. Von hier aus konnten wir am Abend, nachdem der Himmel wieder frei war, den schneebedeckten Chimborazo im Westen und den rauchenden Tungurahua bei Baños sehen. Die Asphaltstraße entlang des Riobamba-Tales war bald mehr und mehr mit Asche, die sich wie Sand anfühlte, bedeckt, und es ließ sich schlecht darauf fahren. Wir waren mittlerweile nämlich am Fuße des seit November 1999 wieder sehr aktiven Vulkans Tungurahua mit seinen vielen vom Berg kommenden Rinnen und Schluchten angekommen. Bald kamen wir an die erste kleine Schlucht, an der die Brücke weggerissen war, und nur eine Behelfsbrücke aus Holz mit spärlichen Brettern führte darüber. Vorsichtig mussten wir über die Brücke schieben und aufpassen, dass nicht die Reifen zwischen die Latten rutschten. So ging es die nächste Zeit immer weiter, denn es waren sämtliche Brücken (insgesamt 15) zerstört. Eine Folge des Vulkanausbruchs, bei dem die Lava innerhalb kürzester Zeit die Schnee- und Eishaube des Vulkans schmelzen ließ. Vermischt mit Erdreich sind diese Massen die Schluchten hinunter gedonnert, und die Brücken konnten dem nicht stand halten. Da jetzt erst die Bauern wieder in das Tal zurück kamen, gab es nur diese Behelfsbrücken, die weiter oberhalb der ursprünglichen Brücken lagen, wo die Schluchten enger waren. An einer zu breiten und zu tiefen Schlucht war es nicht möglich gewesen, eine Behelfsbrücke zu bauen, so mussten wir einen Umweg hinunter in das Tal des Rio Riobamba machen. Danach ging es einen enorm steilen, sandigen und aschigen Weg hoch. Ich kam mir vor wie ein Stier, und schob mein schwer bepacktes Rad mit äußerster Kraftanstrengung jeweils etwa 20 Meter hoch, um dann wieder zu verschnaufen. Ab der halben Strecke halfen wir uns dann gegenseitig und kamen so mit weniger Kraftaufwand nach oben. Obwohl wir fast den halben Vulkan umfuhren, konnten wir ihn wegen der Wolken nicht sehen. Nur ab und zu hörten wir ihn rumoren. Gegen Mittag waren wir in dem 1.800 Meter hoch gelegenen Ort Baños (= Bäder). Der Ort hat mehrere Thermalbäder, liegt sehr schön eingebettet zwischen hohen, grünen Bergen und ist sehr touristisch. Es gibt viele Agenturen, die Dschungel- und Bergtouren anbieten. Hier trafen wir auch Dais Frau mit ihrem Vater. Eine Adresse von einem Hostal hatte ich schon über Mail empfohlen bekommen und diese erwies sich als Volltreffer! Für nur 3,50 Dollar ein Zimmer mit Dusche und WC, Handtuch, Seife und Toilettenpapier (was nicht Standard ist). Dazu alles sehr sauber und eine nette Familie. Küchenbenutzung und Waschmöglichkeit für die Wäsche sowie ein kleiner Garten, alles inklusive. Klar, dass sich dies herumspricht und sich in einem solchen Haus die Welt der Traveller trifft. Die Küche wurde auch von uns genutzt. Dai machte täglich Salate, und von mir gab es Spagetti mit feiner Sauce sowie Bratkartoffeln, die auch Dai sehr gut schmeckten. Am Abend fuhren wir mit einem offenen Touristenbus - wo man von außen Zustieg zu den Sitzreihen hat oder man auf dem Dach sitzt - zu einem Aussichtspunkt, von dem man den Vulkan Tungurahua gut beobachten konnte. Tungurahua war auch so nett und hat uns drei Mal ein tolles Feuerwerk präsentiert. Anfangs konnten wir nur sehen, wie der Rauch vom Kraterinneren rot beleuchtet wurde. Aber dann, es war unglaublich, wie hoch die Lavabrocken in die Luft geschleudert wurden und mit welch einer Geschwindigkeit die Lava dann in voller Breite den Berg herunterfloss. Begleitet wurde dieses Szenario von lautem Donnergrollen, als ob ein Gewitter im Anzug wäre. Bis dahin hatte ich mir immer eingebildet, man könnte vor so einem Überraschungsausbruch weglaufen, aber