Von Feuerland zur Karibik

Von Feuerland zur Karibik


3. Reisebericht:   El Calafate – Perito Moreno (Argentinien)

Silvester war gefeiert und das Neue Jahr bereits drei Tage alt, als ich wieder meine Packtaschen an das Fahrrad hing und Richtung Norden losstrampelte. Diesmal wartete eine besondere Tour auf mich, mit einem schwer vollgepackten Rad durch einsame patagonische Steppe. Eine Strecke von über 600 Kilometern, wovon nur die ersten 32 Kilometer asphaltiert waren, sollten bewältigt werden. Etwa zehn Tage hatte ich angesetzt und Lebensmittel für etwa eine Woche mitgenommen, da es auf der Strecke nur höchstens zwei Möglichkeiten gab, etwas Nachschub zu bekommen. Und diese liegen ca. 350 Kilometer auseinander. Insgesamt gibt es auf der ganzen Strecke nur sechs bewirtschaftete Estancias unmittelbar an der Strasse. Andere liegen Hinweisschildern nach 4 bis 90 Kilometer von der Strasse entfernt.

Zum Anfang gab es aber erst mal ein schönes "Bonbon": Auf asphaltierter Strasse trug mich der Rückenwind schnell vorwärts, doch das änderte sich nach 32 Kilometern, als die Strasse (die legendäre Ruta 40) Richtung Nordenwesten abzweigte und der Wind damit seitlich von vorn kam. Vor allem aber, weil es von nun an nur noch zum Teil wildeste Schotterstrassen waren. Durch hügeliges Gelände ging es trotzdem ganz gut vorwärts, und ich kreuzte den Rio Santa Cruz, den Abfluss vom See Argentino, der sich mit seinem türkisfarbenen Wasser durch die Steppe schlängelt. Bei meiner Mittagspause gesellte sich ein Radler aus England zu mir, der aus La Paz kam und Richtung Ushuaia unterwegs war. Obwohl ich schon unwahrscheinlich schlechte Strassen befahren habe, musste ich bald feststellen, dass es noch immer eine Steigerung gibt. Die nächsten sieben Kilometer waren nur aus Schotter mit Sand und feinem Staub, der bis zu fünf Zentimeter Dichte auf der Strasse lag. Die Räder "schwammen" quasi auf diesem Gemisch, und ein Fahren war sehr schwer, manchmal gar unmöglich. Bald konnte ich den Lago Argentino von der Ostseite her sehen und von einer Anhöhe aus war weit gegenüber El Calafate auszumachen. Hier wollte ich mich für die Nacht einrichten und suchte nach einen geschützten Platz. Leider fand ich keinen und musste weiter. Hoch über den Fluss Rio La Leona (er kommt aus dem See Viedma, fließt in den See Argentino und dann gleich wieder mit dem Rio Santa Cruz Richtung Atlantik) fand ich nicht weit von der Strasse einen schönen Platz. Zwar wurde ich von vielen kleinen Mücken gestochen, doch diese waren so freundlich, nicht mit ins Zelt zu kommen, und so konnte ich in Ruhe mein Abendessen im offenen Zelt mit Blick auf dem Fluss genießen. Morgens allerdings hatte ich sehr viel Mühe, dass Zelt abzubauen, denn der Wind hatte schnell zugelegt, und ich hatte alle Hände voll zu tun, die Sachen festzuhalten.

