Von Feuerland zur Karibik

Von Feuerland zur Karibik


6. Reisebericht:   Salta (Argentinien) – La Paz (Bolivien)

Eine Woche hielt ich mich in Salta auf, und die ersten Tage wirkten richtig herbstlich, denn nach langer Zeit wolkenlosen Himmels unterwegs war es hier nun einige Tage bewölkt und viele Straßenbäume hatten bereits ihr Laub verloren. Ich wohnte sehr angenehm bei einer netten Familie. Leichte Probleme gab es nur mit den zwei sonst sehr lieben Hunden auf dem Hof: Für den großen war es ein Leichtes, durch das offene Fenster zu springen und über mein Bett zu laufen, meine Lebensmitteltasche auszuräumen und im Zimmer zu verteilen. Es war aber nichts Rechtes für ihn dabei, weil ich meine Frühstücksutensilien gerade mit in der Küche hatte und Reis und Spaghetti dann doch nicht nach seinem Geschmack waren.

Salta, eine Stadt mit 280.000 Einwohnern im Norden Argentiniens, hat mir sehr gut gefallen. Viele alte Kolonialbauten mit schönen Balkons und eine wunderschöne Kathedrale, und nicht weit vom Zentrum ein Aussichtsberg, den ich bequem mit der Seilbahn erreichen konnte, und der von oben einen wundervollen Überblick über Umgebung und Stadt bietet. Diese liegt in einer Ebene und ist, außer zum Süden, von bewaldeten Bergen umgeben, die im Westen sehr hoch aufragen. Die Preise waren auch hier für unsere Verhältnisse äußerst günstig, zum Beispiel in einem guten Lokal 1,40 € für sehr gut schmeckende Ravioli in Rahmsauce. Über eine Eigenart vieler Autofahrer habe ich mich gewundert: sie fahren ohne Licht und nur, wenn sie an eine Kreuzung kommen, wird es kurz eingeschaltet und sofort wieder aus, noch bevor sie die Kreuzung verlassen haben. Von den Radfahrern hat sowieso keiner eine Lichtanlage an seinem Rad und dazu fahren sie oft zu zweit oder dritt auf einem Rad. Lustig fand ich, dass bei jüngeren Leuten die Frau meist vorne auf der Stange saß, während bei den Älteren die Frau ihren Platz auf dem Gepäckträger hatte.

An einem Nachmittag lud mich der deutsche Konsul, Dr. Hans Werner Graefe, in sein Hotel in San Lorenzo ein. Der Ort, der am Fuße der Berge im Westen liegt, hat ein völlig anderes Klima, obwohl nur zwanzig Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Es fällt hier mit 1.400 mm Regen im Jahr doppelt soviel wie in Salta selbst. Die Bäume sind mit Flechten und Moosen bewachsen und es gibt zahlreiche Vogelarten dort: so lebt hier zum Beispiel der kleinste Kolibri, der nur auf eine bestimmte Blume spezialisiert ist.

Nachdem ich meinen Lebensmittelvorrat wieder aufgefrischt hatte, konnte ich meine nächste Etappe Richtung Bolivien starten. Von zwei Möglichkeiten, in die nächste Provinzhauptstadt San Salvador de Jujuy zu kommen, wählte ich die kleinere Strasse. Nachdem ich erst mal aus dem Einzugsbereich Saltas raus war, war es angenehm zu fahren, denn es war wenig Verkehr und die schmale Asphaltstrasse schlängelte sich oberhalb des breiten Flussbettes in vielen Kurven am Berghang mit ständig leichter Steigung dahin. Viele kleine und große Schmetterlinge flatterten durch das satte Grün. Als ich gerade meine Mittagspause machen wollte, hielt ein Pick Up und bot mir an, mich bis Jujuy mitzunehmen. Solche Angebote wollte ich bis La Paz nicht mehr ausschlagen, und so wurde das Rad mitsamt den Taschen auf die auf der Ladefläche liegenden Gasflaschen gepackt (und eingeschmiert) und ich quetschte mich mit ins kleine Führerhaus. Nach nur etwa drei Kilometern wurde die Passhöhe angezeigt und es ging auf der anderen Bergseite mit einer ganz anderen, urwaldähnlichen Vegetation in unendlich vielen Kurven an steilen Berghängen mit leichtem Gefälle entlang. Dies konnte ich nicht lange mit ansehen und bat den Fahrer, mich wieder abzusetzen, was allerdings dann auch bedeutete, die restlichen gut vierzig Kilometer nach Jujuy selbst fahren zu müssen. Hier, in der Provinzhauptstadt der nördlichsten argentinischen Provinz, reichte dann noch die Zeit für einen Stadtbummel und Abendessen in einem guten Restaurant. Landschaftlich liegt Jujuy sehr schön, eingerahmt von dicht begrünten Hügeln, die durch die vielen Einschnitte sehr abwechslungsreich sind. Im Westen ragen Berge mit über 5.500 Meter auf. Am nächsten Tag ging es bei strahlendem Sonnenschein weiter in die wegen der Farbenvielfalt ihrer Berge bekannte Quebrada Humahuaca (Quebrada: Schlucht, Klamm oder enges Tal) und damit in den nächsten Tagen immer höher auf das Hochland der Puna mit über 3.500 Meter. Wegen Bauarbeiten, die aber wohl schon seit längerem ruhen, gab es immer wieder längere Abschnitte von Schotterstrassen. Die schöne hügelige Landschaft setzte sich auch hier fort, und den größten Teil des breiten Talbodens nahm der Rio Grande mit seinem Schotterbett ein. Etwas wehmütig war mir, wenn ich die seit etwa fünf Jahren stillgelegte Eisenbahnlinie sah, die die Strasse begleitete und auf der der amerikanische Schriftsteller Paul Theroux Richtung Patagonien fahrend seinen "Patagonien Express" geschrieben hatte, den ich mit Begeisterung gelesen hatte. Manchmal hingen die Schienen samt Schweller über kleine ausgespülte Schluchten, und oft waren sie bereits mit Gebüsch zugewachsen. In manchen kleinen Bahnhöfen standen noch Waggons herum und vermittelten den Eindruck, als gäbe es noch den Eisenbahnverkehr. Der argentinische Staat hat ja die ziemlich bankrotten und veralteten Bahnanlagen den Provinzen übertragen, und diese legten aus Geldmangel fast alle Bahnlinien still. Über den argentinischen Straßenbau wunderte ich mich oft. Während hier zum Beispiel die alte Schotterstrasse im ebenen Talgrund verläuft, wurde eine neue an den Steilhang gebaut. Sie hat dadurch wohl eine gleichmäßige Steigung, doch viel vom Berg musste abgetragen werden und die nachgerutschten Erd- und Geröllmassen haben sie an mehreren Stellen bereits wieder verschüttet, und inzwischen ruht auch dieses Projekt schon lange wieder.

Nach einer Übernachtung als einziger Gast in einer Pension im Dorf Tumbaya, welches einen großen Friedhof hoch über dem Dorf mit großen Grabhäusern hat, fuhr ich anfangs im kalten Schatten hoher Berge die Quebrada weiter gen Norden. Nach etwa zwanzig Kilometern kam die Abzweigung zu dem drei Kilometer entfernten Dorf Purmamarca, berühmt für die "Berge der sieben Farben": die niedrigeren Hügel haben wunderschöne Farbschichten vor der hohen Bergkulisse hinter dem Dorf aufzuweisen.

Dies wird natürlich touristisch ausgenutzt und von Salta und Jujuy werden hierher Fahrten organisiert. Rund um den Marktplatz gibt es deshalb auch Stände mit Souvenirs, Schals, Pullovern und anderen Dingen. Hier läuft aber auch die Strasse durch, die über zwei Salzseen zu dem 290 Kilometer entfernten Jama-Pass (4.200m) nach Chile führt. Auf dieser Strecke wurde zwei Wochen vor meiner Ankunft ein deutscher Fernradler von einem Auto tödlich verletzt und der Fahrer beging Fahrerflucht (Informationen vom Konsul).

Unterwegs besuchte ich noch das Museum "Posta Hornillos". Das Gebäude wurde 1772 gegründet und war Teil des Posthäuser-Systems zwischen Tucumán und Alto Peru. Hier wurden die Pferde gewechselt und die Reisenden fanden eine Herberge. Weiter auf der Strecke dokumentierte ein Monument, dass ich den "Trópico de Capricornio" (südlicher Wendekreis) überfahren hatte. Eigentlich wollte ich heute wieder einmal zelten, doch im Dorf Huacalera lockte eine schöne Herberge im spanischen Stil und ich konnte nicht wiederstehen. Ich war wieder der einzige Gast und der Wirt, der eigentlich Architekt ist und während der Woche in seinem Büro in Jujuy arbeitet, kochte ein vorzügliches Gericht mit dem sehr vitamin- und proteinhaltigen Inka-Getreide Quinoa. Er zeigte mir einen Bildband mit wunderschönen Bildern von den farbigen Bergen der Umgebung. Morgens fuhr ich auf seine Empfehlung erst einmal ein paar Kilometer zurück, um über eine Brücke auf die andere Flussseite zu kommen und von dort die wunderschönen, farbigen Erd- und Steinformationen im Hintergrund des Dorfes und die restaurierte Kirche aus der Kolonialzeit zu sehen.

Ein Dorf weiter, in Upia, gab es ebenfalls eine schöne kleine Kirche aus dem Jahre 1691 mit einem lehmgedeckten Dach zu sehen. Im Hauptort des Tales dann, in Humahuaca, 15 Kilometer entfernt, traf ich auf die wohl schönsten Farb- und Bergkompositionen, die man wahrscheinlich von einem davor liegenden Berg sogar noch besser genießen kann, aber diesen Aufstieg ersparte ich mir. Vielleicht hätte es vom Ort aus eine Möglichkeit gegeben, um ohne Rad auf diesem Berg zu kommen.

Langsam nahm die Strasse immer weiter an Höhe zu, und nur einmal gab es einen kräftigen Höhenschub mit einem steileren Abschnitt. Damit war ich dann auch schon wieder nur von fast kahler Landschaft umgeben und fand gerade noch einen Platz fürs Zelt mit genügender Deckung auf 3.525 Meter Höhe, wo ich viel Zeit für das Wegräumen der Steine und Einschlagen der Heringe investieren musste. Am Morgen, kurz bevor die Sonne über den Berg kam, fing die Taunässe auf dem Zelt noch an zu frieren.