ich wurde eines Besseren belehrt! Ein paar Tage später ging ich bei anfangs wunderbarem Wetter von Baños aus zu dem auf 3.800 Meter gelegenem Refugium (Hütte) und konnte beobachten, wie der Vulkan den Rauch förmlich aus dem Krater zwängte, der dann in einer geballten Säule hoch in den Himmel stieg. Leider wurde er, je weiter ich mich ihm näherte, immer ruhiger, und als ich das Refugium erreichte, war er ganz ruhig und immer mehr Wolken zogen um den Gipfel. Das Refugium war verschlossen, und drinnen war alles voller Asche. Es hat seinen Zweck verloren, seit es nicht mehr möglich ist bis zum Krater zu gehen. Zweihundert Höhenmeter stieg ich dann noch weiter bis zu einer früheren Messstation und wartete dort auf bessere Sicht. Doch nun hüllte sich der Krater ganz in Wolken, und auch von unten zog Nebel auf, so dass ich wieder zurück musste. Zu sehen bekam ich nur, wie aus Spalten seitlich vom Berghang Rauch oder Dampf aufstieg. Die halbe Strecke zurück musste ich dann im Regen laufen, zudem holte ich mir vor allem beim Abstieg einen kräftigen Muskelkater, der auch den Thermalbädern in den nächsten Tagen trotzig widerstand. Mein nächstes Ziel war es, den erloschenen Vulkan Chimborazo im gleichnamigen Nationalpark, den höchsten Berg Ecuadors mit 6.310 Metern, zu besteigen. Einige Tage war ich schon auf der Suche nach einem Partner, denn zwei Personen sind Minimum, wenn man nicht den doppelten Preis bezahlen will. Ich hatte Glück, denn eines Tages kündigte Dai vorsichtig an, dass er vielleicht mitkommen würde, und schon einen Tag später buchten wir gemeinsam. Somit wusste ich einen konditionell starken Partner an meiner Seite, denn wenn einer wegen Müdigkeit oder Höhenkrankheit nicht mehr weiter kann, dann müssen beide mit dem Führer zurück. Diesen Berg muss man aber als nicht erfahrener Bergsteiger mit Führer gehen. Zwei Tage sind dafür veranschlagt und in dem Preis von 150 Dollar pro Person ist die komplette Ausrüstung, Führer, Anfahrt, Nationalparkeintritt, Essen, sowie Hüttenübernachtung enthalten. Nachdem wir morgens die doppelten Jacken und Hosen (Fleece für innen und fester Stoff für außen), die Motorradfahrermützen, riesige Handschuhe, Helme, Steigeisen und Plastikstiefel anprobiert hatten, ging es mit dem Jeep die etwa 100 Kilometer bis zum Parkeingang. Hier, auf bereits 4.800 Meter, gab es in der Hütte Kaffee und belegte Brötchen. Außergewöhnlich, wir entdeckten in dieser Höhe einen munteren Kolibri! Anschließend stiegen wir noch zur Übernachtungshütte auf 5.000 Meter Höhe auf. Ungemütlich war es, denn es fiel nasskalter Schnee. Die Hütte dagegen sah recht gemütlich aus, und sogar ein Kamin war vorhanden, nur leider kein Holz. Später kamen noch drei Bergsteiger aus Bayern dazu, sie waren ohne Führer, da einer von ihnen ein erfahrener Alpinist war und vor Jahren den Chimborazo bereits einmal bestiegen hatte. Trotzdem fragten sie, ob sie sich uns anschließen könnten. Wir hatten nichts dagegen. Obwohl schon rechtzeitig im Bett, waren die Schlafstunden sehr knapp, denn bereits um elf Uhr wurden wir geweckt. Nach Cocatee und ein paar Brötchen gingen wir bei sternenklarem Himmel und Neuschnee eine Stunde später mit Stirnlampen los. Die erste Zeit ging es noch recht annehmbar dahin, doch dann erreichten wir den Gletscher, und wir mussten Steigeisen anlegen. Zusätzlich bildeten wir ab hier mit unserem Führer Raphael eine Dreier-Seilschaft. Immer wieder prüfte Raphael den Schnee und empfand ihn als sehr risikoreich, weil er wie Granulat wäre und keinen Halt hätte. So mussten wir die direkte, sehr steile Linie nach oben gehen und nicht im Zick-Zack (was