Nach einer anfänglichen Bergfahrt, machte die Strasse bald einen Knick nach Osten, und nun kam der Wind von hinten – dies aber auch bei der anschließenden Talfahrt. Die Strasse führte in das Tal des Ria La Leona, einem sehr schönen und breiten Fluss mit türkisfarbenen Wasser und ziemlicher Strömung. Das Wetter war sommerlich warm, und die Landschaft gefiel mir sehr, denn sie war fremdartig. Berge begleiteten den Fluss, die durch Regen-Auswaschungen, viele verschiedene Formen angenommen hatten und in abnehmender Groesse nach oben angeordnet waren. Nach einer Kaffee-Einkehr in einer Estancia konnte ich mich wieder auf eine Bergfahrt vorbereiten, die ich leider wieder gegen den Wind zu fahren hatte. Immer wieder zeigte sich der schöne Fluss, der sich in großen Schleifen durch die Landschaft zog und dessen Wasser einen wunderbaren Kontrast zur braunen Umgebung darstellte. Bald war der See Viedma erreicht und über dem aufgewühlten Wasser mit den weißen Gischtkronen, zeigte sich gegenüber der imposante Gebirgsstock mit dem Fitz Roy, den viele spitze Gipfel umgeben. Bald machte die Strasse wieder den günstigen Knick für mich, und ich konnte wieder mit dem Wind fahren. Den Abstecher nach El Chalten zum Fitz Roy wollte ich nicht machen, denn es sind 90 Kilometer dorthin und mindestens drei Tage (hin und zurück) hätte ich dazu wohl gebraucht. Ab dem Abzweiger nach El Chalten, erwartete ich nun so gut wie keinen Verkehr mehr, vor allem aber eine noch schlechtere Strasse. Der Verkehr nahm zwar ab, wenn auch nicht so stark wie ich dachte. Das mit der schlechten Strasse hingegen stellte sich sehr bald ein, und weiter ging es mit dem "schwimmenden Belag". Dann kamen wieder Abschnitte mit hoch aufgetürmten Schotterbergen zwischen den maximal 50 Zentimeter breiten Reifenspuren oder, vor allem in Kurven, dicker Schotterbelag über die ganze Strasse. Zweimal konnte ich einen Sturz nicht vermeiden (wenn auch bei langsamer Geschwindigkeit), denn die kleinste Schräglage oder ruckartiges Herumreißen des Lenkers drücken einen nieder. So sah ich mich schon nach einem Schlafplatz umsehen, denn bei diesen Verhältnissen war an ein Erreichen des kleinen Orts Tres Lagos nicht zu denken. Aber siehe da, bald darauf waren die Reifenspuren wunderbar zu befahren, und ich musste immer wieder abbremsen, weil mich der Wind mit über 20 Stundenkilometer dahintrug. Das machte aber Spaß! Nach einer kräftigen Steigung erreichte ich eine höhere Meseta (Tafelberg), die wunderschön gleichmäßig und eben mit den dunklen Bergen im Hintergrund abschloss. In zwei Stufen nach unten erreichte ich Tres Lagos, zwei Kilometer abseits der Ruta 40. Es war bereits acht Uhr, aber ich wollte den Ort unbedingt erreichen und den guten Wind ausnutzen. Es ist herrlich, dass es zu dieser Jahreszeit bis etwa elf Uhr hell ist. Am Abend merkte ich, dass ich in den Armen und Schultern ein viel stärkere Müdigkeit verspürte als in den Beinen. In einer Pension quartierte ich mich für 20 Pesos (ca. 6 Euro) in einem sauberen Zimmer ein. Ein deutscher Arzt aus Aachen und eine Holländerin gesellten sich beim Essen zu mir, und das war eine günstige Gelegenheit, ihn zu fragen, ob er meine Filme nach Deutschland mitnehmen könnte. Er sagte sofort zu.