Die Strasse stieg weiterhin an und immer wieder zeigten sich wunderschöne, farbige Bergzüge. Auch die Bahnlinie kreuzte oft die Strasse. Am frühen Nachmittag erreichte ich das Dorf Tres Cruzes (drei Kreuze) und aß im einzigen Gasthaus Mittag. Vier weitere Gäste saßen da, Männer um die dreißig, und kaum einer hatte noch Zähne im Mund, aber dicke Backen vom Kokablätter kauen. Der Ort hatte eine Bahnstation und es wirkte sehr trostlos, denn ein Zug fährt ja schon seit Jahren nicht mehr. Tres Cruzes hatte für mich eine besondere Bedeutung, denn hier sollte die tagelange Steigung ein Ende haben. Ein paar Kilometer allerdings musste ich noch nach oben, doch dann kündigte ein Schild die höchste Höhe mit 3.780 Metern an. Anschließend ging es sanft bergab und in dem 24 Kilometer entfernten Abra Pampa waren es nur noch 3.525 Meter Höhe, die dann aber bis La Paz nur einmal unterschritten wurden. Acht Kilometer vor Abra Pampa und etwa neunzig Kilometer vor der bolivianischen Grenze mündet die legendäre Ruta Cuarenta nach 4.600 Kilometern in die Ruta 9. Abra Pampa ist ein ziemlich großer, aber hässlicher Ort, verstärkt wurde dieser Eindruck durch die kahlen Bäume und dem tristen Graubraun der Lehmziegel, mit denen die meisten Häuser gebaut sind. Zwar hat der Ort eine lange, vierspurige Strasse, doch die Nebenstrassen sind alle unbefestigt und die still gelegten Bahnanlagen parallel zur großen Strasse spalten den Ort in zwei Teile. Hier in Abra Pampa hatte ich mich in einer Hospedaje einquartiert und konnte mich in meinem dunklen Zimmer mit Milchglasfenster zum finsteren Flur einmal mehr darüber ärgern, dass die Dusche nicht extra abgeteilt war, sondern einfach über Toilette und Waschbecken dahinplatschte. Noch dazu ist auch das Siel selten am tiefsten Punkt, was hier besonders schlimm war, denn das Wasser lief zum Teil ins Zimmer und trotz laufenden Wegziehens mit einem Gummizieher lief es immer wieder unter den anderen Installationen hervor und ich trug es mit meinen Gummilatschen ins Zimmer, was das Wohnen sehr ungemütlich machte.

Der nächste Tag fing blöd an. Erst funktionierte mein Kocher nicht, dann rief ich zu Hause an – Anrufbeantworter, als nächstes wollte ich das Rad bepacken und was hatte ich, einen Platten. Auch beim zweiten Anruf zu Hause hatte ich kein Glück. So startete ich etwas missmutig, um die letzten etwa siebzig Kilometer auf argentinischem Gebiet zu dem Grenzort La Quiaca zu fahren. Auf einer etwa vierzig Kilometer langen Ebene ging es erst zügig voran, doch dann kam ein elf Kilometer langes Schotterstück und der Wind frischte auf und bremste meinen Vorwärtsdrang. Schon von weitem sah ich den Ort, doch er wollte einfach nicht näher kommen, bis mich dann doch, endlich, am Ortseingang ein großes Schild begrüßte:

Bienvenido La Quiaca – Ushuaia 5.121 km

(Herzlich willkommen in La Quiaca. Von Ushuaia/Feuerland 5.121 km)


Nun habe ich also Argentinien von Süd nach Nord fast durchfahren, mit Ausnahme der Chile-Strecken. Auf meinem Tacho hatte ich 6. 535 Kilometer. Ein kleines Grenzdorf hatte ich erwartet, doch eine Kleinstadt mit etwa 20.000 Einwohnern empfing mich in La Quiaca auf 3.342 Metern Höhe. Es ist aber dennoch kein Ort, um lange zu bleiben, denn er bietet nichts Besonderes, und um diese Jahreszeit sind auf dieser Höhe auch die Bäume ohne Blätter und lassen so die Tristesse noch deutlicher erscheinen. Um mich noch gebührend von Argentinien zu verabschieden, blieb ich aber zwei Tage und drei Nächte in einer schönen Pension und zahlte nur 20,- Pesos (etwa 6,- €) für eine Art Appartement. Auch Frühstück war im Preis inbegriffen, für meine Verhältnisse aber kaum der Rede wert. Hier kann man wieder sehen, dass der Gegenwert, verglichen mit den billigeren Hospedajen, wesentlich höher ist, als es der Preis ausdrückt. In den Hospedajen gibt es normalerweise weder Handtuch, Seife noch Toilettenpapier und alles ist meist aufs einfachste eingerichtet, außerdem teilt man auch oft das Zimmer mit mehreren Personen.

Gleich am nächsten Tag besuchte ich Villazón, die bolivianische Grenzstadt mit 13.000 Einwohnern auf der anderen Seite des Flusses, die über eine hohe Brücke erreichbar ist. Ich wunderte mich sehr, dass ich einfach so, ohne Ausweisvorzeigen, nach Bolivien hinüber gehen konnte. Hier versorgte ich mich bei einer der vielen Wechselstuben mit der bolivianischen Währung, den Bolivianos. Nicht dahinter gekommen bin ich, warum viele argentinische Lastwagen in La Quiaca entladen wurden und die Ware, meist schwere Säcke, aber auch Kartons mit Konserven und andere Güter, von Hunderten bolivianischer Indígenas, Frauen und Männern, die etwa ein bis zwei Kilometer über die Grenze nach Villazón geschleppt wurden. An der Grenze musste jeder einen Zettel abgeben und an der Sammelstelle hieß es sich in die Schlange einzureihen, um für jedes geschleppte Gut seinen Lohn zu bekommen. Die meisten machten dies trotz der schweren Last im Laufschritt, zurück sowieso, um sich so schnell wie möglich wieder in die lange Schlange am Lastwagen einreihen zu können. Und das alles nur mit Latschen an den Füßen! Mir war eigenartig zumute bei diesem Anblick. Einen jungen Mann, der seine Last gerade auf einer Mauer abstellen musste um zu verschnaufen, konnte ich befragen. Fünfzig-Kilo-Säcke, in einem Tuch, welches vorne über der Brust zusammengeknotet wird, bringt er sieben Mal pro Tag für je 2,50 Pesos (ca. 0,85 €) nach Villazón. Nur ein paar junge Männer hatten ein Fahrrad zur Verfügung. Sie hatten den Sack entweder auf den Rücken gebunden und fuhren, das war natürlich das Schnellste (es war aber nicht nur Strasse, sondern auch abschüssiges Gelände), oder ihn über den Lenker gelegt und schoben das Rad. Für die Unternehmer muss sich diese Art des Zwischentransports wohl rechnen und für die vielen Träger ist es sicher die einzige Möglichkeit, etwas verdienen zu können.

Am Samstag, den 17. Mai 2003, nach knapp sechs Monaten Aufenthalt in den Ländern Argentinien und Chile, verließ ich Argentinien etwas wehmütig, weil mir vor allem dieses Land mit seinen vielfältigen Landschaften, den patagonischen Stürmen, den unendlichen Weiten (Argentinien ist knapp acht mal so groß wie Deutschland und 33 mal größer als Österreich) und nicht zuletzt wegen der Heiterkeit der Menschen sehr gut gefallen hat. Mit Bolivien bekommt das Reisen eine andere Qualität, vor allem, was die Sicherheit angeht, denn das Land ist nicht mehr so europäisch geprägt und die Weißen werden von der indígenen Bevölkerung nicht immer als Freunde angesehen. Was einen aber auch nicht verwundern darf, denn über Jahrhunderte hatten sie kein leichtes Leben unter der weißen Herrschaft. Doch wenn man mal als Gringo beschimpft wird, muss man sich möglichst gleich als Austriaco, Alemán oder Europäer zu erkennen geben, dies mildert die Aggressionen meist schon ab.

Gleich ein paar hundert Meter von meiner Pension traf ich zwei radelnde Brüder, Marc und Matt, 21 und 24 Jahre alt, aus Kanada. Nachdem wir feststellten, dass wir mit Uyuni und La Paz die gleichen Ziele hatten, beschlossen wir, erst einmal gemeinsam zu fahren. Sie waren in Salta gestartet und wollten bis Cuzco in Peru fahren und von dort wieder nach Hause fliegen. Die Grenzabfertigung war schnell erledigt, doch die Aufenthaltserlaubnis für Bolivien gab es nur für dreißig Tage. Dies sei generell an den Grenzen so und ich könne sie in La Paz oder einer anderen Stadt verlängern. Bald radelten wir aus Villazón hinaus, und schon kurz dahinter eine unangenehme Überraschung: statt der versprochenen Asphaltstrasse bis Tupiza nur Schotterstrasse – immerhin 96 Kilometer. Sie war dann allerdings meist ganz gut zu befahren, weil wir den Waschbrettabschnitten ausweichen konnten. Doch wenn uns LKWs passierten, fuhren wir im Nebel und ich mochte kaum atmen, so dicht war der Staub. Weil Tupiza etwa 500 Höhenmeter tiefer liegt als Villazón, hatten wir bald eine schöne Abfahrt vor uns und auch die Strasse war hier besonders gut, sodass wir sie richtig genießen konnten. Außerhalb eines kleinen Dorfes zelteten wir neben einem kleinen Flüsschen auf einem abgeernteten Feld und es war richtig schön, wieder einmal Gesellschaft beim Zelten zu haben. Durch das Flussbett, welches durch die Bäume regelrecht eingetunnelt war, wurden laufend Schafe, Ziegen, Esel und Kühe getrieben. Auch Kleinlaster durchfuhren es mehrmals mit hohen Maisstauden-Ladungen, obenauf noch Leute, die von den Ästen fast heruntergerissen wurden. Da Bolivien gegenüber Argentinien mit der Zeit um eine Stunde zurück ist, wird es leider wieder sehr früh dunkel, halb bis viertel vor sieben. Die Leute waren alle unheimlich nett und grüßten freundlich, aus dem Gebüsch heraus riefen oft die Kinder ihr "hola" (hallo), ohne dass ich sie sehen konnte. Erstaunt war ich auch, dass selbst Indígenafrauen von sich aus sehr interessiert nach unserem Woher und Wohin fragten, denn ich hatte eine große Zurückhaltung erwartet. So kann man angenehm überrascht werden! Etwas umstellen musste ich mich gegenüber meinen neuen Weggefährten. Abends, spätestens um acht, hatten sich beide schon ins Zelt verkrochen und morgens lief das Frühstück, für mich fast „heilig“, nur so nebenbei, ohne Kaffee oder Tee. Mittags machten wir Station in der Stadt Tupiza und deckten uns mit Obst und anderen Lebensmitteln ein, und weiter ging es durch eine sehr reizvolle Landschaft, jetzt aber auf einer äußerst schmalen Strasse, die mehr den Charakter eines Fahrweges hatte. Für den Abend fanden wir einen sehr schönen Schlafplatz auf der anderen Seite eines kleinen Flusses mit breitem Schotterbett. Das sind dann immer die Stellen, wo ich mit meinem schweren Gepäck richtig rackern muss. Böschung runter, über Schotter und durch Wasser auf die andere Seite, Böschung rauf und weiter über nicht fahrbares Gelände zum geeigneten Platz schieben. Am nächsten Morgen hatten wir noch sieben Kilometer relativ gemütliche Fahrt bis in das nächste Dorf, doch hier verkündeten uns einige Bewohner schon, dass uns ab jetzt eine etwa zehn Kilometer lange, kräftige Steigung erwartete. Sie hatten nicht übertrieben, denn es ging mit 8 – 15 Prozent kräftig zur Sache, von 3.300 auf 4.100 Meter. Es stellte sich bald heraus, dass ich mit Marc und Matt nicht mithalten konnte. Während ich sehr viel Gewicht mit mir herumschleppte, kamen die beiden mit je etwa den halben Kilozahlen aus. Allein ihre Mountainbikes wogen nur halb soviel und alles Übrige konnten sie untereinander aufteilen oder war ebenfalls auf ein Minimum beschränkt. Zum Beispiel war für sie selbst ein Wörterbuch überflüssig, obwohl sie kein spanisch konnten. Zum ersten Mal musste ich wegen der Steigung schieben und nicht etwa wegen schlechter Straßenverhältnisse. Vielleicht lag es auch mit an meinem Husten und einer leichten Erkältung. Weil ich es nicht gern mag, wenn andere auf mich warten müssen, hielt ich für den letzten Kilometer einen Bus an und war somit vor den beiden oben. Matt kam total kaputt oben an und am Straßenrand machten wir erst mal Mittag, Marc hat sogar gekocht. Es hielt ein Pick Up, der uns zwanzig Kilometer mitnehmen wollte. Wir lehnten erst ab, denn die Abfahrt wollten wir nun auch mit dem Rad genießen, aber die beiden Männer klärten uns auf, dass dies nur eine kurze Zwischenabfahrt sei und es anschließend laufend bergauf gehe. Das überzeugte uns, und so luden wir unsere Räder auf und kletterten ebenfalls auf die kleine Ladefläche. Der Fahrer fegte gleich wie ein Wilder über die schmale und kurvenreiche, schlechte Strasse am Berghang entlang, und nach einer kurzen Abfahrt kam tatsächlich gleich wieder eine sehr lange Steigung auf schlechtester Piste und wir waren richtig froh, das Angebot angenommen zu haben. Dann bogen unsere Fahrer ab und wir standen im dichten Schneegestöber und hatten bald wieder die nächste Steigung vor uns, auf denen auch Marc und Matt ihre Räder schoben. In einer Minenarbeitersiedlung fragten wir nach einer Unterkunft und durften in der Schule schlafen. Auf diese Zusage mussten wir allerdings über eine Stunde warten, weil der Dorfchef nicht im Lande war. Während dieser Zeit unterhielten wir uns mit der Dorfschullehrerin und anderen Leuten und es war lustig, denn immer wenn die Sprache darauf kam, dass ich bereits von Ushuaia auf Feuerland mit dem Fahrrad komme, gingen die Blicke der Frauen auf meine Oberschenkel. Ich hatte aber meine Regenhose an und sie konnten die vermeintlichen „Muskelpakete“ daher nicht sehen. Heiße Milch nach der Ankunft und am Abend Suppe und Nudeln mit Gemüse bekamen wir in dem spartanisch eingerichteten Speiseraum der Mineros und es war überall saukalt, doch die Tür machte kaum einer hinter sich zu. Es gibt eine kleine Mine hier, in der 36 Mineros arbeiten und metallhaltiges Gestein abbauen, und alle wohnen auch hier, z.T. mit Familien. Im Klassenraum schoben wir die Bänke zusammen (Sitz- und Arbeitsfläche in einem „Guss“, so wie wir sie bei uns nach dem Krieg auch hatten) und rollten unsere Schlafsäcke aus. Die Schule mit ihren zwei Räumen ist das einzige Gebäude im Dorf mit elektrischem Licht, welches mit Solarzellen gewonnen wird. Wir wurden aber gebeten, es nicht anzuschalten, um nicht den Unmut der anderen Bewohner hervorzurufen. Heizungen gab es trotz der Minusgrade nirgends, und neidvoll gaben uns einige Mineros zu verstehen, welche Privilegien wir genossen, da wir in der „warmen“ Schule wohnen durften, während in ihren Unterkünften nicht einmal Fenster eingebaut waren. Am nächsten Morgen durften wir in den Stollen mit hineingehen. Ohne Helm und mit wenig Licht, nur der erste Mann vorn und ein Minero hinter uns hatten schwache Lampen, stapften wir zwischen den Lore-Schienen entlang, zum Teil im Wasser, und schlugen mit den Köpfen gegen Leitungen oder Schellen an der Decke. Mir war nicht besonders wohl dabei in dem finsteren und wenig gesicherten Stollen. Wenigstens wurde es wärmer, je weiter wir in den Berg gingen.