wesentlich leichter wäre), um nicht den Schnee loszutreten. Allmählich stellte sich bei mir Müdigkeit ein, denn das Gehen in dem tiefen Schnee, wo ich fast immer wieder einen halben Schritt zurückrutschte, strengte sehr an. Immer wieder hoffte ich auf ein flacheres Stück zum Erholen, jedoch vergeblich. Wegen des Seils konnte ich nicht meinen eigenen Rhythmus gehen, ich musste stehen bleiben, wenn die anderen stehen blieben und weiter gehen, wenn die Seilgefährten wieder los gingen. Gegen sechs Uhr wurde es hell, und ich konnte den etwas niedrigeren Vorgipfel schon sehen. Es wären nur noch etwa 150 Meter gewesen, um von dem schräg vor uns liegenden Grad den Gipfel des Chimborazo vor den Augen zu haben. Ein paar Mal forderte ich eine etwas längere Pause, aber schon nach ein paar Minuten wollte Raphael wieder weiter. Ich war ärgerlich, denn im Rucksack schleppte ich Cocatee mit, doch ich bekam keine Möglichkeit, ihn zu trinken. Dann wollte Raphael plötzlich zurück, weil der Schnee noch gefährlicher werden würde, wenn nachher die Sonne drauf schiene. Ich rief den Bayern noch hinterher, die fast den Grad erreicht hatten, ob ich mit ihnen weiter gehen könnte, und sie hatten nichts dagegen, doch wollte Raphael eine schriftliche Erklärung von mir, dass ich auf eigene Verantwortung weiter ginge. Oje, keiner von uns Dreien hatte etwas zum Schreiben dabei. So meinte Raphael, dass wir dann alle drei weiter gehen müssten. Allerdings war auch Dai sehr müde und für das Umkehren, und die Verantwortung für beide wollte ich doch nicht auf mich nehmen und stimmte so dem Rückzug zu. Enttäuscht und auch wütend musste ich nun auf gut 6.100 Meter, nur 200 Meter unterhalb des Gipfels, umkehren, nur weil keiner einen Kugelschreiber dabei hatte! Aus Frust hatte ich nicht einmal ein Foto von der Tour gemacht. Sicher, die Führer haben eine große Verantwortung, aber übervorsichtig scheinen sie auch zu sein. Später erzählte mir Tobias, den ich hier kennen lernte und später in Quito wiedertraf, dass auch sein Führer frühzeitig umkehren wollte, obwohl der Schnee alt und festgetreten war. Er und sein Partner bestanden aber auf dem Aufstieg. Zwei Tage bevor es mit dem Rad von Baños weiterging, stießen wir am 23.11.03 mit Rotwein auf mein einjähriges Unterwegssein an. Dai und ich fuhren immer noch gemeinsam weiter, denn diesmal hatte ich meinen Tourenplan geändert und fuhr, statt auf das Hochland, hinunter in den Urwald. Morgens wurden wir mit leichtem Ascheregen verabschiedet. Während ich die Landschaft um Baños mit den steilen Wald- und Wiesenhängen noch mit der Steiermark/Österreich verglich, war sie etwa 15 Kilometer talabwärts schon völlig tropisch. Tief unten in der Schlucht rauschte der wilde Rio Pastaza, und überall von den Hängen fielen größere und kleinere Wasserfälle, von denen ich manche unter der üppigen Vegetation nur hören konnte. Nach 60 Kilometern erreichten wir die Kleinstadt Puyo und schwenkten dann auf der Schotterpiste "Carretera Oriental" Richtung Norden. Viele kleine Sägewerke gab es in der Gegend, und plötzlich hatte vieles den Beinamen "Amazonica" oder "Amazonia", denn das Gebiet gehörte bereits zum großen Amazonasbecken. Abends konnten wir unsere Zelte auf einem überdachten Sportplatz eines Dorfes aufstellen, was wir nachts besonders genossen, als Regen kräftig auf das Blechdach prasselte. Am nächsten Vormittag fuhren wir bei starkem Regen und konnten nachts in Tena, im Haus von Ines, einer österreichischen Entwicklungshelferin, schlafen. Dais Schwägerin Monika, mit dem Bruder von Dais Frau verheiratet, war gerade bei ihr zu Besuch. Monika kommt ebenfalls aus