Morgens musste ich dann mit meinem bepackten Rad für Aufnahmen mit Fotoapparat und Filmkamera dem Doktor als Motiv posieren, und selbst als ich bereits wieder über dicken Schotter holperte, kam er mit seinem Jeep hinterher und fotografierte mich beim Fahren aus allen Richtungen. Bald ging es wieder auf der Ruta 40 Richtung Norden, Regen setzte ein, und die Strasse stieg stetig an. Wieder begegnete ich einem Fernradler, erneut einem Schweizer, von dem ich wieder allerhand Wissenswertes über die kommende Strecke erfuhr. Nur, dass ich jetzt 20 Kilometer Bergfahrt (mit geringen Unterbrechungen) vor mir hatte, das verschwieg er mir. Der Regen hörte bald auf, aber der Wind verstärkte sich dafür. Gegen vier Uhr fegte er bereits derart stark von der Seite über eine kleine Zwischensenke hinweg, dass er mich immer wieder in die Schotterhaufen drückte, bevor ich noch richtig auf den Pedalen war. So mancher wütender “Urschrei” kommt einem da schon über die Lippen. Ich konnte einfach nicht mehr weiterfahren, sondern musste schieben. Da kam mir ein etwa 4-5 Meter hoher natürlicher Erdwall an der Strasse gerade recht, um in dessen Windschatten mein Zelt aufzubauen. Nachdem es an dem ersten Standort nicht klappte, siedelte ich in die nächste Nische um. Doch auch hier klappte es nicht. Die Stangen hatte ich bereits eingezogen und alles mit den Packtaschen beschwert, als eine Windbö in das Zelt fuhr. Mit voller Breitseite warf ich mich aufs Zelt, um zu verhindern, dass er es unter den Packtaschen noch herauszieht. Es hatte also keinen Zweck, und ich packte alles wieder zusammen aufs Rad. Später war ich über diese Entscheidung heilfroh, denn das Gelände bestand nur aus bröseliger Erde und ich hätte dem Zelt trotz Beschwerung der Heringe mit Steinen, die ich bereits herbei geschleppt hatte, keinen festen Halt geben können. So ackerte ich wieder zurück auf die Strasse und schob erst durch das Flachstück und den vor mir liegenden Berg hinauf. Breitbeinig wie ein Seemann turnte ich auf den Schotterbergen herum, um das Rad in Schräglage (damit ich nicht mit dem Rad umgeworfen werde) in der Reifenspur zu halten. Oft kam ich mir vor wie beim Skifahren, wenn ich durch akrobatische Ausgleichsbewegungen einen Sturz verhindern konnte. Denn auch hier riss es mich oft plötzlich mit dem Fahrrad zur Seite und mit einem Bein hoch als Reaktion, konnte ich gerade noch verhindern, dass ich mit dem Fahrrad umgerissen wurde. Bei einer Windattacke musste ich anhalten, um das Rad richtig festhalten zu können, da setzte mir diese Bö das Hintergestell des Fahrrades einfach um etwa 60 Grad über den Schotterberg zur Seite. Darüber war ich leicht schockiert, denn es waren immerhin die schweren Taschen darauf. Bald war der Bergkamm erreicht, und es ging bergab. Doch an Fahren war trotzdem nicht zu denken, und ich musste weiter schieben. Die Strasse wurde eben und drehte sich, sodass der Wind von hinten kam. Immer wieder versuchte ich dies auszunutzen und stieg auf. Ein Bein unten, um sofort Bodenkontakt zu haben, versuchte ich die Spur zwischen den Schotterhaufen zu halten, doch der Wind war meist stärker, und ich war wieder im Schotter. Dieser bremste dann allerdings auch sehr gut ab. Zwei Autofahrer mussten mich so eine Weile beobachtet haben, wie ich da so gefährlich herumturnte und boten mir die Mitfahrt an. Ich wollte zur etwa 20 Kilometer entfernten Estancia Lucia fahren, weil man dort übernachten oder campen könnte, wie ich vom Schweizer erfahren hatte. Zwei Packtaschen gingen in den Jeep, mit dem auch ich mitfuhr, das Rad kam samt den anderen Taschen in den Kleintransporter. Mit 80 – 90 Stundenkilometer fegten diese dann über die Schotterpiste.

Zwei Alternativen hätte es für mich auch nur gegeben, die erste hat sich ja gleich verwirklicht, weil die Argentinier unwahrscheinlich hilfsbereit sind, und die andere wäre gewesen, das Rad solange zu schieben, bis vielleicht der Sturm nachlässt. Mittlerweile wüsste ich auch noch eine Dritte. Nämlich sich einfach mit dem Schlafsack hinter einem Gebüsch zu legen – wenn es denn eines gibt.

Wenn es denn gestern harte Arbeit war, so war es heute eine richtige Schinderei, denn das Fahrrad ist mit diesem schweren Gepäck unwahrscheinlich schwer zu halten und Beine und Arme sind im ständigen Einsatz. Hier mal eine kurze Aufzählung, was alles so am Fahrrad hängt: Vorne zwei kleinere Packtaschen an den Seiten, darüber auf dem Gepäckträger der Reservereifen und ein Wassersack bis zu vier Liter Inhalt. Darüber die Lenkertasche mit Kamera und anderen Utensilien. Hinten die beiden großen Packtaschen, längsseits darüber auf dem Gepäckträger ein Rucksack mit Zelt, Schlafmatratze (mit Luft), Schlafsack, sowie ein paar andere Sachen. Darüber hängen quer (wie bei einem Esel) zu beiden Seiten so eine Art Strandtaschen, die ich mir in El Calafate extra für die Lebensmittel kaufte. Dahinter hing dann noch ein kleiner Tagesrucksack mit den Brötchen, die hier kiloweise verkauft werden – und für eine Woche Vorrat, das gibt Volumen. Im und unterm Rahmen sind dann nach die Trinkflaschen angebracht. An Gewicht mit Fahrrad werde ich bestimmt 65 Kilo gehabt haben. Nach jeder Mahlzeit freut man sich, dass das Gewicht weniger geworden ist.