Wieder auf der Strasse, wartete zur Einführung gleich wieder das nächste Steilstück. Beim Anblick dieser Steigung wurde mir fast schlecht, weil ich vom Tag zuvor noch kaputt war. So ging es die nächsten Stunden weiter, hoch rauf, tief runter, hoch rauf, tief runter und auch eine zwanzigprozentige Steigung hatten wir zu bewältigen. Schließlich einigte ich mich mit Marc darauf, getrennt weiterzufahren, denn es ist für mich stressig und zu anstrengend, wenn ich versuche, Anschluss zu halten und nicht mein Tempo fahren kann. Wir verabredeten uns in Uyuni, denn ich wollte ein Auto anhalten oder einen Bus nehmen, und ich machte erst mal alleine Pause. Bis zur nächsten, vierzig Kilometer entfernten Stadt Atocha gab es keines unter den wenigen überholenden Autos, welches Platz gehabt hätte. Es war aber auch nicht so schlimm, denn jetzt kamen nur noch wenige Steigungen. Eine kleinere Abfahrt auf dem Weg mündete kurioserweise in ein flaches, breites Flussbett mit wenig Wasser. Ich suchte vergeblich nach der Ausfahrt auf der anderen Seite, doch es gab keine, sondern das Flussbett war nun die Strasse, und die führte mal auf festgefahrenem feuchten, mal auf trockenem Sand und mal durch Wasser. Als Radfahrer konnte ich den Bahndamm benutzen, der den Fluss begleitete, und auf dem schmalen Steg neben den Schienen die verbleibenden fünf Kilometer bis Atocha fahren. Der Damm war etwa zwei Meter hoch und ich musste sehr aufpassen, dass ich nicht mit den Packtaschen an den Schwellern hängen blieb und dadurch das Gleichgewicht verlor. In Atocha führte die Strasse aus dem Flussbett heraus, über den Marktplatz und schon nach etwa 200 Metern wieder zurück in den „Bach“. Die Stadt selbst klebt hauptsächlich an steilen Hängen, hat am Fluss eine riesige Abraumhalde vom Bergbau und ist sehr hässlich. Aber zwei Herbergen gab es und somit fand ich ein Bett zum Schlafen. Ich beneidete die beiden Kanadier sehr, dass sie nun schon weit außerhalb der Stadt zelten würden, während ich in dieser dunklen Unterkunft hauste. Aber am Abend suchte ich ein Lokal, um zu essen, und wen treffe ich da? Marc und Matt. Die Freude war groß und sie ihrerseits meinten, dass ich wohl schon in Uyuni sei. Sie hatten ebenfalls vor, die nächste Etappe von etwa hundert Kilometern motorisiert zurückzulegen, und so bestiegen wir am nächsten Nachmittag gemeinsam einen Toyota-Jeep nach Uyuni. Wir wunderten uns, dass immer mehr Leute einstiegen, wo der Wagen schon übervoll war und wir doch Plätze reserviert hatten. Doch es hatte seine Richtigkeit und ist für dortige Verhältnisse normal, und so mussten wir uns mit hinein quetschen. Mit Fahrer waren wir dreizehn Personen und saßen wie die Heringe in dem kleinen Kasten. Oben auf dem Dachgepäckträger Säcke, Kartons, unsere Packtaschen und die üblichen Gebinde der Indígenas, darauf dann noch unsere drei Fahrräder. Es war alles andere als bequem, und bald wippten wir für etwa 25 Kilometer im Flussbett auf und ab. Die „Strasse“ im Flussbett fand ich allerdings sehr interessant, denn oft musste der Wasserlauf gekreuzt werden und Wasserfontänen spritzten nach allen Seiten. Nachdem wir das Flussbett verlassen hatten und die niedrigen Berge hinter uns zurückblieben, waren wir schließlich auf dem Altiplano angekommen, der weiten Hochebene, die sich über 800 Kilometer bis nach Peru hinein erstreckt. Hier hätten wir mit den Rädern arg mit Sandpisten und Wind zu kämpfen gehabt: über einen längeren Streckenabschnitt hatte der starke Wind die Piste total zugeweht und Männer waren dabei, den Weg für einen Bus und einen LKW frei zu schaufeln. Unser Jeep mit Vierradantrieb konnte die Stellen umfahren. Kurz vor Sonnenuntergang kündigte sich die nahe Kleinstadt Uyuni schon durch tausende von Plastiktüten an, die sich in dem niedrigen Strauchwerk verfangen hatten. Diese stammten von den Müllkippen, die es meist vor den Städten gibt. Es werden aber nicht etwa Gruben ausgehoben, sondern der Müll einfach ins Gelände gekippt und der Wind hat dann leichtes Spiel, den Wohlstandsmüll zu verteilen.

Uyuni ist ein langweiliges Nest, und außer einigen geteerten Hauptstrassen sind die meisten Strassen unbefestigt und meist voller Müll. Weil sich aber auch viele Touristen wegen des Salzsees Salar de Uyuni hier herumtreiben, gibt es gute Restaurants, die sogar beheizt sind. Marc und Matt hatten nicht vor, den Salar mit dem Rad zu überqueren, sondern buchten eine Tour für 25 US-Dollar mit dem Jeep. Ich schloss mich an, weil ich sehen wollte, ob ich den See mit dem Rad befahren kann und ob die Strecken markiert sind. Gut zwanzig Kilometer sind es bis zum Dorf Colchani, von wo aus es auf den Salar geht. Anfangs noch auf holpriger Lehmpiste, nimmt später das Salz immer mehr überhand und schließlich fährt man nur noch auf festem, weißen Salz. Ein großartiger Anblick! Als erstes fuhren wir das ehemalige Salzhotel an, welches ganz und gar, samt Inneneinrichtung, aus Salzstein gebaut ist, nur das Dach ist aus Stroh oder Schilf, und in dem man auch noch für 30,- US-Dollar übernachten kann. Von hier ging es ca. eine Stunde weiter zur Insel Pescado, einer Felseninsel mitten im Salz mit vielen riesigen Kakteen. Ein Kaktus davon soll 1.200 Jahre alt sein, denn er ist zwölf Meter hoch, und diese Kakteenart wächst nur einen Zentimeter pro Jahr. Hier auf der Insel traf ich vier Fernradler, von denen ich drei schon kannte: die Schweizer Cornelia und Daniel hatte ich bereits in Patagonien getroffen und mit Lance, einem Australier, hatte ich in einer Herberge im chilenischem Seengebiet ein Zimmer geteilt. Wir hatten uns viel zu erzählen, und so wurden aus den verabredeten dreißig Minuten Aufenthalt anderthalb Stunden. Die Rückfahrt bei tief stehender Sonne war wunderbar, denn dadurch kamen die vieleckigen Ausblühungen des Salzes besonders zur Geltung (das Salz hat in diesem Muster enge Spalten, an denen sich feine Salzkristalle bilden, die ein bis zwei Zentimeter über das übrige Salz herausragen), und kurz vor Sonnenuntergang leuchteten sie rosa.