Österreich und arbeitet wie ihr Mann in Coca in einer Entwicklungshilfe‑Organisation. Von Monika hörte ich eine traurige, aber für Südamerika leider nicht unübliche Geschichte. Ihr Mann hatte einen sehr guten, ecuadorianischen Mitarbeiter, der als Verbindungsmann zwischen der Urwaldbevölkerung, der Organisation und den Behörden fungierte. Weil die dort tätige Ölgesellschaft Texaco die Böden und Gewässer verseuchte, sprach er bei der Gesellschaft vor und kam nicht mehr zurück, weil man ihn erschossen hatte. "Störenfriede" sind eben nicht erwünscht. Vor unserem Aufbruch am nächsten Morgen, stellte ich fest, dass meine Federgabel stark angerissen war. Ich musste sie schweißen lassen, was nur eine halbe Stunde dauerte, denn die Leute lassen immer alles andere stehen und liegen, um einem schnell zu helfen. Ich dachte, die Urwaldstraße wäre einigermaßen eben, doch schon bald nach Tena fing sie an erst leicht dann aber kräftig zu steigen, und wir mussten oft auf sandigem, steinigem oder matschigem Untergrund fahren. Am frühen Nachmittag erreichten wir den Abzweiger nach Coca, wo sich unsere Wege wieder trennten. Nach einem gemeinsamen Mittagessen noch ein paar Abschiedsfotos unter dem Wegweiserschild, dann ein Händedruck, und Dai fuhr Richtung Osten und ich gen Norden. Es ist doch ein eigenartiges Gefühl, sich in einer so abgeschiedenen Gegend von einem inzwischen schon guten Freund zu trennen. Meine Strecke führte weiter bergauf, und eine Stunde vor Sonnenuntergang fand ich auf einem kleinen Plateau einen Schlafplatz. Er erschien mir ziemlich sicher, war aber schwierig zu erreichen. Erst musste ich durch einen matschigen, von Weidevieh tief ausgetretenen Pfad, dann über eine sumpfige Wiese, wo ich am äußersten Ende vor einem steilen Abhang einen eben ausreichenden Platz fand. Durch kräftigen Staudenbewuchs mit riesigen Blättern war ich gegen das Runterkullern gesichert. Eine halbe Stunde war ich jedoch beschäftigt, um Taschen und Fahrrad einzeln zum Platz zu bringen. Toll, dass unter einem Baum dicke Holzbretter zum Trocknen lehnten, die eigneten sich wunderbar für einen festen Zelt-Untergrund. Als es schon finster war, bekam ich doch einen leichten Schreck. Erst sah ich von der Straße her etwas wie eine Taschenlampe mehrmals aufblitzen, danach längere Zeit nichts und dann plötzlich, als ob jemand mit der Taschenlampe quer über die Wiese liefe. Angestrengt beobachtete ich das Gelände weiter. Es wurden immer mehr Lichter, und mir fiel ein Stein vom Herzen, denn es waren Leuchtkäfer! Die hatte ich im Tiefland in Bolivien auch schon einmal gesehen. Am nächsten Morgen ging es auf der buckligen Asphaltstraße weiter wie am Vortage. Immer wieder meinte ich, endlich auf der Bergkuppe angelangt zu sein, doch dann schraubte sich die Straße um den nächsten Bergrücken weiter nach oben. Bald kam ich in den Nebelwald, und es wurde nass und ungemütlich. Auf 2.300 Höhenmetern hatte ich es dann geschafft, es ging hinunter, und die Sonne wärmte wieder. Endlich erreichte ich den Ort Baeza, den Ausgangspunkt für den 4.065 Meter hohen Papallacta-Pass über die Ostkordilleren Richtung Quito. Wenn es auch viele Steigungen mit 10 % und mehr gab, so ließ sich der Pass doch recht angenehm fahren, da die Strecke immer wieder flachere Passagen zum Ausruhen hatte. Außerdem war das Wetter sonnig und angenehm warm. Nur ein etwa vier Kilometer langes Stück führte als ganz schlechte Schotterstraße an einer hohen Felswand sehr steil nach oben, ging danach aber wieder in gute Asphaltstraße über. Ab und zu zeigte sich der schneebedeckte und vergletscherte 5.704 Meter hohe Vulkan Antisane