Von Feuerland zur Karibik

Von Feuerland zur Karibik


7. Reisebericht:   La Paz (Bolivien) – Lima (Peru)

Nach zehn Tagen in La Paz startete ich am 30. Juli 2003 in Richtung Peru. Zuvor aber hatte ich noch einen Abstecher nach Sorata geplant, ein beliebter Ort unter Trekkern und Bergsteigern, ca.150 km nördlich von La Paz, um eine mehrtägige Trekkingtour zu machen. Ich ließ mich mit dem Taxi von der Stadt die gut vierhundert Höhenmeter über die Autopista an den "Kesselrand" von La Paz nach El Alto bringen. Munter ging die Fahrt mit leichtem Rückenwind auf der neuen, sechsspurigen Autopista durch El Alto los und munter fuhr ich auch an der Abzweigung Richtung Titicacasee in dem Verkehrsgewusel vorbei, die in meinem Kopf erst für viel später gespeichert war. So ging es schon einmal mit einem Umweg von zwölf Kilometern los und ich musste noch länger als mir lieb war durch diese hässliche schmutzige und auch gefährliche Stadt fahren. Nur die Hauptstraßen sind asphaltiert, die Abwässer werden vielfach direkt auf die Nebenstraßen geleitet und vermischen sich mit dem vielen Plastikmüll zu einer stinkenden Kloake.

El Alto, die auf dem Altiplano auf gut viertausend Metern Höhe gelegene Trabantenstadt mit rund 600.000 Einwohnern, war früher eine Vorstadt von La Paz und befindet sich seit etwa fünfzehn Jahren unter eigener Verwaltung. Sie ist das Auffangbecken all derer, die im Talkessel der faktischen Hauptstadt Boliviens (formelle Hauptstadt ist Sucre) nicht mehr aufgenommen werden können. Sie kommen vom Land, welches die Familien durch die Erbteilungen nicht mehr ernähren kann, von den Minen oder gehören zum verarmten Mittelstand von La Paz. El Alto wächst fast zehn Prozent jährlich, die Arbeit ist äußerst knapp und der Überlebenskampf entsprechend hart. Der überwiegende Teil der Bevölkerung sind Aymaras (Indígenas). Sie versuchen in diesem Umfeld den Schritt vom Land in die Stadt und stehen in vielfacher Weise zwischen der stark strukturierten Dorfgemeinschaft und dem städtischen Individualismus, zwischen eigenen Kulturwelten und westlicher Lebensart. Als ich endlich aus der Stadt heraus war, konnte ich die vielen schneebedeckten Berggipfel der Königskordillere genießen. Diese Strecke war ich schon vor sieben Jahren geradelt, sie war ansonsten nicht besonders aufregend, die Straße hatte jetzt aber einen Asphaltbelag. Gleich nach Achacachi zweigte die Straße nach Sorata ab und die Asphaltstraße endete. Von hier, so hatte ich immer gehört, geht es nach Sorata runter, doch von der Ebene aus, die ich durchqueren musste, konnte ich schon den hohen Bergrücken sehen, den ich zu meiner Enttäuschung zunächst gleich vierhundert Höhenmeter hochfahren musste, bevor es dann aber von 4.270 Meter auf 2.700 Meter in unendlich vielen Kurven und Kehren am Hang eines langen, steilen Bergrückens hinunter ging. Rechts das mächtige Massiv des 6.468 Meter hohen Illampu und links zu beiden Seiten des Talgrundes grüne Felder an den Steilhängen. Die Straße ließ sich ganz gut fahren, denn es gab meist eine glattere Spur an den Außenseiten der Kurven, und so musste ich nur immer hin und her wechseln. An einigen Stellen führte die schmale Straße auch direkt über fast senkrechte Abgründe und erinnerte an die Yungas. Als ich nach langer, schöner Fahrt über den abfallenden Bergrücken in das Soratatal wechselte, konnte ich schon tief unten auf der anderen Talseite den Ort Sorata sehen. Es waren noch etwa fünfzehn Kilometer und vierhundert Höhenmeter Abfahrt mit etwas Gegensteigung, bis ich den Ort mit einem Platten bei einbrechender Dunkelheit erreichte. Immerhin, obwohl schon Kilometer davor die Luft nachließ, musste ich nur die letzten fünfhundert Meter schieben. Im Landhaus Copacabana, welches einem Deutschen aus Emden gehört, quartierte ich mich ein. Der Ort liegt mit seiner wunderschönen Plaza mit hohen Palmen und anderen exotischen Bäumen hoch über dem Talgrund; im Hintergrund als Kontrast die Kulisse des schneebedeckten Illampu mit seinen Nebengipfeln.

Da ich die Bergtour nicht alleine machen wollte, schloss ich mich einem jungen französischen Paar an. Über eine nicht lizenzierte Agencia hatten wir günstiger einen Führer für eine dreitägige Tour angeheuert. Die Lebensmittel kauften wir selbst ein und am nächsten Morgen ging es mit Mario, dem Führer, und zwei Maultieren für das Gepäck Richtung Illampu los. Ziel war der Gletschersee, etwa neunhundert Meter unter dem Gipfel. Am ersten Tag mussten wir immer auf unseren Führer warten, weil die Maultiere nicht so schnell waren. Am Nachmittag schlugen wir unser Zeltlager auf 4.200 Metern auf, neben ganz kurzen Sonnenabschnitten überwogen die Wolken, sprich Nebel. Abends gab es Spaghetti mit schmackhafter Sauce aus frischen Tomaten usw., für deren Zubereitung auch Mario zuständig war. Sogar Rotwein hatten wir uns mitgebracht, den wir zuvor im Schlafsack auf Trinktemperatur brachten. Der anfängliche Morgennebel am anderen Tag klarte bald auf, und wir stiegen zum Gletschersee hinauf. Die Maultiere blieben sich selbst überlassen, und auf die Zelte passte ein von der Agencia bestellter Junge auf. Die dünne Luft machte natürlich ein sparsames Dosieren des Tempos erforderlich. Von zwei Seiten strömten Gletscher in den See und der Anblick der Gipfel war grandios. Nur der Hauptgipfel, der Illampu, wollte sich nie so ganz zeigen. Nach der Mittagsbrotzeit und einem kleinen Schläfchen in der Sonne stieg ich noch mal knapp hundert Höhenmeter weiter und konnte von dort im Parallel-Tal weitere Gletscher sehen, sogar ein wunderbarer Blick auf den Titicacasee in der Ferne war mir für kurze Zeit vergönnt. Abends fing es an zu regnen und Mario musste mit einer Plastikhülle über dem Rücken kochen. Der Regen hielt sich die ganze Nacht, und erst kurz nach unserem Aufbruch wurde es wieder schön. Ein Maultier war nicht auffindbar und die Hoffnung von Mario, es beim Abstieg zu finden, erfüllte sich nicht und er musste nochmals zurück. Eine böse Überraschung hatte ich am Morgen: mir waren drei überkronte Zähne abgebrochen und noch dazu ganz wichtige, die Brückenteile gehalten hatten. Nun war erst mal nichts mit meiner Weiterfahrt nach Peru, sondern ich musste mich um meine Zähne kümmern. Nach noch einer Nacht in Sorata fuhr ich mit dem Bus nach La Paz zurück und war niedergeschlagen und sehr traurig, dass ich meine Fahrt nicht fortsetzen konnte. In La Paz lag ich bereits eine Stunde nach meiner Ankunft auf dem Stuhl einer sehr netten Zahnärztin, die mir meine Freunde empfohlen hatten und zu der ich gleich volles Vertrauen hatte. Dummerweise war der nächste Tag ein Feiertag, wodurch sich die Fertigstellung eines Provisoriums verzögerte. Diese einfache Lösung reichte bei meinen Zähnen allerdings nicht aus, und so mussten umfangreichere Teile neu gemacht werden. Acht Tage war ich damit wieder in La Paz, und insgesamt waren es nun schon siebenundzwanzig Tage! Kein Wunder, dass ich da unruhig wurde.