Nachdem ich nun bereits auf dem Salar de Uyuni war und in einigen Wochen auch noch mit meiner Frau in unserem gemeinsamen Urlaub dorthin wollte, war ich am Überlegen, ob ich mit Marc und Matt direkt Richtung La Paz fahren sollte oder nicht. Ich konnte aber mit den beiden wieder nicht mithalten, und so kauften wir in Cochrani noch gemeinsam Obst, und nach ein paar Abschiedsfotos nahm ich Kurs auf den Salar. Beim Salzhotel traf ich die vier Radler auf ihrem Weg nach Uyuni wieder. Etwa eine Stunde saßen wir noch zusammen und Marina, eine Deutsche mit Motorrad, und ihr amerikanischen Bekannter John gesellten sich noch hinzu. Eigentlich wollte ich gern zur Insel Pescado kommen, um dort zu übernachten, doch nachdem die anderen Radler mir die angenommenen 65 Kilometer bis dorthin bestätigten, musste ich mich aufs Zelten einstellen. Einige Kilometer fuhr ich noch auf den Fahrspuren Richtung Insel, doch dann änderte ich meinen Kurs und fuhr direkt Richtung Nordwesten, mit dem 5.432 Meter hohen Vulkan Tunupa als Orientierung. An dessen Westseite liegt das Dorf Tagua, von dem aus ich wieder auf die Hauptstraße Uyuni – La Paz stoßen wollte. Es war ein erhabenes Gefühl, auf dieser weiten, ebenen und weißen Fläche auf 3.650 Meter Seehöhe zu fahren und das leise Knirschen der Salzausblühungen zu hören. Um fünf Uhr, nach vierzig Kilometern auf dem See, machte ich schon Feierabend, um diesen Abend zu genießen und baute mein Zelt auf. Zum Glück hatten mir zuvor die anderen Radler einen Stein mitgegeben, denn ohne diesen Stein hätte ich keinen einzigen Hering in das steinharte Salz bekommen. Es ist ohnehin nur in diesen schmalen Spalten mit den Ausblühungen möglich. Am Abend war ich unwahrscheinlich glücklich darüber, dass mich das Tempo der beiden Kanadier doch auf den Salar gebracht hatte, denn so hatte ich das größte Erlebnis meiner ganzen bisherigen Reise. Ich allein und als winzig kleiner Punkt in dieser unendlichen weißen Weite, wo zum größten Teil das Salz den Horizont markierte und in der Ferne Berge herauswuchsen. Ich drehte mich im Kreise und konnte von der Faszination nicht genug bekommen, die dieser größte Salzsee der Welt auf mich auslöste. Ich ging weit weg vom Zelt und sah, wie klein dieses in dieser Weite wirkte. Ich machte mit meinem immer länger werdenden Schatten Schattenspiele und hatte mein Vergnügen daran. Kurz vor Sonnenuntergang schimmerten die Salzausblühungen golden und warfen als Kontrast zarte Schatten, unmittelbar danach verfärbte sich der Himmel im Osten tief blaugrau wie bei aufziehendem Gewitter. Das Allergrößte dann, der nächtliche Sternenhimmel. Von Horizont bis Horizont unendlich viele Sterne. Tief im Norden, auf dem Bauch liegend, grüßte der Grosse Wagen von der nördlichen Halbkugel, und, fast in der Milchstrasse, das "Kreuz des Südens". Es sah aus, als ob die Sterne auch auf dem See liegen. Mein Zelt hatte ich extra nach Osten ausgerichtet, um morgens gleich die Sonne im Zelt zu haben, hatte aber leider nicht bedacht, dass hier Winter ist und somit die Sonne erst im Nordosten aufgeht. Also drehte ich am Morgen kurzerhand das Zelt, so dass die Sonne die paar Minusgrade im Zelt schnell aufwärmen konnte.

Gern wäre ich noch einen Tag geblieben, doch mein Wasservorrat hätte nicht gereicht, und so brach ich am frühen Nachmittag auf, um zu dem schätzungsweise dreißig Kilometer entfernten Dorf zu kommen. Weit entfernte Berge verschwanden auf dieser Fahrt langsam hinter mir unterm Horizont und neue tauchten vor mir auf. Mit meiner Schätzung lag ich allerdings total daneben, denn mein Orientierungsvulkan wollte einfach nicht näher kommen, und nachdem ich nach 63 Kilometern fast am Ufer war, war es stockfinster und ich konnte weder das Dorf ausmachen noch einen sicheren Weg nach draußen finden, weil es anfing matschig zu werden. So fuhr ich wieder ein Stück zurück auf das feste Salz und stellte mit Hilfe meiner Stirnlampe das Zelt erneut auf das Salz. Am nächsten Morgen konnte ich das Dorf sehen und es war kein Problem, vom Salar zu kommen. Die weiterführende Straße war ein Fahrweg mit vielen Steinen und sandigen Abschnitten. Volle drei Tage brauchte ich, um auf die Hauptstraße zu kommen. Der letzte Tag davon hatte es in sich und ich kam wieder voll in die Finsternis: es zeigte sich wieder einmal, dass man sich auf Kilometerangaben der Einheimischen nicht verlassen sollte. Weil sie lieber was Nettes sagen, untertreiben sie meist - und ehrlich gesagt, man hört es auch lieber. Ich durchquerte gerade eine große Ebene und die breite Furt des Rio Marques mit viel Wasser und Sand und holte mir nasse Füße, als mir zwei junge Männer begegneten, die sagten, fünfzehn Kilometer seien es noch bis zum Dorf Chattapata, meinem Tagesziel. Ich hatte 28 km auf meinem Tacho und es war gerade erst Mittag. Genau ab hier ging es aber mit mieser Straße los. Was von weitem wie Asphalt aussah, war in Wirklichkeit für die nächsten gut acht Kilometer feines, loses Schlackenmaterial, und den einzigen Berg, den die Ebene zu bieten hatte, musste ich überfahren, weil oben ein Dorf war. Hier gab eine Ladenbesitzerin die Entfernung mit elf Kilometern an, was sich einigermaßen mit der Aussage der Männer deckte, doch schon als ich von der anderen Bergseite die lange Gerade sah, wusste ich, dass dies nicht stimmen konnte. Diese allein beschäftigte mich letztendlich zwanzig Kilometer lang, sie bestand durchgehend aus hundsgemeinem Waschbrettprofil mit viel Schotter. Nur 7–10 km/h waren möglich. Ich folgte einigen Fahrradspuren, die diagonal von der Strasse zwischen harten Flechtenpolstern wegführten, da ich eine Abkürzung zu finden hoffte. Doch nach etwa fünf Kilometern endeten sie auf einem kleinen Weiler und ich musste durchs Gelände, um wieder zur Straße zu kommen. Als ich endlich die etwas bessere Strasse Uyuni – Oruro erreichte, stand die Sonne schon sehr tief und ich schaltete meinen Turbo ein, weil ich unbedingt Chattapata erreichen wollte, da ich kaum noch Lebensmittel und Wasser hatte. Aber so sehr ich mich auch auf der ständig leichten Steigung abstrampelte, die Sonne sank tiefer und tiefer, es wurde finster und nichts war von dem Dorf zu sehen. Dies war wieder mal ein Moment, wo ich mich fast hilflos fragte, was ich denn nun machen sollte, denn um mein Zelt jetzt noch aufzuschlagen war es zu spät, das Gelände war in der Karte als sumpfig eingezeichnet. Andererseits waren auch vereinzelt Hütten zu sehen, also gab es Leute dort. Die Zeit, um mich gegen die Kälte zu schützen, hatte ich mir zuvor noch genommen, aber hätte ich mir nur noch fünf Minuten mehr genommen, wäre auch die kaputte Birne in der Fahrradlampe ersetzt gewesen. Ich aber meinte, mit der Stirnlampe auszukommen, doch diese LED-Birnen sind zum Fahren völlig ungeeignet, denn sie geben ein diffuses Licht und lassen keine Konturen erkennen. So holperte ich im Finstern weiter, und als ich endlich die ersten Lichter in der Ferne sah, war mir schon viel wohler zumute. In einer primitiven Hospedaje bekam ich ein Zimmer, in dem die Bettwäsche bereits benutzt war und ich dem Schlafsack den Vorzug gab. Dusche gab es keine und Waschbecken und Toilette im Freien auf dem Hof. In der Gaststätte waren, wie überall in der Gegend, trotz der Kälte die Türen offen und die Leute saßen in dicken Jacken und Mützen beim Essen. Andererseits klagten die Leute immer über "mucho frio" (sehr kalt). Hier traf ich Lukas, einen deutschen Zivildienstleistenden, und einen Amerikaner, die an einem Aufforstungsprojekt arbeiteten. Erst am nächsten Morgen stellte ich überhaupt fest, dass ich noch gar nicht in Chattapata, sondern erst im zwölf Kilometer davor liegenden Dorf Huarí gelandet war, aber das spielte nun auch keine Rolle mehr. Insgesamt 77 Kilometer war ich gefahren und die Angaben der jungen Männer und der Ladenbesitzerin lagen um gut dreißig Kilometer daneben! Von Huarí aus hatte ich bis Chattapata eine ganz neue Teerstraße für mich, denn sie war für den Autoverkehr noch nicht frei gegeben, und ab Chattapata in Richtung La Paz ist die Straße ohnehin asphaltiert. 130 Kilometer bis Oruro fuhr ich darauf noch mit dem Rad, und von dort musste ich den Bus nehmen, um rechtzeitig zur Ankunft meiner Frau am 31. Mai in La Paz zu sein.

La Paz, die Millionenstadt mit dem auf 4.100 Meter höchst gelegenen internationalen Verkehrsflughafen ist für mich wohl mit die faszinierenste Stadt, die ich kenne. Die Piloten brauchen eine Zusatzausbildung, um mit den erschwerten Lande- und Startverhältnissen in der dünnen Luft zurecht zu kommen. Vom Flughafen fährt man dann von 4.100 Meter hinunter in einen riesigen Kessel, in dem sich die Stadt bis auf etwa 3.000 Höhenmeter erstreckt. Das gibt es in keiner anderen Stadt der Welt! Die besseren Stadtviertel liegen hier in den tieferen, wärmeren Bereichen, in denen auch die Luft nicht mehr so dünn ist. Steil hinauf, bis teilweise an den Rand des Kessels, kleben die ärmeren Viertel, allerdings nicht Slums, wie wir sie uns vielleicht vorstellen, denn es sind alles fest gebaute Häuser. Die Innenstadt mit ihren vielen Hochhäusern zieht sich von etwa 3.650 auf 3.500 Höhenmeter hinunter. Es ist ein überwältigender Anblick, besonders am Abend, wenn man über den Kesselrand kommend die Autopista hinunterfährt und die ganze Stadt unter sich hat. Alles überragend beeindruckt der mächtige, schneebedeckte und 6.438 Meter hohe Illimani, den man immer wieder von der Stadt aus sieht.

Dann das quirlige und bunte Leben auf den Strassen und Plätzen. Indígenafrauen mit ihren bunten, knielangen und mit Unterröcken aufgebauschten Faltenröcken, die oft mit Pailletten oder Perlen besetzt sind, prägen das Straßenbild. Auf dem Rücken das vor der Brust zusammengeknotete, obligatorische bunte Tuch, in dem sie den Nachwuchs oder ihre Habseligkeiten mit sich tragen und auf dem Kopf den Melonenhut, oft keck schräg auf dem tiefschwarzen Haar mit langen Zöpfen. Ich fragte mich oft, wie der wohl hält.