zwischen den Wolken. Auf eine Höhe von etwa 3.400 Metern sah ich hoch oben an der Straße einige Häuser und wollte versuchen, dort einen Schlafplatz zu bekommen. Ein großer Tanklastzug überholte mich und der Fahrer lud mich mit einem Handzeichen ein, mich anzuhängen. Ich nahm dankend an, doch konnte ich mich nur mit den Fingern an einer Eisenplatte festhalten. So konnte ich es nicht lange aushalten, und ich versuchte weiter vorn eine seitliche Positionslampe zu erreichen, an der ich mich mit der ganzen Hand festhalten konnte. Einen derben Arbeitshandschuh hätte ich mir da gewünscht, so kantig war die Lampe. Ich strampelte fleißig mit, um das Gewicht für den Arm zu entlasten. Nach etwa fünf Kilometern kam ein Gefällestück, so dass ich den Laster loslassen musste. Er hielt jedoch einige hundert Meter weiter, so dass ich mich ab der nächsten Steigung bis zur Passhöhe wieder anhängen konnte. Nun strampelte ich nicht mehr mit, sondern überließ das ganze Gewicht dem Arm. Der Auspuff röhrte fürchterlich, doch zum Glück war er vorne am Führerhaus hochgezogen und ich bekam die Auspuffgase nicht ab. Das Wetter wurde mit leichtem Regen und Nebel immer ungemütlicher, und es war fürchterlich kalt, als wir auf der Passhöhe ankamen. Ich war glücklich, meinen warmen Fleecepulli noch nicht verschenkt zu haben, den konnte ich hier wunderbar gebrauchen! Ich hatte das Gefühl, mein Arm wäre er um einiges länger geworden, doch der Muskelkater in den nächsten Tagen war recht zurückhaltend. Außerdem hatte ich etwa 10 Kilometer Steigungsstrecke auf leichtere Weise überwunden und schaffte sogar noch die Abfahrt in den nächsten Ort. Leider jedoch durch Nebel und Regen, was den Genuss etwas schmälerte. Nun war ich nur noch 25 Kilometer von Quito entfernt und mit 2.700 Meter nur etwa 150 Höhenmeter tiefer als Quito, so dass ich hoffte, für die restliche Strecke einigermaßen ebenes Gelände zu haben. Stimmte nicht so ganz, denn nach angenehmer, leichter Abfahrt durch ein breites, stark besiedeltes Tal, musste ich doch noch über 650 Meter nach Quito hoch fahren. Mittags war ich dann endlich am Ziel. Quito, die Hauptstadt Ecuadors mit 1.400.000 Einwohnern und nahe am Äquator, liegt 2.850 Meter hoch in einer langgezogenen Talmulde mit einer maximalen Breite von fünf bis sechs Kilometern und einer Länge von etwa 30 Kilometern. Zum Osten hin begrenzen niedrige Hügel und zum Westen sehr hohe, aber grüne Berge die Stadt. Ich hatte Glück, denn nachdem es viele Wochen geregnet haben soll, hörte der Regen kurz nach meiner Ankunft auf. Waren für mich bis dahin Sucre/Bolivien, Cusco/Peru und Cuenca/Ecuador die schönsten Städte auf meiner Reise, so stellte die Altstadt von Quito alles in den Schatten. Allein schon durch die Anzahl und Größe vieler Gebäude, die abends richtig kunstvoll ausgeleuchtet werden. Einige Kirchen sind innen richtig überladen mit Gold, da fragte ich mich schon, auf welch unrechtmäßige Weise sie wohl zu diesem Reichtum gekommen sind. Die Basilika, erst gut hundert Jahre alt, ist weniger goldgeschmückt, hat dafür aber wunderschöne, dreifach übereinander angeordnete Buntglasfenster mit verschiedenen Motiven. Von den Türmen hat man einen phantastischen Überblick über die Stadt. Überall wurde weiter noch tüchtig gespachtelt und gepinselt, um auch die letzten Hauser mit neuer Farbe zu versehen. Anfangs fühlte ich mich etwas unwohl, dass ich in der Altstadt so gut wie keine Touristen sah, auch ich hatte im Reiseführer die Warnungen über die Gefährlichkeit gelesen. Da sich aber große Polizei- und Militärpräsenz zeigte, fühlte ich mich doch ziemlich sicher. Man kann jetzt auf Wunsch