Der nächste Tag war ein richtig schön mit sommerlichen Temperaturen bis 27 Grad. Nur wenig Wind und der auch noch für mich günstig, ging es die ersten 15 Kilometer durch hügeliges Gelände, bis dann die erste, für mich richtige patagonische Landschaft kam. Total eben und die Strasse schnurgerade, ohne Fixpunkte durch die Ebene und löst sich am Horizont in Spiegelung auf. Ich mag solche Strecken, zumal wenn man gut vorankommt. Schon wieder kam mir ein Fernradler entgegen, wieder ein Engländer, der aus Venezuela kam und in Richtung Ushuaia fuhr. Dies war natürlich für mich sehr interessant. Über Kolumbien hatte er nur gutes zu berichten, man solle allerdings auf den Hauptstrassen bleiben, weil meist nur diese von der Regierung kontrolliert würden. Ihn nach der Kilometerzahl zu fragen, habe ich dann leider vergessen, obwohl ich es immer auf der Zunge hatte. Genau bei dieser Begegnung hatte ich auch meinen ersten Platten zu beklagen. Nach einer weiteren Hügelstrecke folgte wieder eine endlose Flachstrecke, die nur am Rand von niedrigen Bergketten flankiert wurde. Es dauerte Stunden, und ich hatte das Gefühl, die Bergkette vor mir kommt überhaupt nicht näher, bis sich die Ebene in einer etwa 30 bis 50 Meter tieferen Etage fortsetzte. Längst hatte ich schon die Estancia La Verde erwartet, doch erst um 20:45 Uhr erreichte ich sie. Inmitten von vielen Bäumen und Sträuchern und mit viel Wasser von dem verzweigten Rio Chico zeigte sie sich endlich, und ich durfte mein Zelt aufstellen. Doch die Schönheit hatte auch ihren Preis. Unendlich viele Mücken versuchten mich zu stechen und wohl auch mit Erfolg. Zum Glück hat das bei mir keine Auswirkungen, außer dass es verdammt lästig ist. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich im Innenzelt einzuschließen und dort meine draußen gekochte Mahlzeit einzunehmen. Ich traute mich nicht mal mehr hinaus, um später noch einen Kaffee zu trinken und mir Zähne zu putzen. Denn zwischen Innen- und Außenzelt warteten diese Biester zu Hauff, nur um sofort nach Öffnen des Reißverschlusses in das Innenzelt einzudringen. Bei nächstbester Gelegenheit, muss ich mir ein Moskitonetz für das Gesicht kaufen.

Heute wollte ich bis zum Hotel Horquetas, etwa 60 Kilometer. Die Richtung war aber westlich, das bedeutete Gegenwind, und lange ließ dieser auch nicht auf sich warten. Die Strasse war zum größten Teil miserabel, und die kopfgroßen, mal lose, mal festen Steine ließen mich immer wieder von der Spur abkommen und in den Schotter fahren. Es ist immer das gleiche, man steigt auf, wird entweder sofort in den Schotter geleitet oder schafft einige Meter. Schon ein Erfolg, wenn man ein paar hundert Meter schafft! Als Nachteil erweisen sich dabei meine Kombi-Pedalen. Weil ich bei diesen Straßenverhältnissen nicht die Klickpedalseite benutzen kann (ich muss mich blitzschnell am Boden abstützen können), muss ich die Normalpedalseite nehmen. Die Pedalen drehen sich aber so träge, dass immer die Klickseite oben ist und ich dadurch verzögert auf die Pedale komme.

In den 50er Jahren habe ich in Österreich gesehen, dass man auch beim Bau von Schotterstrassen einen richtigen Untergrund in Form von hochkant gestellten Steinen anlegte. Hier glaube ich, wurde nur Erdreich ausgehoben und dann Steine mit Erde einfach hineingekippt, was dann oft zu dem total losgefahrenen Gemisch von Erde, Steine und Schotter führt. Manchmal sind richtige Felsbrocken "eingearbeitet".