Diese Zwangspause gibt mir immerhin die Möglichkeit, noch einige Beobachtungen aus dieser vielseitigen und interessanten Stadt mitzuteilen: oft habe ich mich gewundert, dass es so viele dicke Indígenafrauen gibt, was durch die vielen Unterröcke noch mehr aufträgt. Diese Leibesfülle ist tatsächlich ein Statussymbol, genauso, wie sich viele auf Schneidezähne Goldkronen setzen lassen. Seltsam sieht es aus, wenn man diese Frauen dann mit einem Handy am Ohr sieht. Ab der Innenstadt abwärts beginnt sich der Kessel, in dem die Stadt liegt, stark zu zerklüften und ist von Erosion geprägt. Durch die engen und steilen Talschluchten schießen die ungeklärten Abwässer stinkend in Richtung Kesselausgang - La Paz besitzt keine Kläranlagen! Häuser werden an jedem etwas ebenen Fleck gebaut, meist illegal, und zu jeder Regenzeit werden einige weggespült oder brechen mit den Erdmassen ab. Meist kommen dabei auch Menschen um, und dies betrifft nicht nur die armen Viertel. Auch Villen sah ich dicht an den Steilhängen, dass ich mich fragte, wie lange die dort wohl noch stehen mögen, denn der Untergrund ist nicht etwa aus Fels, sondern ein Gemisch aus Sand, Erde und runden Steinen in allen Größen, die oft schon über die Hälfte aus dem Erdreich überhängen. Solche Hänge dicht an den Straßen sind mit langen Maschendraht-Bahnen abgesichert, damit abstürzende Steine nicht den Verkehr gefährden.