Fast überall ist Markt. Geduldig sitzen die Frauen bis spät in die Nacht auf den Bürgersteigen oder in ihren Ständen vor ihrem oft bescheidenen Angebot. Bekommen kann man aber fast alles, angefangen von Gemüse und Obst und allen übrigen Lebensmitteln über getrocknete oder frische Tierinnereien oder ganze Unterbeine mit Klauen von Rindern; Kosmetik, Taschenrechner, Sanitärgegenstände, Elektro- und Klempnerbedarf usw. Meist gibt es diese Angebote straßenweise. Richtige Geschäfte oder Supermärkte gibt es dafür in der oberen Stadt gar nicht. Spannend auch der sogenannte Hexenmarkt. Bündelweise hängen getrocknete Klauen-Hülsen von Ziegen, Schafen oder Lamas aus, die dann als Rasseln an Beinen und Armen bei den vielen Umzügen und Fiestas für Stimmung sorgen, und hier werden körbeweise getrocknete Lamaföten angeboten, die als Opfergabe für Pachamama (Mutter der Erde) gebraucht werden. So wird kein Haus gebaut, ohne einen Fötus mit dem Grundstein mit einzumauern. Natürlich kann man auch kleine Pachamamas aus Ton als Talisman oder Souvenir erstehen.

Zwischen dem Verkaufstreiben werden Babys gewickelt oder zur Brust genommen und schon auch mal ein Schläfchen gemacht. Mittags sieht man dann die Marktleute vor, hinter oder zwischen ihren Ständen aus meist kleinen Emailleschüsseln ihr Mittagessen verzehren, welches natürlich auch auf der Straße zubereitet wird. Für die, die keine festen Stände haben, heißt es am Abend, wieder alles in riesige Säcke zu packen und von Trägern auf dem Rücken abtransportieren zu lassen. Die kleinen Männer verschwinden förmlich unter der Last.

Ebenso quirlig und wuselig auch der Straßenverkehr. Es wimmelt nur so von Taxen, Minibussen und qualmenden, uralten Mikrobussen – ehemaligen amerikanischen Schulbussen, die sich die oft steilen Straßen hinaufquälen. Privatautos fallen dabei kaum auf. Die Mikrobusse sind die billigsten Verkehrsmittel und eine Strecke von etwa zehn Kilometern kostet ca. 0,20 Euro. Gehalten wird, wo jemand winkt oder wo jemand aussteigen will. Bei den Minibussen fahren immer Anwerber mit, die laut schreiend ihre Streckenbeschreibung herunterrappeln. Verkehrsregeln wie links vor rechts gelten zwar auch hier, aber verlassen kann man sich nicht darauf. Auch rote Ampeln interessieren nicht unbedingt und Fußgänger laufen ohnehin kreuz und quer über die Straßen. Daran musste ich mich beim Fahren durch die Stadt doch erst einmal gewöhnen! Also nicht abwarten bis man vor‑ bzw. reingelassen wird, sondern einfach losfahren. Aber es funktioniert und ich nehme an, dass die Unfallhäufigkeit nicht größer ist als bei uns, da alle Autofahrer ständig auf der Hut sind und schnell reagieren müssen. Und gehupt wird natürlich viel.

Aufgefallen ist mir, dass viele Männer und Frauen der oberen Schichten mit dunklerer Hautfarbe das Gesicht mit Aktenmappen oder Zeitschriften vor der Sonne schützten, weil sie Angst haben, noch dunkler zu werden.

Meine Frau Uschi kam wegen eines Flugzeugdefektes mit 24stündiger Verspätung an, und wir hatten nun dreieinhalb Wochen Zeit, zusammen Urlaub zu machen. Mit dem schönen Hotel Rosario im spanischem Stil schraubte ich nun meinen Lebensstandard um einige Kategorien nach oben, und nach ein paar Tagen Zeit für Uschi, sich zu akklimatisieren, und gemeinsamen Erkundungen in La Paz, mieteten wir uns einen kleinen Suzuki-Jeep und fuhren die Strecke, die ich vor sieben Jahren schon mit dem Rad gefahren war, erst mal über den Altiplano bis Sajama. Dort bekam Uschi trotz vorheriger mentaler Einstimmung gleich den ersten Schock über das ungemütliche, kalte und äußerst primitive Quartier mit benutzter Bettwäsche usw. Sie mochte nicht einmal von meinen im Zimmer gekochten Spaghetti essen. Geschlafen haben wir dann in unseren Schlafsäcken. Am nächsten Tag, den Vulkan Sajama, 6.542 Meter hoch, im Rücken und die bereits auf chilenischem Gebiet liegenden Zwillingsvulkane Parinacota und Pomerape vor uns, fuhren wir die paar Kilometer zur chilenischen Grenze. Nach langer Prozedur an der Grenze überquerten wir den Pass Tambo Quemado (4.750 Meter) und waren am Abend in Arica am Pazifik. Hier gab es wieder ein gutes Hotel, sogar mit Heizung. Nachdem wir den Tag zuvor schon einen kleinen Teil der Atacama-Wüste angeschnitten hatten, setzten wir nun die Fahrt Richtung Süden durch diese Wüste fort. Es ging gleich wieder von Meereshöhe auf über 1.000 Meter hinauf auf eine Hochebene mit kilometerlangen Geraden, und wir hatten immer wieder tiefe Taleinschnitte zu durchqueren. An einem Kontrollpunkt konfiszierte man uns ärgerlicherweise das Obst aus Arica. Ich wusste wohl, dass man nach Chile kein Obst oder tierische Produkte einführen darf, aber dies galt nun auch innerhalb von Chile für die Region Arica. Außerdem war hier nicht einmal die Regionsgrenze. An diese kamen wir erst einen Tag später und hatten dort mit dem Auto genau die gleichen Formalitäten zu erledigen wie an der Staatsgrenze.

Die Atacama-Wüste ist eine völlig vegetationslose Gegend, in der aber auch wirklich nicht einmal ein Grashalm wächst. Nur ab und zu passierten wir kleine Flussoasen oder durchquerten zu unserer Überraschung dann doch auch mal ein größeres Gebiet mit Dornenbäumen und -büschen. Oft fragten wir uns, ob die vielen, fast kreisrunden Erderhöhungen, die wir von der Strasse aus sehen konnten, natürlichen oder künstlichen Ursprungs sind. Einmal nahmen wir die Gelegenheit wahr und sahen uns einen solchen "Berg" an. Es handelte sich um eine alte Mine, die von Anfang 1900 bis in die dreißiger Jahre ausgebeutet worden war und die bis zu 650 Arbeiter beschäftigt hatte, wie wir einem Schild an der Strasse entnehmen konnten. Leider ging nicht daraus hervor, was hier abgebaut worden war. Hier waren noch neben der Mine ein relativ großer Friedhof mit unterschiedlichen Grabausstattungen aus Holz erhalten, weiterhin die Grundmauern etlicher Gebäudereihen, die sicher Unterkünfte für die Arbeiter waren, als nächstes Reste von Werkstätten und dann riesige, etwa zehn Meter hohe und hundert Meter lange, dicke Mauern, die total mit Erde aufgefüllt waren. Irgendwann kam die Abzweigung nach Calama und wir änderten unseren Kurs von Süd nach Ost. Dabei kletterten wir auf einen über 4.000 Meter hohen Pass, bevor wir den großen Kupferminenort Chuquicamata erreichten. Riesige Abraumhalden türmten sich gigantisch vor großen Industrieanlagen zur Verarbeitung des Kupfers auf. Über Calama ging es weiter auf guter Asphaltstrasse Richtung Osten, bis wir in der Dämmerung den Touristenort San Pedro de Atacama erreichten, am Salar de Atacama, der auch für viele Radler ein Muss ist. Wir waren erstaunt, das die Asphaltstrasse unmittelbar am Ortsanfang endete und es im Ort selbst keine einzige befestigte Strasse gab. Nach einer Übernachtung entschlossen wir uns, zu den etwa hundert Kilometer nördlich gelegenen Geysiren von El Tatio zu fahren. Die Straße war meist sehr schlecht, was aber die Landschaft mit mehreren Vulkanen wieder gut machte. Die Geysire selbst hatten keine spektakulären Fontänen, sondern köchelten mal mehr, mal weniger vor sich hin, sollen sich morgens aber etwas großzügiger zeigen. Anschließend wollten wir in Richtung der Verbindungsstraße Calama – Ollague fahren, doch die Straße wurde immer enger und war schließlich nur noch ein Weg, der am Hang entlang zu dem Talende führte und sich am Gegenhang fortsetzte. Zum Umdrehen war keine Möglichkeit mehr und so musste ich über diese ganzen, vom Hang abgerieselten Sand- und Steinanhäufungen hinweg fahren, was den Jeep immer in bedrohliche Schräglage brachte. Relativ frische Autospuren bestätigten mir aber, dass man diesen Weg fahren kann, und zum Talende sah es auch wieder ganz gut aus. Doch dann kam auf dem Gegenhang Schnee dazu und ich sah die Autospuren nicht mehr. Nach fünfzig Metern im Schnee beschlossen wir, besser zurück zu fahren - im Rückwärtsgang! Dabei saß der Wagen in dem trockenen Bachbett mit vielen Steinen am Talende auf, doch mit Hilfe des Vierradantriebes bekam ich ihn wieder flott. Hier war dann auch die Möglichkeit, auf engstem Raum zu wenden und wieder vorwärts die "Hügelpassagen" zu fahren, was übrigens auch der Autofahrer vor uns gemacht hatte. Ich mochte Uschi meinen Gedankengänge, wenn jetzt eine größere Erdladung von oben käme und uns den Rückweg versperren würde, gar nicht sagen, bevor wir nicht die kritische Passage hinter uns hatten. Wir mussten ein ganzes Stück zurückfahren, um weiter südlich, schon bei Dunkelheit, eine recht ordentliche Strasse zu finden, die immerhin eine Geschwindigkeit von 50-60 km/h zuließ.