Unterwegs hielt ein Mitarbeiter der dortigen Telefongesellschaft mit seinem Auto neben mir und fragte mich – was recht oft geschieht und sehr beruhigend ist – ob ich irgend etwas bräuchte (Wasser usw.) und erzählte mir, dass das Hotel geschlossen ist. Nachdem ich nach 40 Kilometern und das dauernde Ankämpfen gegen den Wind ohnehin schon müde war, fragte ich in der Estancia Talem Aike (Aike kommt oft vor und soll "Platz" heißen), ob ich mein Zelt auf seinem Grundstück aufstellen dürfte. Ich durfte, und sehr windgeschützt dazu. Auch wurde ich gleich zum Kaffee, dann zum Abendessen mit sehr guter Eintopfsuppe und morgens wieder zum Kaffee eingeladen. Der Mann schien mit seinen vier Kindern, etwa 10 bis 15 Jahren, die zur Zeit gerade Sommerferien haben, alleine zu wohnen.

Der Wind brauchte abends schon sehr lange, bevor er sich etwas beruhigte, aber nachts tobte er wieder sehr kräftig. Mein Gebüsch schützte mich vortrefflich. Morgens hatte ich noch gut 15 Kilometer gegen den Wind zu strampeln, bevor ich das leer stehende Hotel erreichte. Dreieinhalbe Stunden brauchte ich dafür, und dort machte ich meine Mittagspause in dem Bewusstsein, bald Richtung Nordosten abzudrehen und dann mit Rückenwind wieder bessere Zeiten für mich kommen zu sehen. In dem Hotel wäre es auch möglich gewesen zu übernachten, denn bei dem ebenerdigen Bau standen viele Türen offen, und man hätte in einem der Räume sein Zelt aufstellen können.

Bald nach dem Hotel machte die Strasse den in der Karte eingezeichneten Schwenk, und ich wurde wunderbar vom Rückenwind erfasst. Ein Hochgenuss! Dies blieb auch bis zum Abend so. Die Insassen zweier Wagen aus Buenos Aires hielten an und fragten mich, ob ich irgend etwas bräuchte. Nachdem ich mir Wasser nachfüllen ließ, deckten sie mich auch noch mit frischem Brötchen, Wurst, Käse und Tomaten ein. Das war natürlich wieder eine Sternstunde: diese neuen Tomaten sowie die frischen Brötchen, dagegen meine acht Tage alten. An Ort und Stelle machte ich mich über sie her. Die Estancia El Delfin, wo man zelten kann, habe ich verpasst, da sie einige Kilometer abseits der Strasse liegt und nicht, wie eingezeichnet, direkt an der Strasse. Einen Hinweis sah ich auch nicht. Als ich dies feststellte, war ich mindestens schon zehn Kilometer vorbei, und nun hieß es wieder in der ungeschützten Steppe, ohne Büsche oder nennenswerten Geländeunterschieden, einen Schlafplatz zu finden. Ein etwa drei Meter hoher Erdwall mit Kieselsteinen, der wohl von Straßenbauarbeiten stammte, musste es schließlich tun. Bei dem immer noch starken Wind (abends nimmt er meist ab), hatte ich alle Mühe, das Zelt aufzustellen, und weil es obendrein sehr frisch wurde, verzichtete ich aufs kochen und machte mich über die Spende der "Porteños" (so heißen die "Buenos Aireser") her. Um Mitternacht wurde es dann aufregend. Der Wind nahm immer mehr zu, und ich fürchtete um mein Zelt. Wenn er etwas abnahm, so hörte man ihn von weitem wie eine gewaltige Meeresbrandung und Sekunden später rüttelte er wie wild an dem Zelt, als wollte er es gleich in die Luft wirbeln. Weil der Boden nicht sehr fest war, hätten die Heringe mit Steinen beschwert werden müssen, doch außer Schotter gab es in der Umgebung nichts brauchbares. So musste ich Vorkehrungen treffen. Ich packte alles in die Packtaschen, was im Zelt lose herumlag, damit im Falle eines "Abhebens" nicht die Einzelteile wegfliegen konnten. Ich kontrollierte die Heringe (wovon einer kurz darauf herausgerissen wurde) auf ihre Festigkeit und spannte alle Schnüre nach. Mittels "Rütteltechnik" versuchte ich den Heringen in dem sandigen, mit Kieselsteinen durchsetzten Boden, einen festen Halt zu geben. Meine Stirnlampe war dabei sehr hilfreich. Die schweren Packtaschen legte ich dann auf die wichtigsten Heringe und Schnüre und die leichteren verteilte ich im Zelt. Dann legte ich mich wieder hin und wartete, was nun passiert und hoffte, das gute Hilleberg Zelt würde es schon aushalten. Ich schlief darüber ein. Als ich nach einer guten Stunde wieder aufwachte, hatte der Wind erheblich nachgelassen, und ich konnte wieder in Ruhe weiterschlafen. Unheimlich ist so etwas schon, wenn man es das erste Mal erlebt.