Gleich am Nachmittag nach der letzten Behandlung fuhr ich mit dem Bus nach Achacachi, um von dort endlich am nächsten Tag meine Fahrt wieder in Richtung peruanische Grenze fortzusetzen. Ja, anstrengend war es schon, nach so langer Radpause (nur acht Radlertage in zweieinhalb Monaten) wieder zu strampeln. Die erste Nacht zeltete ich direkt am Titicacasee, was für mich ein besonderes Erlebnis war, denn dieser See hat seit meiner Schulzeit nichts an Faszination verloren. Die ersten etwa achtzig Kilometer konnte ich noch auf Asphalt fahren, aber die letzten dreißig Kilometer bis Puerto Arcosta (es gibt dort aber keinen Hafen) waren extrem schlecht, ich war aber vorgewarnt. So rückständig wie der Verkehrsweg war auch die landwirtschaftliche Arbeit. Ich sah Bauern, die mit langen, gebogenen Stangen ihr Getreide droschen, welches sie auf Plastikplanen ausgebreitet hatten. Auch beim Pflügen mit einfachen Holzpflügen konnte ich zusehen. Ein Bauer lud mich sogar ein, dies zu fotografieren, was sie normalerweise nicht gern haben. Im ganzen Hochland stellte ich immer wieder fest, dass die Betten besonders kurz und die Türrahmen sehr niedrig sind: in der relativ neuen Pension in Arcosta waren die Türrahmen gerade mal 1,65 Meter hoch! Hinter Arcosta hörte die Straße praktisch auf, und nur ein meist sehr steiniger und oft mit tiefen Ausspülungen versehener Weg führte mit leider einigen Zwischenabfahrten immer höher hinauf, viel davon musste ich schwer über die Steine schieben. Außer hochbeinigen Jeeps können diesen Weg nur noch Motorräder befahren. Ich wollte eigentlich die Grenze passieren am heutigen Tag, aber als alle Zeitangaben sich als unrealistisch herausstellten, fragte ich auf 4.300 Metern einen Kleinbauern, der achtzig Alpakas sein eigen nannte, ob ich auf seinem Grundstück zelten dürfte - die Hütten und die Beweidung hörten auch in dieser Höhe nicht auf. Ich durfte und er freute sich riesig über die Abwechslung und darüber, beim Zeltaufbau mit helfen zu können, was er richtig professionell machte. Am nächsten Morgen dann die restlichen achtzig Höhenmeter bis zum Sattel, wo ich zwar nicht die erwartete Grenze vorfand, dafür aber einen wunderbaren Blick zurück zum Illampu. Nach einem zum Teil regelrechten Hindernislauf auf fünf Kilometern leicht bergab traf ich neben einigen Hütten und einem Viehmarkt auf einen farblosen Zementsockel, und das war sie nun endlich, die peruanische Grenze. Für die nächsten paar Kilometer glich der Weg eher einem Geröllfeld und ich musste auch bergab schieben. Dann in der Ebene war es besser, und ab dem ersten größeren Ort gab es wieder eine normale Schotterstraße. Dafür erwartete mich in diesem Ort meine erste richtig unangenehme Begegnung: beim Kaufen von Wasser sprach mich vor dem Laden ein angetrunkener Mann sehr aufdringlich an und hielt dauernd meinen Lenker fest. Als ich ihm laut und eindringlich nahe legte loszulassen und seine Hand vom Lenker nahm, griff er sofort mit der anderen Hand zu. Ein anderer Mann nahm ihn dann weg und ich konnte losfahren, dachte mir auch nichts dabei, als er kurze Zeit später plötzlich mit einem Fahrrad neben mir auftauchte, und grüßte nur höflich. Er jedoch schmiss plötzlich das Rad auf die Straße und stürmte auf mich zu, um mich am Weiterfahren zu hindern. Doch ich war schneller, kam gerade noch an ihm vorbei und fuhr zügig weiter, denn ich wollte mit ihm nichts mehr zu tun haben, verlor jedoch eine der Wasserflaschen auf dem Holperpflaster, und wie dann alles so zusammenpasst, ging auch noch der Fahrradständer ab, als ich das Rad abstellen wollte. Trotzdem kam ich noch vor ihm weg und hielt auf das Ende des langgezogenen Dorfes zu, um weitere Leute nach dem Weg nach der Provinzhauptstadt Moho zu befragen, der irgendwann links abgehen sollte. Das waren aber auch ganz merkwürdige Leute, und anstatt auf meine Frage zu antworten, forderten sie von mir "dolares". Ich verabschiedete mich schnell, doch inzwischen war der andere Mann auch schon eingetroffen und versuchte mich erneut am Weiterfahren zu hindern, indem er mir mit seinem Rad den Weg absperrte. Ich aber fuhr einfach mit Wucht gegen sein Hinterrad und machte mir so den Weg frei. Bald merkte ich, dass sie mich nun zu zweit verfolgten und ich trat wie verrückt in die Pedalen, wohl wissend, dass ich bei dieser schlechten Straße und mit meinem Gepäck keine Chancen hatte, denn der Mann hatte mindestens auch ein 18-gängiges Rad. Außerdem sprang meine vordere Packtasche aus der Halterung und ich verlor eine Wasserflasche nach der anderen, die ich aber jetzt lieber liegen ließ. Etwa einen Kilometer nach dem Dorf hielt ich, kurz bevor sie mich eingeholt hatten, um es nicht zu einer Karambolage kommen zu lassen. Mein Verfolger stellte sich sofort vor mich, nahm mein Vorderrad zwischen die Beine und hielt den Lenker fest. Dem zweiten Mann, zu meiner Erleichterung war es nur ein etwa 16-jähriger Junge, winkte er mit der Hand hinter seinem Rücken, dass er sich hinter ihm stellen sollte, damit ich nicht überraschend ausbrechen könnte. Er redete von Kooperation und dolares, die ich ihm geben sollte, dann wollte er auch noch meinen Reisepass, und als drittes interessierte ihn mein Fahrrad. Ich versuchte ihn zu beschwichtigen, doch er wurde immer aggressiver und nun überlegte ich schon, mein Pfefferspray anzuwenden, das ich vorsichtshalber schon in die Hosentasche gesteckt hatte. Da letztendlich alles Reden nichts nützte, spritzte ich ihm einmal ins Gesicht und weil es nicht genau saß, noch einmal in die Augen. Sofort taumelte er an den Straßenrand und war kampfunfähig. Dem Jungen wollte ich auch noch eins verpassen, doch dieser lief von selbst weg. Als ich dann ganz schnell los fuhr, warf er noch ein paar Steine hinterher, die aber nicht trafen. Nun war ich regelrecht auf der Flucht und war froh, dass dieser Vorfall sich so weit außerhalb des Dorfes zugetragen hatte, denn so mussten sie erst mal zurück, um eventuell andere mit meiner Verfolgung zu beauftragen. Das nächste Dorf war nicht allzu weit, und als ich durch dieses durch war, irritierte mich der nächste Vorfall: vier Jungs kamen über einen leicht schrägen Hang mit Rädern auf mich zu, zwei schnitten mir gleich den Weg ab und fuhren vorn vor mir her, die anderen beiden hielten sich hinter mir und forderten von mir gleich wieder dolares. Ich war unsicher, ob es einen Zusammenhang mit dem anderen Vorfall haben könnte und fuhr ein Stück in den Ort zurück, um notfalls Beistand von den Dorfbewohnern zu bekommen, alles mit meiner neuen Begleitung. Dort sprach ich sie an, ob sie als stolze Peruaner es richtig fänden, von einem Radfahrer Geld zu fordern. Sie waren sehr einsichtig und ich konnte meinen Weg wieder ungehindert in die andere Richtung fortsetzen. Immer wieder drehte ich mich um, ob ich verfolgt würde, doch ich konnte nichts feststellen. Am meisten Angst hatte ich davor, dass mich jemand mit dem Motorrad verfolgt. Nach sechs Kilometern Schotterstraße dann die Abzweigung Richtung Moho, die ich niemals gefunden hätte, wenn ich nicht mehrere Leute gefragt hätte. Nur eine ganz schmale Erdbrücke führte über einen Wassergraben und war damit für Autos wieder unzugänglich. Einen kleinen Hügel musste ich überfahren und dann ein etwa zwei Kilometer breites Tal queren, um auf eine Anhöhe zu kommen. Von dort konnte ich ein großes Stück der Strecke überblicken und sah keine Verfolger. Auch hielt ich immer Ausschau nach einem möglichen Versteck, was aber bei diesem offenen Gelände schwierig war. Es ging wieder einen Berg rauf, wo ich manchmal gar nichts mehr vom Weg sehen konnte vor lauter Steinen. Ich war immer froh, wenn ich ein weites Stück Weg zurück einsehen konnte oder auch wenn Hirten mit ihren Schafen und Lamas meine Reifenspuren verwischten. Hier kam mir auch immer mehr zu Bewusstsein, dass ich wohl insgesamt falsch gefahren war, denn nun hatte ich wieder gut zehn Kilometer von einem so schlechten Weg quer zu fahren, um in die Stadt Moho zu kommen. Die letzten etwa acht Kilometer nach Moho gingen dann zum Glück bergab, fünf davon wieder auf guter Schotterstraße, und bei einsetzender Dämmerung erreichte ich die Kleinstadt. Diese fünf Kilometer musste ich dann morgens allerdings wieder zurück hinauf fahren, um in Richtung Huancané am Nordende des Titicacasees zu kommen. Zweimal war ich besonders auf der Hut, da mein Gegner vom Vortag wusste, wo ich hin wollte: einmal stand ein Motorradfahrer in einer Kurve, auf seinem Motorrad sitzend, ein andermal ein Mann auf einer Anhöhe, wo er mich schon von weitem sehen konnte. Glücklicherweise aber waren meine Befürchtungen unbegründet. Erst nach Huancané war ich mir sicher, dass nichts mehr kommen konnte. Bis dorthin riefen mir aber noch mehrere Leute von den Feldern oder vom Straßenrand zu, ich solle ihnen Geld geben. All diese Vorkommnisse hatten mich schon ganz schön geschockt und ich wünschte, Peru im Blitz-Tempo durchfahren zu können. Entschädigt wurde ich aber von der wunderschönen Landschaft am Nordostufer des Titicacasees: immer wieder fuhr ich an tiefblauen Buchten vorbei, die vom See bis auf kleine Durchlässe von Bergen getrennt waren. Am Nordufer lief der See ganz flach aus und bildete große Sumpfgebiete, in dem kleine Bauernhöfe wie auf Inseln standen. Ab Huancané gab es dazu noch Asphaltstraße und das hieß mindestens für die nächsten 2.500 Kilometer Schotter-Pisten ade.