Auf der Strasse nach Ollague hatten wir nur für 60 Kilometer das "Asphaltvergnügen" und anschließend meist fürchterliches Waschbrettprofil, was unseren kleinen Jeep manövrierunfähig machte, wenn ich nicht rechtzeitig abbremsen konnte. Höchstens 25 km/h waren möglich, er drehte sich sonst einfach so dahin und die Gefahr des Umkippens war groß. Die größeren Toyota-Jeeps schienen dieses Problem nicht zu haben, denn sie fuhren mit wesentlich höherer Geschwindigkeit über diese kantigen, kleinen Bodenwellen dahin. Die Landschaft, fast kahl, war aber phantastisch. An mehreren Vulkanen mit Rauchfahnen kamen wir vorbei, und bei einem fügten sich auf seiner Rückseite Gras, Erde und die Felsen zu so schönen, großflächigen Farbspielen ineinander, dass man meinen konnte, Maler wären hier am Werk gewesen. Dann passierten wir mehrere Salzseen oder fuhren darüber, die allerdings mit ihrem meist braunen Salz überhaupt nicht mit dem Salar de Uyuni mithalten konnten, dafür aber waren die umliegenden Berge in der klaren Nachmittagssonne herrlich. Am späten Nachmittag erreichten wir den chilenischen Grenzort Ollague, auf über 3.500 Meter Höhe gelegen und von unzähligen, bis zu knapp 6.000 Meter hohen Vulkanen umgeben. Es war toll, ich habe mich um die eigene Achse gedreht und sah, ganz nahe oder weiter weg, überall große und kleine Vulkane. Ollague nennt sich deshalb auch "Ort der Vulkane und Salzseen". Im Ort gab es eine Häuserzeile südlich und eine Häuserzeile nördlich der breiten Bahnanlagen, einen Bahnhof, eine Gaststätte, Polizei, Telefonstelle und ein Turismo Rural (ländlicher Tourismus), in dem wir übernachten konnten. Nachdem wir aber nach dem Abendessen zu unserer Herberge zurück fuhren, stellte ich fest, dass wir vorne links einen Platten hatten. Die letzten zweihundert Meter fuhr ich noch weiter, um dann vor dem Haus zu sehen, dass auch der rechte Vorderreifen kaum noch Luft hatte – und morgens dann auch völlig platt war. Das sah nach einem echten Problem aus! Weil es aber schon dunkel wurde und die Nachtkälte die Tageswärme ablöste, hob ich es für den nächsten Morgen auf. Ich hatte nur einen Reservereifen dabei, und der einzige Mann im Dorf, der einen Reifen flicken konnte, hatte keinen Klebstoff. Ich befragte die Carabinieri, ob sie nicht für solche Fälle bei ihren Fahrzeugen eine Werkstatt hätten - hatten sie aber nicht. Ich fragte Lastwagenfahrer nach Klebstoff - nichts, ich wollte in La Paz bei der Vermieterfirma anrufen, musste mich aber auf den Nachmittag vertrösten lassen, weil das Telefon nach Bolivien nicht funktionierte, alle meinten nur, dass ich die zweihundert Kilometer nach Calama zurück müsste, um die Reifen flicken zu lassen. Um halb elf gleich sollte ein Kleinbus dorthin fahren, und die Wirtin organisierte uns zwar beim Busunternehmen eine Hinfahrt mit Abholservice, aber für die Rückfahrt war kein Platz mehr frei und wir hätten nachts um elf mit dem normalen Bus mit unseren zwei schweren Autoreifen unterm Arm zurückfahren müssen. Jetzt suchte ich doch den Reifenmann im Ort, der eine blaue Jacke anhaben sollte, um einfach mal die Reifen aufpumpen zu lassen, vielleicht hatte uns ja auch nur jemand einen üblen Streich gespielt. Ich fand den Mann tatsächlich und rollte dann den ersten Reifen die etwa zweihundert Meter über die Dorfstrasse zu seiner Werkstatt. Dieser hatte alsbald Luft, doch als ich mit dem zweiten fünfzig Meter vor seiner Werkstatt war, zog er den Schlauch ein und ich stand vor verschlossener Tür. Alles Klopfen und Rufen brachte mir nichts ein außer verschmitztem Lachen der Anwohner, der Mann war weg. Es war zum verrückt werden. Nun ging die Suche wieder los, und nach einer viertel Stunde traf ich ihn auf einer Leiter, die Birne einer Straßenlaterne wechselnd. Nach langem Bitten kam er wieder mit, versorgte den zweiten Reifen mit Luft und prüfte sogar auch die übrigen. Da der erste Reifen in dieser halben Stunde die Luft gehalten hatte, beschlossen wir, jetzt so losfahren. Nach diesen Zusatzausgaben hatten wir nun gar nicht mehr genügend chilenische Pesos, um unser Quartier bezahlen zu können, und Dollar wollte die Wirtin unverständlicherweise nicht nehmen, lieber erließ sie uns ein Drittel des Preises.

Mit einem doch etwas ungutem Gefühl im Bauch fuhren wir gegen Mittag endlich Richtung Salar de Uyuni los, denn es lag wieder eine lange, menschenleere Strecke vor uns. Die Strasse war nur eine Piste, die sich oft in mehrere teilte und auch nicht immer eindeutig zu erkennen war. Doch erst kamen die Grenzformalitäten. In Chile war das bald erledigt, aber einen Kilometer weiter hatten wir erst mal das Problem, überhaupt zum bolivianischen Zoll zu kommen: rechts vom Bahndamm standen wir vor einer geschlossenen Schranke und auf dem Bahndamm standen zwei lange Züge, die rangiert wurden, dahinter musste das Zollhaus sein. Ein Bahnarbeiter ließ uns zwischen den Waggons über die Puffer und Waggonkupplungen klettern, und gab wohl dem Lokführer ein Zeichen, nicht loszufahren. Er suchte für uns dann auch noch den Grenzbeamten, der uns dann sehr freundlich und nett abfertigte und uns eine gute Reise wünschte. Die beiden Züge waren mittlerweile weg und die Schranke durften wir selbst öffnen. Die Piste war meist gut zu befahren, doch manchmal war sie derart ruppelig von tiefen Lastwagenfurchen, die diese nach der Regenzeit in den weichen Boden gefräst hatten.

Nach etwa zwei Stunden löste sich die Spannung bei uns, denn die Luft hatte bisher gehalten und nun war klar, dass es sich tatsächlich um einen Streich gehandelt hatte. Es wäre ganz schön ärgerlich gewesen, wenn wir umsonst nach Calama gefahren wären. Auf unserer Fahrt haben wir den ganzen Nachmittag nur ein einziges Auto von weitem unsere Piste kreuzen sehen, für den Notfall wären wir aber mit Zelt, Kocher und Schlafsäcken sowie reichlich Wasser und Lebensmitteln gut gerüstet gewesen. Eines ist mir aber klar geworden, ich hätte nicht nur an Seil, Schaufel, Spitzhacke, Werkzeug und Reservekanister denken müssen, sondern auch an Flickzeug und Reifenhebel und vor allem an eine Pumpe. Die Verleihfirma hatte auch noch dazu einen Wagenheber in den Wagen gelegt, der für dieses Auto gar nicht passte und bei seinem Einsatz den Kotflügel beschädigt hatte. Die Reservekanister waren alte Ölkanister und das Benzin leckte durch die Schraubverschlüsse trotz Plastikzwischenlage aufs Autodach, obwohl ich sie hochkant auf dem Gepäckträger transportierte. Nach fünf Tagen konnte ich dann aber richtige kaufen und hatte große Mühe, das Geld von der Verleihfirma wieder zu bekommen.

Durch diese ganzen Verzögerungen und vielen Rüttelpisten erreichten wir den Salzsee erst bei völliger Finsternis, und nun wurde es sehr schwierig, die Insel Pescado auszumachen, wir konnten nur grob der Himmelsrichtung folgen. Als wir aber erst mal von dem Damm herunter waren, der über das anfangs weiche Gelände führt, konnte ich auch Autospuren sehen und der Mond war aufgegangen. Immer wieder schaltete ich zwischendurch das Licht aus, um zu sehen, ob die Insel sichtbar wird, und nach gut vierzig Kilometern „trafen“ wir sie genau. Hier bekamen wir Quartier und auch zu essen und danach setzten wir uns zu den zwei amerikanischen Radlern und der Wirtin, die sich an einem Feuer wärmten. Für die nächste Nacht konnte ich Uschi überreden, mit mir weit draußen auf dem Salar zu zelten und den schönen Abend zu genießen. Ich gab ihr dafür auch alle wärmenden Sachen gegen die Kälte, und so konnte sie die drei Grad Minus im Zelt gut überstehen. Nach dem Frühstück in der wärmenden Morgensonne mit heißem Tee und Kaffee sowie Brötchen mit Butter und Marmelade fuhren wir über den Salar weiter nach Uyuni. Hier wurde ich wieder von Leuten angesprochen, die mich irgendwo schon mal mit dem Rad gesehen hatten, einer sprach mich sogar mit Namen an! Er hatte meine Visitenkarte mit Bild im Gästebuch auf der Insel gesehen. Von Uyuni ging es weiter Richtung Potosí, und wieder schafften wir es nicht, bei Helligkeit unser Ziel zu erreichen. Wir hatten bei der Planung unserer Routen einfach nicht bedacht, dass eine Strecke von 200 bis 250 Kilometern bei diesen Straßenverhältnissen eine Tagestour ist. Deshalb übernachteten wir in einem ungemütlichen, kalten und primitiven Zimmer in einem Bergarbeiterdorf, weil die schmalen und schlechten Bergstrassen nachts doch ungut zu fahren sind und ich außerdem nicht wusste, ob es auch Überfälle auf Autos geben könnte - unseren Freunden in La Paz war so etwas allerdings nicht bekannt.

Potosí, die ehemalige, reiche Silberminenstadt auf 4.000 Metern Höhe, war in ihrer wirtschaftlichen Hochblüte die größte Stadt Amerikas. Jetzt kündigte sich schon von weitem durch eine Dunst- und Staubwolke an, und der erste Eindruck war nicht berauschend. Doch die alte Oberstadt ist sehr sauber, und in ihren engen Gassen mit den schönen Häusern fühlten wir uns sehr wohl. Ganz Potosí ist von den Vereinten Nationen zum „Kulturerbe der Menschheit“ erklärt worden. Viel Zeit hatten wir nicht für die Stadt, denn wir wollten weiter nach Sucre, der eigentlichen Hauptstadt Boliviens, die wir nun auf guter Asphaltstrasse schon am Nachmittag erreichten. Diese Stadt mit ihren vielen alten, sehr schönen Kolonialbauten empfand ich als die schönste meiner ganzen Reise, und aufgrund ihrer relativ geringen Höhe von nur 2.700 Metern war es auch angenehm warm. Sucre scheint mehr eine gemütliche Beamtenstadt zu sein, die uns ein schönes Quartier mit Garten bescherte, und unter vielen guten Restaurants hatten wir die Auswahl für das Abendessen und kamen dabei sogar in den Genuss südamerikanischer Lifemusik. Am nächsten Tag ging es weiter durch die Berge auf Asphalt-, Staub- und Knüppelpflaster über Epizana nach Cochabamba. Dort blieben wir zwei Nächte und besuchten unser zwölfjähriges Patenkind Carola und die Einrichtungen der Vermittlungsorganisation. Bevor wir die Rückfahrt nach La Paz antraten, fanden wir unser Auto auf dem Hotelparkplatz wieder mit einem Platten vor. Doch diesmal war es kein Problem, denn einen heilen Reservereifen hatten wir, und nicht allzu weit war auch eine Werkstatt. Es war für mich schön und interessant, meine damalige Radstrecke jetzt mit dem Auto zu fahren. Was mir damals wegen Wolken vorenthalten blieb, konnten wir diesmal von der Straße aus in der Ferne sehen: den mächtigen Vulkan Sajama und die dahinter auf chilenischem Gebiet liegenden Zwillingsvulkane Parinacota und Pomerape. Die letzten etwa neunzig Kilometer musste wir wieder bei Dunkelheit zurücklegen, was bedeutete, bei sehr starkem Verkehr ständig von entgegen-kommenden Fahrzeugen mit Fernlicht und falsch eingestellten Scheinwerfern geblendet zu werden. La Paz empfing uns mit dem nächtlichen Lichtermeer, und wir freuten uns wieder auf unser schönes Hotel.

Im Hotelreisebüro buchten wir Busfahrten nach Puno und Cusco, und nach einem Tag La Paz ging es dann über Copacabana am Titicacasee und westlich des Sees entlang bis nach Puno. Für die knapp 400 Kilometer Fahrt nach Cusco am nächsten Tag hatten wir einen sehr schönen Bus und unterwegs einen Stopp zum Mittagessen sowie drei weitere, um ein Inkamuseum, einen Inka-Tempel und eine alte Kirche aus der Kolonialzeit mit üppiger Goldausstattung zu besuchen. In Cusco hatten wir bereits im Niño Hotel (Kinder Hotel) vorreserviert. Es war schlicht und einfach, qualitativ gut, aber kalt. Das Hotel gehört einem holländischen Paar, das 1996 angefangen hat, sich um die Straßenkinder in Cusco zu kümmern und mittlerweile zwölf dieser Kinder adoptiert hat. Inzwischen haben die beiden ein zweites Hotel und auch ein Niño Restaurant eröffnet, und der ganze Erlös aus den Häusern fließt wieder in das Projekt. Die Größe Cuscos überraschte mich, und die Schönheit dieser Stadt übertraf meine Erwartungen bei weitem. Ich war begeistert von dem großen Platz mit zwei großen Kirchen, den vielen schönen Häusern mit kunstvoll geschnitzten Balkons rundherum und den farbenfroh gekleideten Indígenas und ihren bunten Handarbeiten. Lustig fand ich, wie sie sich auf die Touristen eingestellt haben und bunte, gestrickte Flaschenhalter mit Träger für die Wasserflaschen herstellten, mit denen die meisten herumlaufen.