Bereits um acht Uhr war ich auf der Strasse und nach einer kurzen Hügelstrecke ergoss sich wieder diese unendliche Weite ohne jeglichen Fixpunkten. Mit dem Seitenwind ließ es sich ganz gut fahren. In einer umfunktionierten Estancia als Hotel, trank ich zwei Kannen (ca. sieben Tassen) flauen Kaffee und verzehrte dazu einen ganzen Napfkuchen. Von einem Deutsch-Argentinier erfuhr ich hier, dass auf Grund eines Ausbruchs des Vulkan Hudson 1991, der große Teile dieses Gebietes mit einem Ascheregen zudeckte, Tausende von Tieren verendeten, da sie nichts mehr zu fressen finden konnten. Außerdem zwangen die fallenden Preise für Wolle und Fleisch viele Farmer zur Aufgabe. Ich wunderte mich nämlich, dass ich seit El Calafate kein einziges Weidetier gesehen hatte und die Zäune oft sehr vernachlässigt waren. Diesbezüglich war die ganze Gegend sehr, sehr einsam. Auf den Verkehr entlang der Strasse traf das allerdings nicht zu. Es kam wohl vor, dass ein paar Stunden mal kein Auto kam, aber insgesamt mögen es wohl 30 bis 50 pro Tag gewesen sein. Die meisten davon mit in- und ausländischen Touristen, die diese berühmte Strecke befuhren. Berühmt deswegen, weil sie schon sehr früh (erstes Teilstück im Norden bereits 1876 eröffnet) das westliche Argentinien von Nord nach Süd verband, das sind immerhin an die 4.500 Kilometer. Am Nachmittag musste ich wieder kräftig gegen den Wind ankämpfen und erreichte am späten Nachmittag den Ort Bajo Caracoles. Lange hatte ich überlegt, ob ich von hier aus auf einer Sommerpiste zur Carretera Austral rüber nach Chile fahre oder doch nach Perito Moreno, wie ursprünglich geplant. Ich entschied mich im Laufe des Tages für Perito Moreno. In dem windigen Ort nahm ich Quartier im einzigen Hotel, mit Tankstelle und Kraemerladen, der mir aber kein Brot verkaufen konnte. Dieses bekam ich dann aber von einem Reisenden. Ein weiterer Fernradler aus Deutschland traf ein - Mathias aus Fulda. Er wollte nächsten Morgen von hier aus zur Carretera Austral. Weil ich für nächsten Tag mein Fahrrad überholen wollte, nahm ich mir auch erst eine spätere Abfahrt vor. Morgens wurde ich von einem wilden Sturm geweckt, der die Fahne der Polizeistation wie ein Brett stehen ließ. Als ich erst um neun Uhr zum Frühstück kam, war ich erstaunt, dass Mathias trotz des Sturmes losgefahren war. Es zeigte mir, dass man auf der Ruta 40 nicht so zimperlich sein darf. Zu der "Cueva de las Manos" (Höhlen der Hände) wollte ich nicht fahren, denn die 50 Kilometer auf einem Fahrweg waren mir zu beschwerlich. So fuhr ich Richtung Perito Moreno. Wieder gab es fürchterliche Straßenabschnitte und steile Auffahrten. Interessant sind die Mesetas (Tafelberge), die es in allen Höhen gibt. Hat man einen erklommen, so breitet sich vor einem eine brettebene Fläche aus. Solche waren anfangs oft zu erklimmen, bis sich die Landschaft änderte und man von einem in einen anderen Talkessel fuhr, die wiederum mit kleinen Bergen bestückt waren, die durch Erosion in allen verschiedenen Farben (von ocker über gelb und weiß, sowie knallrot und grün oder grau) leuchteten. Am Abend war ich enttäuscht, als sich eine 20 Kilometer davor angekündigte Herberge, nicht an der Strasse, sondern sieben Kilometer abseits befand. So musste ich mir wieder einen Schlafplatz außerhalb suchen und fand einen in einem kleinen Tal hinter einem niedrigen Calafate-Dornenbusch. (Es heißt, wenn man die Früchte davon isst, kommt man wieder nach Patagonien zurück. Ich habe davon gegessen). Bei dieser Suche stoppten auf der Strasse wieder zwei Autos und versorgten mich mit Wasser und einem Schnitzel-Sandwich. Erst als sie losgefahren waren, merkte ich, dass es die Familien aus Buenos Aires waren. Darüber ärgerte ich mich sehr, denn ich hatte versucht, sie immer irgendwo einzuordnen. Allerdings war ich etwas durcheinander, weil ich mich bei der Schlafplatzsuche ertappt fühlte. Vielleicht konnten andere Pateños, die ich in Perito Morenos kennerlernte, und die am nächsten Abend in der selben Estancia (Telken), 25 Kilometer vor P. Moreno übernachten wollten wie die beiden Familien aus Buenos Aires an dem Abend unseres Treffens, ihre Adressen herausbekommen. Diese wollten sie mir dann per E-Mail mitteilen. Der letzte Tag vor Perito Morenos war wieder von sehr starken Wind beherrscht und ließ meist nicht mehr als fünf Stundenkilometer zu. Die Strasse war meist "gut" zu befahren und ich wunderte mich, wie man auch bei dieser "Geschwindigkeit" Kilometer um Kilometer herunterradelt. Fast lustig war oft die Zwiesprache mit dem Wind, wenn ich mich nicht in den Schotter drücken lassen wollte und mich fest dagegenstemmte. Ein kleiner "Nachschlag" von ihm, und schon hatte ich verloren. Es ist erstaunlich, wie schnell es bei Seitenwind oft geht, dass man im Straßengraben landet. Man versucht sich in Schräglage dagegen zu stemmen, dann wird ein Herumreisen des Lenkers erzwungen, der Wind erfasst einen von hinten, und schon schießt man wie ein Blitz durch die Schotterreihen. Solange man noch abbremsen kann, ist das nicht weiter schlimm, denn der Straßengraben ist meist sehr breit und fällt flach zu einer Mulde ab. Wenn ich den Wind bei Sturm in gut und schlecht für einen Radfahrer auf Schotterstrassen einteilen sollte, würde ich sagen: Wind von hinten, gut bis sehr gut; Wind seitlich von hinten, befriedigend; Wind von der Seite, schlecht bis sehr schlecht; Wind von vorne, sehr schlecht; Wind seitlich von vorn sehr, sehr schlecht.