Verwunderlich an den Vorkommnissen war ja, dass diese sich in einer so abgeschiedenen Gegend zugetragen hatten, wo kaum Touristen hinkommen, höchstens Radler wie die Kanadier und ich, die Probleme mit der Wegfindung haben. Die beiden hatten mir schon abgeraten, die östliche Seite des Titicacasees zu passieren und waren wohl die selbe, falsche Strecke gefahren wie ich.

So schlich ich mich aus Bolivien ohne Ausreisestempel und hatte auch keinen Einreisestempel für Peru. Den holte ich mir von Juliaca aus mit dem Bus in Puno. In Juliaca versuchte ich auch beim bolivianischen Konsulat einen Ausreisestempel zu bekommen, doch ich hätte dafür etwa hundert-dreißig Kilometer zur Grenze nach Copacabana oder Desaguadero fahren müssen. Diese Formalitäten hielten mich ungewollt eineinhalb Tage in dieser gar nicht schönen und auch gefährlichen Stadt Juliaca, die voll von Schmugglern, Fälschern und Rauschgifthändlern ist. Es gäbe kaum etwas, was hier nicht an Markenwaren illegal nachgemacht wird, von Getränken über Kleidung bis hin zu Elektrogeräten, so hatte es der peruanische Reiseführer auf der Cusco-Fahrt gesagt. Sehr viele Menschen profitieren wohl ganz gut davon. Das Hauptverkehrsmittel in der Stadt sind Fahrradrikschas. Davon wimmelt es nur so und die hohen Töne ihrer Gummiballhupen klingen mir noch heute in den Ohren. Touristen halten sich hier kaum auf, diese werden nur in Bussen von Puno nach Cusco oder Arequipa durchgeschleust.

Aber dann brach ich endlich in diese Stadt auf, auf die ich mich schon so lange freute, nämlich in die knapp dreihundert Kilometer entfernte Stadt Arequipa, wo mich wieder Wärme erwarten sollte. Anfangs war ich noch bei jeder Annäherung von Radlern oder Motorradfahrern misstrauisch, doch dieses zerstreute sich bald, denn die Leute an der Straße waren überaus nett und grüßten und winkten fröhlich. Auf der Straße hupten und blinkten mich fast alle Bus- und LKW-Fahrer an und winkten mir gemeinsam mit den Fahrgästen zu. Ich war verblüfft! Weitere Pluspunkte steuerte die Reiseroute bei, denn ich musste nicht über diese Bergkette hinter Juliaca fahren, sondern durch sie hindurch und konnte siebzig Kilometer ein schönes, breites Tal genießen, mit nur ganz allmählichem Anstieg und einer ganz neuen Asphaltstraße mit neuer Streckenführung, die in meiner Karte noch gar nicht eingezeichnet war. Kurz vor dem Dunkelwerden fand ich dann auch noch nach langem Suchen einen gut versteckten Lagerplatz in einer kleinen Mulde unmittelbar über der Straße. Die nächsten zwei Tage war es dann ein ständiges Auf und Ab, und so langsam kam ich auf 4.550 Meter. Nachmittags hatte ich jeweils patagonische Verhältnisse, was den starken Gegen-wind anbetraf. Noch einmal schlief ich auf über 4.400 Metern, aber nicht im Zelt, sondern bei der Polizei im Dorf Imata, wo der eisige Wind durchfegte. Am nächsten Tag konnte ich plötzlich von einem Mirador an der Straße den 5.822 Meter hohen "Vorzeigevulkan" Misti sowie den 6.075 Meter hohen Chachani sehen, die jenseits einer weiten Senke aufragten. An dem Gebirgsstock des Chachani, ebenfalls vulkanischen Ursprungs, mit zwei weiteren Gipfeln, musste ich Richtung Nordwest vorbeifahren, bevor ich dann am späten Nachmittag endlich die Abfahrtstrecke auf der Rückseite des Berges nach Arequipa auf nur noch 2.380 Meter genießen konnte. Allerdings musste ich sehr vorsichtig fahren, denn einen Tag zuvor hatte ich einen glatten Bruch meiner Federgabel festgestellt. Da das Gewicht aber von der Parallelgabel gehalten wird, konnte ich noch damit fahren. Besonders schön war es für mich, dass alle Autos, die mich zuvor auf der "Windstrecke" überholt hatten, nun vor einer Baustelle wegen Asphaltierungsarbeiten in einer langen Schlange standen, während ich passieren durfte und die Straße für mich alleine hatte. Zunehmend wurde es wärmer, die Landschaft kahler und viele große Steine und Kakteen lösten das Büschelgras des Hochlandes ab. Um die vielen Hügel, die wirklich kreuz und quer und übereinander in dieser Berglandschaft "angeordnet" waren, wand sich die Bahnlinie in Schleifen oft tief unten in der Schlucht und dann wieder hoch oben an den Hängen talwärts. Einige Male passierte ich auch wunderbar grüne, große Terrassenfelder weit unterhalb der Straße. Kurz vor der Dämmerung erreichte ich noch Yuri, einen von einer riesigen Zementfabrik dominierten Ort, in dem ich noch dreißig Kilometer vor Arequipa übernachten musste. Obwohl es schon angenehm warm war, saßen auch hier abends im Restaurant Männer mit dicken Anoraks und Mützen auf dem Kopf. Am nächsten Morgen war ich in zweieinhalb Stunden in Arequipa.