Für je 53,25 US-Dollar kauften wir uns Karten für die Bahnfahrt zur alten Inka-Ruinenstadt Machu Picchu, eine lohnenswerte Fahrt. Von Cusco aus schaukelt sich der Zug im Zick-Zack-Kurs, vor und zurück, über den Berg. Bei der ersten Rückwärtsfahrt bekam ich einen Schreck, weil ich dachte, nachdem der Zug stoppte und anfing rückwärts zu rollen und immer schneller wurde, die Bremsen versagten, doch von den Gesichtern der Bahnbeamten konnte ich ablesen, dass keine Gefahr bestand. Einen wunderschönen Blick hatten wir von hier oben auf Cusco, und die weitere Fahrt durch eine enge, tiefe Schlucht war nicht minder beeindruckend. Auch hier musste der Zug einmal rückwärts hinunter, um Höhe zu verlieren. Nach einem Zwischenstück fast ebenen Geländes kam die nächste, noch schönere Schlucht mit dem reißenden Rio Urubamba. Dazu änderte sich die Vegetation ins Tropische und es wurde angenehm warm, weil wir immer mehr an Höhe verloren, die gesamte Fahrt führte uns von 3.400 auf 2.100 Meter Seehöhe herunter. Die Berge waren sehr steil und dicht bewaldet und immer wieder schauten majestätische, schneebedeckte Gipfel hervor. Für 9 US-Dollar hin und zurück ließen wir uns die acht Kilometer und 430 Höhenmeter zu den Ruinen hinaufbringen und bezahlten dann 20 US-Dollar Eintritt, die sich gelohnt haben. In Ruhe konnten wir alles ansehen, bevor nach sechs Stunden die Fahrt wieder nach Cusco zurückging. Am nächsten Morgen mussten wir auch schon wieder die Rückfahrt antreten, weil zwei Tage später schon Uschis Flug nach Hamburg zurück ging. Leider mussten wir unseren komfortablen Bus vor Copacabana verlassen, weil Blockaden, die hier fast an der Tagesordnung sind, die Weiterfahrt von Copacabana nach La Paz verhinderten. Ein klappriger Minibus brachte uns über Desaguadero, südlich vom Titicacasee, nach Bolivien, und von hier aus setzten wir die Fahrt in einem uralten Bus fort, der kaum auf ebener Strecke vorwärts kam, erst recht nicht bei Steigungen.

Eines hat mir diese Fahrt ganz deutlich gezeigt: ich möchte nicht tauschen mit den Rucksacktouristen! Diese können ja immer nur von einem Ort zum anderen fahren und haben dazwischen keine eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, und noch dazu heißt es morgens meist früh aufstehen, um den Bus nicht zu verpassen. Ich fühlte mich zwischen den Orten im Bus immer wie durch eine Glasröhre geschoben.

Nach einem sehr schönen, gemeinsamen Urlaub flog Uschi am 25. Juni wieder nach Hamburg zurück, und ich zog einen Tag später wieder in das für einen Radler standesgemäße Quartier Hostal Austria. Nichts mehr mit schönem Frühstücksbuffet, jetzt hieß es wieder, das Frühstück selbst zuzubereiten, und nach drei Tagen setzte ich mich wieder mit dem Fahrrad in Bewegung.

Die Yungas, steil abstürzende, grüne Berghänge mit Regenwald östlich von La Paz, und dann weiter ins Tiefland, das waren meine Ziele. Mit dem Taxi wollte ich mich zum Stadtrand bzw. zur Mautstelle am Stadtrand bringen lassen, um den Auspuffgasen und dem wilden Verkehr zu entgehen. Durch Missverständnisse setzte mich der Taxifahrer aber schon viel früher raus bzw. verlangte zwei Drittel mehr für die gesamte Strecke, sodass ich im angrenzenden, steilen Vorort noch voll in den Genuss der qualmenden Busse und Laster kam. Und nun außerdem 350 Höhenmeter mehr zu bewältigen hatte, um auf den Pass La Cumbre auf 4.770 Meter zu kommen. Es war zwar gute Asphaltstraße, aber durchsetzt mit sehr steilen Abschnitten. Später stellten sich auch noch Muskelkrämpfe in den Oberschenkeln ein, zum Glück waren die steilen Abschnitte schon hinter mir. Interessanterweise bekam ich keinen Muskelkater, obwohl ich vier Wochen Radpause hinter mir hatte. Um halb drei war ich auf dem Pass, und nun begann eine wunderbare Abfahrt, insgesamt bis Caranavi gut 3.800 Höhenmeter. Zunächst waren die mächtigen Berge noch kahl und bedrohlich schwarz, doch dann wurden sie bewachsen und bald ging es auf einer schmalen Schotterstrasse hinunter in die Yungas. Zuvor bekam ich ein Problem, welches mich sehr irritierte und verunsicherte: ich hatte einen grauen Film über den Augen und konnte die Konturen der Straße nicht mehr richtig erkennen, und zu allem Überfluss zog auch noch Nebel durch das Gelände. Um mein eigentliches Ziel Coroico noch zu erreichen, war es schon zu spät, und so hatte ich mich aufs Übernachten im Gelände eingestellt. Das erwies sich aber sofort als aussichtslos, denn die Steilhänge boten dafür keinen Platz. Größere Gebäude des Straßenbauamtes abseits der Strasse steuerte ich an, doch ich bekam weder Platz in den Gebäuden, noch wurde mir das Zelten erlaubt. Doch wie so oft, das Problem löste sich, indem ein Fußgänger, den ich zuvor überholt hatte, dazu kam und mir anbot, mit ihm zu kommen. Nach weiteren zwei Kilometern am Berghang entlang bekam ich in der "Gemeinde Papst Johannes XXIII" ein Zimmer mit drei Betten und Matratzen, Toilette und Dusche und abends und morgens auch zu essen. Wenn ich mit meinen Augen zur Glühbirne schaute, sah ich diese als einen hellen Punkt mit einem großen Hof ringsherum, auch nachts war es nicht besser. Doch morgens, nach herrlichem, elfstündigen Schlaf, war wieder alles in Ordnung.

Jetzt musste ich nur noch die etwa drei Kilometer zur Strasse zurück, und dann konnte ich mich auf der angeblich gefährlichsten Straße der Welt in die Tiefe stürzen. Spektakulär ist sie auf jeden Fall, denn sie schlängelt sich mit einem Gefälle von 5 - 12 % immer hoch über dem engen Talboden, an oft fast senkrechten Hängen mit vielen Einschnitten und dadurch sehr kurvenreich hinunter in die Tiefe. Es ist die einzige Strasse, über die die Orte in den Yungas und im Tiefland versorgt werden können. Die ganzen Berge waren mit dichtem Regenwald, Schlingpflanzen, Lianen, Flechten und anderen exotischen Pflanzen bewachsen, etwas tiefer kamen noch Bambus und Bananen hinzu. Ungewöhnlich, aber logisch, war der Linksverkehr, denn die bergab fahrenden Fahrzeuge mussten ausweichen und die Ausweichstellen lagen auf der Talseite. Es herrschte relativ starker Lastwagen- und Busverkehr (bis zu zwölf Metern Länge bzw. vierzig Sitze), und die Ausweichmanöver sahen oft sehr kritisch aus. An einer Stelle führte die Strasse an einer senkrechten Wand entlang, die etwas ausgesprengt war, und über die mit Flechten und kleinen Büschen bewachsene Felswand regnete das Wasser herunter. In den engen Kurven fuhren die Hinterräder der Laster oft in der Luft über ausgespülte oder abgebrochene Stellen. Nach einer Rechtsbiegung des Tales konnte ich in der Ferne hoch oben schon Coroico sehen und ich hoffte, nicht mehr allzu weit herunter fahren zu müssen. Aber es ging dann in ein tiefes Seitental hinein, und Coroico lag plötzlich 600 Höhenmeter oberhalb, die ich mich aber mit einem Pick Up hochfahren ließ. Der Ort liegt auf einer "Bergnase" hoch über dem Tal, und mehrere Täler laufen darauf zu. In meiner Pension musste ich erst mal Packtaschen und Fahrrad und dann auch mich von dem vielen, feinsten Staub befreien, denn ich wurde laufend derart eingenebelt, dass ich minutenlang kaum was sehen konnte. Ich hatte von hier eine herrliche Aussicht und konnte auch die neue Straße sehen (und die Narben, die sie dem Berg zugefügt hat), die schon vor einigen Jahren hatte eröffnet werden sollen, was aber durch Erdrutsche immer wieder nach hinten verschoben werden musste. Jetzt am 21. Juli 2003 war es dann endgültig soweit. Sie hat zwei Spuren und soll auch noch asphaltiert werden.

Coroica hat zwar eine tolle Lage, aber von dem Ort selbst hatte ich mir mehr versprochen, es gab keine besonders schönen Häuser oder Lokale. Doch in meinem schönen Zimmer im Hostal Kory und dem Restaurant "Zur Backstube" direkt gegenüber mit Detlef, dem deutschen Wirt, der mit seiner lockeren Art, sehr guter nichtdeutscher Küche und gutem deutschen Kuchen die Gäste anzog, fühlte ich mich wohl. Hier traf ich den Amerikaner John vom Salar wieder, und als fünf Motorradfahrer zum Biertrinken auf die Hostalterrasse direkt vor meinem Zimmer kamen, gab es gleich ein freudiges Hallo, den Ramona und Uwe hatte ich bereits zwei Tage vor Weihnachten im tiefen Patagonien getroffen. Solche Begegnungen finde ich immer wieder zu schön. Sascha, einen jungen Radler aus Uetersen bei Hamburg, sprach ich gleich an, als er ins Dorf radelte, und nach einem Erfahrungsaustausch beschlossen wir, nach Rurrenabaque am Rio Beni gemeinsam zu fahren. Allerdings nicht die 260 Kilometer von Caranavi über die Berge, wie ich es vorgehabt hatte, sondern von Caranavi nach Guanay, um dort mit Glück ein Boot nach Rurre(nabaque) zu bekommen und dann nach einer etwa zehn- bis zwölfstündigen Fahrt auf dem Rio Beni durch die Berge den Ort zu erreichen.