sogar Polizeibegleitung bekommen, wenn man sich unsicher fühlt, sagte mir mein Vermieter. Von einem Besuch auf dem Aussichtsberg am Rande der Altstadt, wird von den Einheimischen jedoch wegen möglicher Überfälle immer wieder abgeraten. Wenn, dann nur mit einem Taxi, welches für die Rückfahrt wartet. Ich wohnte direkt in der Altstadt und fühlte mich nicht bedroht. Nur einmal war es mir nicht ganz geheuer. Ich musste unbedingt zum Postamt, alle Straßen waren wegen Demonstrationen jedoch gesperrt und die Polizei mit Gasmasken ließ keine Passanten durch. So machte ich einen weiten Umweg und hatte das Postamt schon vor Augen, als ich doch noch auf eine Polizeisperre traf. Ich wollte schnell wieder zurück, doch plötzlich stand ich mit anderen Passanten zwischen vermummten Demonstranten und den Polizisten. Die ersten Reizgasbomben fielen, wir hielten uns Taschentücher vor Mund und Nase, die Augen schmerzten, und ich hatte ein verdammt mulmiges Gefühl! Ich kam aber doch gut und unbeschadet wieder zurück. Während meines Aufenthaltes in Quito waren gerade die Feierlichkeiten zur Stadtgründung von 1534 im Gange, und es war immer was los. Alte, offene Busse fuhren überladen mit fröhlichen Leuten - im und auf dem Bus - durch die Straßen, und sechs bis acht Mann Bands sorgten mit heißen Rhythmen für die nötige Stimmung. Die Fröhlichkeit war ansteckend, auch wenn die Busse ganz schön gefährlich aussahen: meist war auf dem Dach nur ein 30 – 40 cm hohes Geländer, und es wurde viel Alkohol getrunken. Quito hat keine Metro, aber einen Trolley-Bus (Ziehharmonika-Oberleitungsbus) mit eigener Fahrspur, der die Stadt der Länge nach zügig durchquert. Selbst diese Busse hatten statt Hupe die Erkennungsmelodie der Gründungsfeier. Generell ist die Luft in Quito ziemlich verpestet, und auch ich bekam meinen Teil ab, denn in Ecuador haben fast alle LKWs und Busse ihre Auspuffrohre zur rechten Straßenseite ausgerichtet. Für mich alsRadfahrer – besonders auf Bergstrecken – war es verdammt unangenehm, da ich den gesamten Qualm direkt ins Gesicht geblasen bekam. Oft hatten die alten Fahrzeuge auch noch zwei oder drei Auspuffe, die Busse einfach seitlich ein Loch in der Bordwand, aus denen der viele Rauch hinausgepresst wurde. Es ist unbeschreiblich, welche gewaltigen Rauchwolken diese Fahrzeuge abgeben können. Wegweiser und Kilometerangaben gibt es in den meisten Departments – auch an wichtigen Hauptstraßen – fast gar nicht. Müll an den Straßenrändern gibt es weniger als in den Ländern zuvor, sehr unangenehm empfand ich jedoch das viele Glas an den Straßenrändern, egal ob in den Städten oder auf der Landstraße. Zu schaffen machten mir die besonders aggressiven Hunde in Ecuador, die oft in richtigen Meuten hinter mir her kamen. Einer schaffte es, in meine Tasche zu beißen und ein anderer kam bis zu meinem Schuh, glücklicherweise gab es nur ein paar Schrammen. In manchen Dörfern musste ich laufend anhalten, um mich mit Steinen dieser Viecher zu erwehren. Meist genügt es aber schon nur so zu tun, als hebe man einen Stein auf, das verstehen die Hunde wohl auf der ganzen Welt. Wie in Bolivien und Peru, war es auch in Ecuador problematisch, beim Bezahlen Wechselgeld heraus zu bekommen. Egal, mit welcher Note ich bezahlte, fast immer liefen sie zum Nachbarladen (und weiter), um das Geld zu wechseln. Nach Quito werde ich erst mal den Äquator (70 km nordöstlich) überfahren und damit wieder auf der nördlichen Halbkugel sein. Von dort sind es nur noch ein paar Tagesetappen bis Kolumbien, meinem sechsten Land dieser Reise. Bis zum nächsten und letzten Bericht Herzliche Grüße Hans Windisch |