Arequipa zählt eine Million Einwohner und wird auch die weiße Stadt genannt, nach dem sehr hellen Sandstein, aus dem die alten Häuser gebaut wurden. Doch ein bisschen mehr von dem Weiß könnten einige Gebäude Arequipas derzeit gut gebrauchen. Die Plaza, immer der Mittelpunkt einer Stadt, ist sehr schön. Eine zweitürmige, sehr schöne Kathedrale nimmt die ganze Nordfront von etwa hundert Metern ein, und die drei anderen Seiten sind mit doppelstöckigen Arkadengängen wunderschön bebaut. Auf einer Seite der Arkadengänge sind im ersten Stock viele Restaurants etabliert, wofür unter dem unteren Arkadengang sowie auf der Plaza junge Frauen um Gäste werben. Auch ich ließ mich anwerben und hatte dabei ein amüsantes Erlebnis: zu einem Nudelgericht bestellte ich Rotwein. Dieser kam jedoch eiskalt aus dem Kühlschrank, worüber ich mich beim Ober beschwerte. Er meinte, dass es überhaupt kein Problem sei, nahm mein Glas mit und kam freudestrahlend nach fünf Minuten wieder damit zurück. Jetzt war der Wein aber nicht nur temperiert, sondern richtig heiß, wie Glühwein ohne Gewürze. Der Ober wunderte sich, dass ich ihn so auch nicht trinken mochte, wo er doch jetzt "caliente” (warm) war...

In der Mitte der Plaza der quadratische Park mit Palmen und anderen exotischen Bäumen und Blütensträuchern. Jeweils Sonntag Abend werden die Fahnen der Stadt und Perus mit einem militärischen Zeremoniell eingeholt. Acht Soldaten, geführt von einer Offizierin mit Säbel, stehen stramm, während ein Soldat den Zapfenstreich bläst. Viele alte Kolonialbauten hat die Stadt und wie ich in vielen Restaurants und Geschäften sehen konnte, mit massivem Gewölbe. In der Stadt und südlich davon gibt es entlang des Rio Chili noch viele Terrassenfelder aus der Pre-Inka Zeit, auf denen vor allem Gemüse angebaut wird. Überragt wird die Stadt von dem schneebedeckten Chachani und dem wunderbar geformten und allein stehenden Vulkan Misti. Viele Touristen tummeln sich im Zentrum und entsprechende Geschäfte und Restaurants hat man zur Auswahl. Ein riesiges, über vierhundert Jahre altes Kloster ist seit 1973 zum Teil zur Besichtigung frei gegeben, und ich finde es schon interessant mir vorzustellen, wie die Nonnen hier ihr ganzes Leben verbrachten, total abgeschirmt von der Außenwelt. Sie stammten zum Teil aus reichen Familien, wo traditionsgemäß die zweite Tochter ins Kloster ging. Dafür baute die Familie dann ein eigenes Haus im Kloster an und sie bekam ihre Mitgift mit, die je nach den Vermögensverhältnissen der Familie ausfiel. Auch Dienstboten konnte sie halten. Die Schlafpritsche war immer in einer Nische unter einem erdbebensicheren Gewölbebogen. Ein Teil ist auch heute noch Kloster.

Apropos Erdbeben: Mein erstes, leichtes Erdbeben der Stärke 5,6 auf der Richterscala habe ich hier in Arequipa erlebt und ich muss sagen, es war schon ein eigenartiges Gefühl. Ich saß gerade auf der Dachterrasse der Pension und dachte erst, im Erdgeschoss ist eine Werkstatt und es wird eine riesige Maschine angeworfen. Doch als ich andere Leute erschrocken aus den Türen kommen sah, war mir klar was los war. Ich wusste nun nicht so recht, was ich machen sollte, wenn es schlimmer wird, aber glücklicherweise kam es so weit auch nicht.

Mein Fahrrad bekam ich mit über zwei Tagen Verzögerung mit geschweißter Gabel aus der Werkstatt. Ich hoffe, dass es halten wird. Den vorderen Gepäckträger und den Lowrider für die Packtaschen hat man so falsch wie es nur irgendwie ging wieder angebaut, so dass ich nochmals über eine Stunde dem Monteur Anweisungen geben musste, damit ich auch die Taschen wieder anhängen konnte. Mit solchem Zubehör hatten die Leute wohl noch nichts zu tun und ich verzeihe ihnen das gern, denn in Arequipa ließ es sich aushalten. Das ganze kostete dafür umgerechnet auch nur 8,40 Euro.