Von Coroico ging es auf der Rückseite des Berges in vielen Serpentinen auf einer Knüppelpflasterstraße in das Tal des Rio Coroico hinunter und von hier flussabwärts weiter nach Caranavi. Leider hielt sich die Straße nicht an das Flussgefälle, sondern turnte munter auf dem Steilhang mal auf Flusshöhe und dann wieder 200 bis 300 Meter höher herum. Eng war die Schlucht und schmal die Straße, und bei so mancher kleinen, schmalen Brücke, nur aus mit Erde aufgefüllten Baumstämmen bestehend, wunderte ich mich, dass die Laster und Busse sie in den Kurven überhaupt "treffen". Weil wir etwas gebummelt hatten, nahmen wir das Angebot eines sehr netten Lastwagenfahrers an, mit ihm die letzten Kilometer bis Caranavi zu fahren. Auf der Ladefläche, auf Zementsäcken direkt hinter dem Führerhaus stehend, hatten wir fast eine Vogelperspektive und von hier oben aus dem Auto sah es um vieles dramatischer aus als vom Fahrrad. Weil wir flussabwärts fuhren, mussten wir immer auf die Ausweichstellen auf der Schluchtseite, und da blieb uns manchmal fast die Luft weg. Einmal kam uns ein ebenfalls zwölf Meter langer Laster entgegen und nur eine schmale Ausweichspur senkrecht über der Schlucht war vorhanden. Ich weiß nicht, ob die ganze Vorderradbreite noch auf festem Boden stand, über die Bordwand konnte ich auf jeden Fall nur noch senkrecht in die Tiefe schauen und hoffte nur, dass die Ausweichstelle felsigen und festen Untergrund hatte. Es dauerte einige Zeit, bis sich der andere Laster zwischen der Felswand und unserem Laster Zentimeter um Zentimeter vorbeigeschoben hatte.

Nach einer Übernachtung in der Kleinstadt Caranavi radelten wir bei herrlich warmem Wetter Richtung Norden. Das Tal war ab hier nun nicht mehr so eng und mit tropischer Vegetation bestanden, vor allem sehr viele Bananen wuchsen hier. Weil Sascha sich noch nicht ganz von seinem Fieber und Durchfall erholt und ich unterwegs einen Platten zu beklagen hatte, schafften wir es nicht mehr bis zum Ort Guanay, es tat sich auch keine Mitfahrgelegenheit auf. Nahe eines kleinen Dorfes auf der anderen Flussseite machten wir einen Fußballplatz aus und setzten mit einem Fährkahn über, um dort unsere Zelte aufzustellen. Wie schon die Tage zuvor gab es auch hier Unmengen von winzigen Mücken mit einem kräftigen Beißwerkzeug, dem unsere Beine und Arme zum Opfer fielen, nicht einmal die Radlerhosen waren ihnen Hindernis. Ein winziger Blutstropfen in der Mitte und ein erhöhter rosa Hof um jeden Stich herum ließen mich richtig bunt aussehen.

Am nächsten Abend erreichten wir nach vielem Auf und Ab und immer noch dem Rio Coroico folgend Guanay. Wir erkundigten uns am anderen Morgen sofort nach einem Boot, doch wir hatten kein Glück. Gestern, am Montag, hatte es eins gegeben, mussten wir uns dauernd anhören, und das nächste wurde uns für Samstag versprochen. Sicher, wir hätten sofort ein Boot haben können, aber für dreihundert US-Dollar. Wahnsinn! So ließen wir uns auf die Warteliste setzen, die im Telefonladen geführt wurde, und fragten abends in den Herbergen nach anderen Touristen, mit denen wir uns zusammenschließen könnten, aber diese verirren sich nur selten hierher. Von einem Fußballspieler erfuhren wir, dass sie am Freitag mit dem Boot nach Rurre fahren müssten, weil sie dort am Samstag ein Spiel hätten. Im Telefonladen bestätigten sie dies und wir schöpften Hoffnung, aber am Donnerstagabend war es wieder nicht sicher. Ein Paar aus Sachsen, Sindy und Danat, das sich am Abend in unserer Herberge einquartiert hatte, wollte ebenso mit, und so stiefelten wir morgens noch vor sieben Uhr zur Anlegestelle am Fluss. Doch hier war alles ruhig und wir bekamen nur die Auskunft, der Fußballverein hätte kein Geld. Wir versuchten noch mit einigen Bootsleuten den Wahnsinnspreis auf zweihundert Dollar zu drücken, aber unter dreihundert ging gar nichts. Nun wurde plötzlich auch das Samstag-Boot in Frage gestellt und auf Dienstag geschoben, und so blieb uns nichts anderes übrig, als erst einmal mit einem Pick Up zusammen mit 27 Leuten, zwei Rädern, einer Kiste und zwei großen Gasflaschen auf der kleinen Ladefläche nach Caranavi und nachts mit dem Bus die 260 Kilometer in elf Stunden nach Rurre zu schaukeln. Rurrenabaque ist, obwohl so weit abgelegen, ein boomender Touristenort. Hier zwängt sich der Rio Beni zwischen den letzten Bergen hervor, bevor er durch die weiten Ebenen des Tieflandes Boliviens dem Amazonas zufließt.

Von Rurre aus werden von zahlreichen Agencias Pampa- und Urwaldtouren angeboten. Wir buchten eine dreitägige Pampatour. Mit dem Jeep ging es, zusammen mit fünf weiteren internationalen Touristen, erst mal drei Stunden auf staubiger Straße durch ebenes Weideland, dann stiegen wir auf ein Boot mit Außenbordmotor um, welches uns den Rio Yacuma aufwärts zu einem Camp brachte, in dem wir zweimal übernachteten. Die Boote waren eigentlich große Einbäume, die rundherum einen etwa 20 bis 25 cm hohen Kranz aufgesetzt bekamen und damit aussahen wie Kähne. Die Bootsfahrt war wahnsinnig interessant. Noch nie zuvor hatte ich Alligatoren in freier Wildbahn gesehen, und hier säumten sie die Ufer zigfach, zusammen mit den wesentlich größeren Kaimanen. Vielfach glitten sie dann lautlos ins Wasser und tauchten ab. Niedliche, kleine gelb-schwarze Affen fraßen Bananen aus der Hand, die vom Boot aus gereicht wurden, und im Camp holten sie sich die Obstreste. Zahlreiche Wasser- und Greifvögel waren zu sehen und eine Art Meerschweinchen in Riesenausführung. Auch die fast weißen Süßwasser-Delphine tauchten immer wieder auf. Der etwa zwanzig bis dreißig Meter breite Fluss vermittelte den Eindruck eines Urwaldflusses, tatsächlich aber war es nur ein schmaler Gürtel an dichtem und hohem Bewuchs direkt an beiden Uferseiten und dahinter weites, schilfartiges Grasland, welches zur Regenzeit über einen Meter unter Wasser steht. Das Camp war schön sauber und lag oben auf der Böschung in einer der vielen Flussbiegungen. Wir wurden gut verpflegt, gekocht wurde im Freien auf offenen Feuer. Am Abend machten wir noch eine Bootsfahrt und leuchteten mit Taschenlampen die Ufer ab, wo überall die Augen der Alligatoren gespensterhaft das Licht reflektierten. Wieder zurück, fragte ich den Führer Roberto, ob es gefährlich wäre, wenn das Boot kentern würde und man an Land schwimmen müsste. Das Boot kentert nicht, beeilte er sich zu sagen, - ja aber wenn doch? Ja, das wäre gefährlich, denn diese Tiere sind sehr nachtaktiv. Aha! Ein eigenartiges Gefühl war es schon, wenn ich nachts auf den vom Mond beschienenen und vermeintlich so friedlichen Fluss schaute und mir vorstellte, dass man das andere Ufer wohl nicht lebend erreichen würde, wenn man da durch müsste. Für den nächsten Tag kauften wir uns extra ganz billige Turnschuhe, denn es ging auf Schlangensuche. Stundenlang wateten wir knöcheltief im Wasser und Matsch, bis die erste, etwa zwei Meter lange Anakonda-Kobra gefunden wurde, kurz drauf zerrte Roberto eine gut drei Meter lange richtige Anaconda aus dem Gras, die ihn dafür in den Daumen biss. Dass dabei die kleinen Zahnhülsen abgehen und im Finger stecken bleiben, war mir neu. Nach ausgiebigem Fotografieren durfte sie wieder zurück in ihr nasses Element. Für den Nachmittag war Pirañas-Angeln angesagt, um unser Abendbrot zu sichern... Zum Glück war dies nicht ernst gemeint, denn von den drei kleinen Fischchen wären wir nicht satt geworden. Wieder zurück in Rurre, setzte Sascha seine Reise fort; ich buchte noch eine zweitägige Dschungeltour und fuhr zusammen mit zwei Finnen und einer Schweizerin zuerst den breiten Rio Beni hinauf und dann weiter den Rio Tuichi entlang, mit etlichen kleinen Stromschnellen. Tiere sieht man naturgemäß im Dschungel weniger, dafür aber riesige Bäume, Riesenameisen und viele Bäume und Sträucher mit medizinischen Wert, die uns der Führer zeigte. Abends auf einer Erkundungstour auf der großen Flusshalbinsel konnten wir noch einen Alligator sehen, ein paar Uhus und etliche Vögel, die auf der Erde übernachten. Insgesamt gefällt mir der Dschungel allerdings nicht so, weil ich da nicht weit schauen kann, aber interessant war es allemal, und die lange Bootsfahrt war wunderschön. Am letzten Tag machte ich noch eine kleine Radtour auf einer Dschungelstraße, wobei der Dschungel an der Straße aber vielfach gerodet war und als Viehweide diente. Meine Lust war nicht allzu groß, nur mal so ohne Ziel über die Schotterstraße zu holpern, und so drehte ich schon nach dreißig Kilometern wieder um.

La Paz erreichte ich nach einer neunzehnstündigen Busfahrt am frühen Morgen, und nach der angenehmen Sommerwärme im Tiefland empfing mich dort Raureif. Diese Rückfahrt nach La Paz, ohne Strecke vorwärts zu machen, wollte ich mir nicht antun, denn auf diesen gut vierhundert Kilometern hätte ich 8.600 Höhenmeter fahren müssen. So konnte ich aber nachts aus der Busperspektive die vom Mond beschienenen hohen Berge und tiefen Abgründe der Yungas sehen.

Bolivien, mit 7,2 Millionen Einwohnern, gut drei mal so groß wie Deutschland und gut dreizehn mal so groß wie Österreich, ist sehr vielseitig, und viele neue und schöne Teile des Landes habe ich auf dieser Reise kennen und lieben gelernt: im Süden und Westen teils Halbwüsten mit vielen Salzseen, Lagunen und Vulkanen, im Norden das Amazonasbecken, im Nordosten das schöne Gebirge der Königskordillere mit vielen 6.000ern, im Osten die subtropischen Yungas mit dem Regenwald, im Südosten die trockene Dornensteppe des Chacos, zu Brasilien hin ein Teil des Sumpfgebietes des Pantanal und nicht zuletzt der Titicacasee, den sich die Bolivianer allerdings mit Peru teilen müssen. Was da noch fehlt, ist das Meer. Es sitzt noch immer wie ein Dorn in den Bolivianern, weil sie ihren einzigen Meerzugang, Antofagasta, im Salpeterkrieg mit Chile (1879 – 1883) an Chile verloren haben.

Wir haben jetzt Ende Juli und fast zweieinhalb Monate bin ich nun in Bolivien. In den nächsten Tagen werde ich wieder aufbrechen und in Sorata, 150 Kilometer nördlich von La Paz, ein paar Tage Bergwandern gehen, um dann weiter über die östliche, einsame Seite des Titicacasees nach Peru einzureisen. Über Arequipa soll es dann zur pazifischen Küste und weiter nach Lima gehen.

Bis zum nächsten Bericht

Hans Windisch


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