In Perito Moreno, einer kleinen Provinzstadt, angekommen, war es erst mal ein sonderbares Gefühl, nach so vielen Kilometern Schotterpiste, wieder Asphalt, bzw. Beton unter den Reifen zu haben. Im Hotel war auf einer Fotoserie dokumentiert, wie gewaltig die Aschewolke vom Vulkanausbruch auch über diese Stadt hereinbrach. Nach einem Ruhetag fuhr ich mit einem kleinen, alten russischen Militärbus zu der Cueva de las Manos. Sie befindet sich in einem ca. 150 Kilometer langem Canyon des Rio Pinturas, gut 100 Kilometer südöstlich von Perito Moreno. Die ersten Hände wurden vor 11.000 Jahren an die Felsen gehalten, mit Farbe besprüht und damit der Abdruck der Hand hinterlassen. Fast nur linke Hände sind zu sehen und nur eine rechte konnte ich entdecken. Die Farben kamen aus den in der Nähe befindlichen Mineralsegmenten, wurde staubfein verrieben, mit Guanaco-Fett und Wasser vermischt und mit dem Mund aufgesprüht.

Es war ein eigenartiges Gefühl, die 56 Kilometer lange Strecke bis zum Abzweiger, die mich zwei Tage zuvor so viel Zeit und Mühe kostete, nun im Bus in kurzer Zeit zurück gelegt hatte.

Nun ist mein nächstes Ziel erst mal Chile Chico, gleich hinter der Grenze in Chile, nur etwa 75 Kilometer von hier und werde dort entscheiden, ob ich um den See Buenos Aires (in Chile heißt er Lago General Carretera) zur Carretera Austral fahre oder ob ich die Fähre nehme und damit etwa 300 Kilometer schlechte Strasse einsparen würde. Allerdings auch eine sehr interessante Gegend nicht sehen könnte.

Bis zum nächsten Bericht

Hans Windisch


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