Gut eine Woche war ich insgesamt in Arequipa, und außer der sommerlich warmen Stadt, es war immerhin Winter hier, hatte ich auch eine sehr gemütliche und familiäre Pension, die zudem auch noch sehr preisgünstig war und im Zentrum lag. Nun folgte bis Lima die erste, gut tausend Kilometer lange Etappe durch die Wüste, die praktisch schon in Arequipa begann, und eine Fortsetzung der Atacamawüste in Nordchile ist. Nördlich von Lima erstreckt sie sich nochmals über 1.200 Kilometer bis etwa zur ecuadorianischen Grenze. Diese ganze Strecke durchzieht auch die Pan Americana, auf die ich vierzig Kilometer nach Arequipa traf. Die Anden schieben ihre Ausläufer oft bis in den pazifischen Ozean hinein, und nur in den Tälern mit ganzjährig Wasser führenden Flüssen oder auf ebenen Flächen, auf denen Bewässerung möglich ist, wird intensiv Landwirtschaft betrieben. Diese Taleinschnitte bedeuteten in der Regel, dass ich tief hinunter fahren musste und auf der anderen Seite ebenso weit wieder hoch. So hatte ich täglich zwischen 600 und 1.300 Höhenmeter zu fahren, doch ich war ganz gut drauf und erreichte auch noch im Tagesschnitt gut hundert Kilometer. Da ich Wüsten sehr liebe, war es für mich eine wunderschöne Etappe und ein großartiges Gefühl, als ich nach einer herrlichen Abfahrt wieder an den Pazifischen Ozean kam, den ich dann manchmal fast auf gleicher Höhe an der Seite hatte oder auf den ich von hoch oben hinunterschauen konnte. Vielfältig waren die Formen der Wüste. Mal Sand, mal nur Steine, dann wieder Ebene, die von mondartig aussehenden Bergen abgelöst wurde, dann wieder ein Wirrwarr von kleinen Hügeln in verschiedenen Farben und an anderen Abschnitten Formen wie große Wellen des Ozeans, oder bedrohlich aussehende, hohe schwarze Berge, deren Mulden und Spalten mit hellem Sand vollgeweht waren und vor allem bei tristem Wetter aussahen wie Sonne und Schatten. Ich fuhr entlang eines sehr hohen und kilometerlangen "Cerro Arena" (Sandberg), der steil zum Meer hin abfiel und an dem die Straße hoch oben entlangführte. Wunderschön leuchtete dieser in der Sonne, und dass man da überhaupt eine Straße bauen konnte, fand ich schon bemerkenswert. Ein Schaufelbagger war damit beschäftigt, den laufend auf die Straße gerieselten oder gewehten Sand über den Rand der Straße zu kippen. Dann wieder atemberaubende Straßenführung auf der felsigen Steilküste, wo die Straßenbauer ihre liebe Not mit dem porösen Gestein haben. Ich hatte immer Angst, es könnten mal die so lose herabhängend aussehenden Felsbrocken herunterkommen - kleinere Exemplare lagen genug auf der Straße. Dann wichen die Berge weiter zurück und machten Platz für etwas flacheres Gelände und damit ein einfacheres Strampeln. Fast beängstigend war ein Abschnitt, an dem der starke Wind (zum Glück nicht gegen mich) den Sand derart verwehte, dass ich die Sonne kaum noch sehen konnte und er eine Hälfte der Straße fast unpassierbar machte. Auf der anderen Seite musste ich in Schlangenlinien fahren, da "Sandzungen" die ganze Straße einnahmen. Nicht weit davon entfernt toste der Ozean und spülte seine Gischt an den Strand. Zum Landesinnern erstreckten sich kilometerweit die kleinen Sanddünen, über deren Kämme der Wind den Sand trieb. Ein andermal erweckte lautes Geschrei meine Aufmerksamkeit, so als ob eine Schulklasse im Strandbad wäre. Als ich näher an den Ort kam, sah ich unten im Meer eine kleine Felseninsel, die von lärmenden Seelöwen bevölkert war. Eine sonderbare und interessante Beobachtung machte ich über viele Kilometer auf 100 bis 250 Meter über dem Ozean: hier waren die verschiedenfarbigen Sandschichten an der Straßenböschung voll von unterschiedlichen Muscheln. Da fragte ich mich, ob diese in Urzeiten von starken Winden in diese Höhen verweht worden waren, oder ob sich die Erdschichten im Laufe der Zeit gegeneinander verschoben haben?

Der Küstenhochnebel, der um diese Jahreszeit der Sonne kaum Chancen gibt und es sehr kühl sein lässt, war sehr gnädig mit mir. Von den knapp drei Wochen hatte ich ihn nur dreieinhalb Tage, mit immerhin noch etwa zwanzig Grad. Ansonsten war es sonnig, wenn auch diesig, nur an einem Tag war der Horizont vom Ozean klar abgegrenzt.

Nach knapp sechshundert Kilometern hatte ich Nasca erreicht. Sehr bekannt geworden ist diese kleine Provinzstadt, durch die meist nur der Wind den Sand durch die Straßen fegt, durch die sogenannten "Nasca-Linien". Diese wurden in den zwanziger Jahren wiederentdeckt, und seitdem beschäftigen sich Wissenschaftler mit der Enträtselung dieser gigantischen Bodenbilder und Linien, die wegen ihrer Größe nur vom Flugzeug aus ganz gesehen werden können. Mittlerweile weiß man, dass sie eine Hinterlassenschaft des Nasca-Volkes sind, das von etwa 200 vor bis 600 nach Christus den Süden Perus besiedelte. Nicht geklärt ist allerdings die Frage, welchem Zweck die Linien von Nasca dienten. Sie entstanden vor ungefähr zweitausend Jahren und stellen nicht nur Menschengestalten oder Tiere wie Kolibris, Kondore oder Fische dar, sondern auch Spiralen, geometrische Figuren oder einfach nur gerade Linien.

Obwohl ich einen Rundflug über das Gebiet für fünfunddreißig US-Dollar gebucht hatte, war es mir letztendlich doch nicht vergönnt, die Linien von oben zu sehen. Am ersten Tag wurde ich zum Flugplatz gebracht und zunächst in den Videoraum gesetzt, um mir Informationen über die Nasca-Linien in englisch anzusehen. Als der Film zu Ende war, wehte der Wind derartig, dass alle Flüge gestrichen wurden. Die Stadt sah vor Sand und Staub fast aus wie im Nebel. Am nächsten Morgen wollte ich eigentlich weiter fahren, doch mit dem Versprechen, um zehn Uhr fliegen zu können, verschob ich meine Abfahrt. Zusammen mit vier weiteren Touristen wurde ich wieder zum Flugplatz gebracht und hier erklärte man uns, dass es nicht sicher sei, ob wir heute überhaupt fliegen können, weil eine Gruppe vom Vortag noch "abgearbeitet" werden musste. So fuhr ich mit einem deutschen Paar zurück zur Agentur, wo uns das Geld erstattet wurde. Nun kamen wir auf die Idee, in der Hotelagentur zu fragen, ob diese uns einen Flug bis spätestens 12.30 Uhr sichern könnte, dies wurde uns nach Rückruf auf dem Flugplatz hundertprozentig zugesichert. Wir buchten also für zehn Dollar mehr und wurden wiederum zum Flugplatz gebracht, um dort zu erfahren, dass ein Flug frühestens um drei möglich sei. Der Chef der Agentur zahlte uns vor Ort das Geld zurück. Das nennt man Desorganisation! Die beiden anderen Frauen meiner Gruppe vom Morgen hatten einen erfolgreicheren Weg gewählt, ich erfuhr später von ihnen, dass sie sich auf die Warteliste hatten setzen lassen und dann um 13.00 Uhr tatsächlich fliegen konnten! Schade, ich wäre auch gern mal mit einem so kleinen Flieger geflogen.

So fuhr ich dann am frühen Nachmittag los, um den fünfzig Kilometer entfernten Ort Palpa zu erreichen. Unterwegs, so wusste ich, gibt es direkt an der Pan Americana einen Aussichtsturm, von dem aus ich zwei Figuren und einige geometrische Formen sowie Linien sehen konnte. Auch von einem kleinen Hügel neben der Pan Am konnte ich viele Linien sehen, die genau von diesem Hügel ausgingen und sich über Kilometer dahinzogen. Auf der weiteren Fahrt besuchte ich noch das kleine Museum mit Wohnung und Mausoleum der aus Dresden stammenden Maria Reiche, die dort im hohen Alter verstorben ist und sich einen Großteil ihres Lebens wissenschaftlich mit den Nasca-Linien beschäftigt hat.

Wunderschön war die Gegend um die Stadt Ica, wo der beste Wein für Perus Pisco wächst. Viele Kilometer fuhr ich durch ein sehr breites, flaches und grünes Tal mit großen Feldern, welches von Bewässerungsgräben durchzogen war. Am Rande türmten sich dann, wie aus dem Bilderbuch, hohe Sanddünen auf, und sogar im Stadtbereich von Ica gibt es zwei solcher Dünen. Nur fünf Kilometer von Ica liegt die Oase Huacachina, die rundum von Sanddünen umgeben ist. Es ist natürlich keine einsame Oase, viele Touristen haben sie in ihrem Programm und entsprechend gibt es auch Hotels in vielen Preisklassen. Die Mitte der Oase durchzieht eine Lagune, und von der hundertzwanzig Meter hohen Düne unmittelbar hinter meiner Herberge hatte ich einen wunder-schönen Blick auf die unendlich scheinende Wüstenlandschaft auf der einen und auf das grüne Tal um Ica auf der anderen Seite. Einen riesigen Spaß machte es, die Düne einfach herunter zu laufen. Auch Sandboarding wurde in Huacachina angeboten, ich zog aber die Hängematte unter den Zitronenbäumen vor.

Mein nächstes Ziel war die Halbinsel Paracas mit den vorgelagerten Islas Ballestas. Von Paracas machte ich eine Fahrt mit dem Schnellboot zu den Inseln, die sehr stark unterhöhlt sind und aus mancher Perspektive wie auf Stelzen stehend wirkten. Hunderttausende von Seevögeln, unter ihnen auch Pinguine, sowie große und kleine Seelöwen-Kolonien bevölkern die Inseln. Vor allem die Seelöwen fand ich sehr interessant, sie lagen dicht an dicht, kleine und große, sowie riesige Bullen, neben- oder fast übereinander auf den kleinen Stränden und machten einen höllischen Lärm.

Eine kleine Rundfahrt im Nationalreservat auf der Halbinsel wollte ich mit dem Rad machen, brach sie aber wegen zu starkem Gegenwind ab und radelte frühzeitig in die dreißig Kilometer entfernte Stadt Pisco weiter. Pisco ist ein Schnaps und wird aus Weintrauben hergestellt. Er ist das Nationalgetränk von Peru und auch Chile und wird hauptsächlich als Cocktail, dem Pisco Sour, getrunken. Eiweiß, Saft von Limonen, Eiswürfel, Pisco und Zuckersirup wird zusammen im Mixer gemixt und ist dann wie eine Schaummasse, die im Glas serviert wird. Obenauf noch etwas Zimtgewürz, und es schmeckt sehr lecker.

Von Pisco hatte ich nur noch zweihundertdreißig Kilometer nach Lima, davon hundertfünfzig Autobahn. Ich weiß nicht, wie hier wohl die Statistik über Verkehrstote aussieht, aber als Radfahrer habe ich manchmal Angst, wenn ich die vielen Kreuze und kleinen Altäre an der Straße sehe. An vier je zehn Kilometer langen, unterschiedlichen Streckenabschnitten habe ich die Unfalltoten gezählt, von diesen stammen über achtzig Prozent aus den letzten siebeneinhalb Jahren: auf einer schnurgeraden Straße waren es zehn, gemischte Strecke mit Ortsdurchfahrt = 19, mit Vororten der Stadt Ica = 37 und Autobahn = 23. Das wären pro Kilometer 2,2 Tote! Es verwundert aber nicht, denn die Autos sind technisch oft in miserablem Zustand. Allein schon die Bereifung: Dass bei so manchem Reifen das Leinen durchschaut, ist nichts Ungewöhnliches, und total glatte Reifen sind fast normal. Die Exemplare, die ich vor Vulkanisierbetrieben sah, ließen mich erschaudern. Nachts wird wegen falsch eingestellter Scheinwerfer geblendet und wegen einer Ortsdurchfahrt geht kaum einer vom Gaspedal. Das gilt für Pkws, Lkws und für Busse!

Was den internationalen Verkehr angeht, hat mich immer gewundert, dass es ihn in Argentinien und Chile nur im geringen Umfang gibt und in Bolivien und Peru so gut wie gar nicht.

Schlimm finde ich es nach wie vor, wie mit dem Müll umgegangen wird. Entlang der Pan Americana, immerhin auch Traumstraße der Welt genannt, schließt an das Asphaltband zu beiden Seiten eine Müllzone an. Es ist selbstverständlich, Flaschen und die Verpackung anderer Lebensmittel direkt nach dem Verzehr durch das Autofenster zu entsorgen. Da ist es wieder gut, dass es sich meist um Plastikflaschen handelt, denn so manche ist mir schon vor die Reifen gerollt. Und wenn es mal nicht geschmeckt hat, fliegen fein zugeknotete Plastiktüten mit den Resten auf die Straße, worüber sich wiederum streunende Hunde freuen, die diese Tüten wieder aufreißen, um an die "Köstlichkeiten" zu kommen. In Bussen werden Babys gewickelt und wohin mit den neuzeitlichen Pampers? Klatsch, auf die Straße. Aber nicht nur Einzelmüll verunziert die Landschaft, im großen Stil werden auch die Abfälle aus Reisebussen, wie Plastikbestecke und -becher, Styroporverpackungen usw. sowie auffallend viele Konservendosen entsorgt. Trifft man auf freier Strecke auf Restaurants oder Kioske, so kann man sicher sein, dass gleich ein paar Meter weiter der Abfall verteilt herumliegt. In Städten und Dörfern können die Flussbette, wenn sie schon fast kein Wasser führen, wenigstens den Müll aufnehmen. Sind solche nicht vorhanden, will man keine weiten Transportwege, sondern der Müll wird unmittelbar am Ortsrand ins Gelände gekippt, wo ihn dann der Wind verteilt. Die Straßen in den Ortschaften und Städten sind zwar relativ sauber, zumindest solche, die sich leicht fegen lassen, aber es sind auch immer Leute mit dem Besen unterwegs.

Für meine Tagesetappen hatte ich immer genug Lebensmittel und Wasser bei mir. Auch wenn es öfter Gelegenheiten gab, mich in größeren Dörfern wieder neu einzudecken, fuhr ich oft durch Abschnitte von fünfzig bis achtzig Kilometern, wo es absolut nichts gab, außer völlig vegetationslosem Wüstenland. Übernachtet habe ich aus Sicherheitsgründen meist in Pensionen, aber gleich die erste Nacht verbrachte ich neben einer Tankstelle, die einsam auf freier Strecke stand, in einem leer stehenden und halb verfallenem, ehemaligen Restaurant. Weil draußen nur ebene Wüste ohne Deckung war, kam mir dies gerade recht und ich fragte den Tankwart, ob ich dort schlafen könnte. Da die Tankstelle 24-Stunden-Service anbot, wähnte ich mich sicher, weil erstens jemand da war und zweitens der ganze Platz hell erleuchtet war. Doch noch vor acht Uhr stellte der Tankwart den Generator ab und es war rundum stockfinster. Das war jetzt etwas unheimlich, weil ich auch nicht wusste, wem der Tankwart von meiner Übernachtung erzählt hatte. Es gab immerhin einige Leute, die er zu kennen schien. Der Lärm der vorbeifahrenden Lkws und Busse verstärkte sich in dem großen, mit Western-Girl-Bildern bemalten Raum unheimlich stark, und nachts hörte ich mehrmals ein dumpfes, unregelmäßiges Hämmern, was sich aber am nächsten Morgen nur als eine Klappe von den angrenzenden Tankstellen-Toiletten erwies, die der Wind manchmal bewegte. Ich war aber richtig froh, als die Nacht vorbei war.

In Yauca, am Rande eines breiten Tales voller Olivenbäume, von denen die Leute dort leben, kam ich wieder einmal in einer Hospedaje unter, in einem Raum, in dem weder ein Fenster vorhanden war noch irgendeine Möglichkeit, dass durch die Tür Licht kommen konnte. Strom gab es von sieben bis neun Uhr abends, im "Servicio Higiénico" (Dusche/Toilette) zum Duschen wieder mal nur kaltes Wasser, und in der Toilette musste das Wasser aus einer großen Tonne geschöpft werden, um per Hand zu spülen. Da zog ich doch die einfachen Verhältnisse bei meinen vorigen Wirtsleuten bei weitem vor!

Nur einmal übernachtete ich im Zelt oberhalb der Küste, versteckt zwischen kleinen Sandhügeln, und fühlte mich sehr wohl. Es ist in dem Wüstengelände meist schwierig, einen versteckten Platz zu finden: entweder ist das Gelände flach und man hat keine Deckung oder es ist unmöglich, das schwere Rad durch den Sand zu schieben, um weit genug von der Straße zu sein. Auch in der Nähe des Strandes mag ich nicht zelten, selbst wenn ich Deckung hätte, denn durch die Brandungsgeräusche könnte ich wiederum nichts hören, falls sich doch jemand dem Zelt nähern würde.

Und somit näherte ich mich unweigerlich Lima, der Stadt, auf die ich mich überhaupt nicht freute, doch ich konnte sie nicht umfahren. Mit ca. acht Millionen Einwohnern und der Hafenstadt Callao innerhalb Limas mit nochmals 700.000 Einwohnern ist es ein richtiger Moloch von Stadt, der kreuz und quer von sechsspurigen Stadtautobahnen durchzogen wird und in der zwischen Mai und Oktober so gut wie nie die Sonne scheint. Dazu dann noch die gewaltigen Abgase, die wegen des Hochnebels nicht abziehen können. Fürchterlich nervend fand ich das aggressive Gehupe. In langer Schlange vor der Ampel stehend, wird gleich wie verrückt gehupt, sobald die Ampel auf grün springt. Die Taxifahrer fahren sowieso immer hupend (tut tut – tut tut) durch die Stadt, um zu signalisieren, dass sie Fahrgäste aufnehmen können. Das historische Zentrum um den Hauptplatz, die Plaza de Armas, mit der Kathedrale und wunderschönen alten Kolonialbauten mit holzgeschnitzten, geschlossenen Balkonen, die über das ganze Stockwerk reichen, ist sehr schön. Es gibt aber nur wenige Stadtteile, die als sicher gelten und dazu gehört n i c h t die historische Innenstadt, in der ich gewohnt habe. Der Stadtteil Miraflores an der Steilküste, weit von der Innenstadt entfernt, sowie die angrenzenden Stadtviertel gelten als sauber und relativ sicher. Ansonsten wird man immer wieder von den Einheimischen darauf aufmerksam gemacht, keine Wertsachen mit sich zu führen (das fängt schon mit normalen Armbanduhren an), nicht in bestimmte Vierteln zu gehen und nachts nur mit dem Taxi zu fahren. Aber essen konnte ich gleich um die Ecke sehr günstig und hatte mehrere Gerichte zur Auswahl, die ich alle gern mochte. Für ca. einen Euro ein Menü, mit Suppe, einem Getränk und Hauptgericht, wie z.B. "Lomo Saldato", mein Lieblingsgericht. Das war geschnetzeltes Fleisch mit Knoblauch, Reis, angebratenen Zwiebeln, Tomaten, Paprika, Lauch und, darunter gemischt, Pommes Frites. So hatte ich ein gesundes Essen.

Die Sicherheit scheint in ganz Peru ein Problem zu sein, denn immer wieder wurde ich auch auf der Strecke darauf aufmerksam gemacht, sehr vorsichtig zu sein, da sich viele Räuber herumtreiben. Fabrik- und große Firmengelände sind meist ummauert, haben mehrere Wachtürme mit Scheinwerfern, und in so manchem kleinen Laden bekommt man die Ware nur durch Gitter gereicht. Lkws haben an der Rückfront oft Dornengestrüpp hängen, damit niemand im toten Winkel des Fahrers an die Ladung kommen kann. Nach den Vorfällen am ersten Tag in Peru habe ich aber keine negativen Erfahrungen mehr gemacht, sondern nur immer nette Leute getroffen. Doch unterschwellig ist eine gewisse Angst vorhanden, was aber andererseits gut ist, um nicht unvorsichtig zu werden.

Nach Lima beginnt nun die zweite Wüstenetappe und ich freue mich schon, wenn ich etwa dreihundert Kilometer nördlich von Lima den Küstennebel hinter mir lasse und nur noch Sommerwetter haben werde. Zuvor aber werde ich höchstwahrscheinlich noch einen Schwenker nach Huaraz machen, vierhundert Kilometer nordöstlich von Lima und auf 3.100 Metern gelegen, ins Tal zwischen der Cordillera Negra und Cordillera Blanca, mit ihren vielen, mit Gletschern bedeckten Sechstausendern.

Bis zum nächsten Bericht, der wohl aus Ecuador kommen wird, herzlichen Gruß an alle Interessierten,

Hans Windisch


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