Those were the days …

Cycling 66 – mit dem Fahrrad auf der Mother Road

Chicago, 15.9.1994, Ecke Jackson Drive / Michigan Ave.: Mit unseren gut beladenen Trekkingrädern und mit Ehrfurcht stehen wir an dieser berühmten Ecke, dem Startpunkt der Route 66. Die erste und älteste Fernstraße der USA (since 1926) ist längst ein Mythos. Bobby Troup, Nat King Cole, Manhattan Transfer und die Stones haben die Route 66 besungen; man denkt unwillkürlich an schwere Harleys, Autos mit Heckflossen und eher weniger an eine Fahrradstrecke. Aber Sybille und ich wollen uns einen langgehegten Traum erfüllen, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Mutig geben wir unseren Iron Horses die Sporen, und mit der am Vorabend in Berghoff's German Restaurant gebunkerten Energie von diversen Beef Rouladen with Spaetzels and Potato Salad machen wir uns frohgemut auf die lange Meile gen Los Angeles

Problem nur: Wie sollen wir die Route 66 überhaupt finden? Diese existiert seit den frühen 80er-Jahren nämlich nicht mehr offiziell; die Schilder mit der Doppelsechs sind ausnahmslos alle abgebaut, und der Fernverkehr donnert über autobahnähnliche Interstate Highways gen Westen. Aber rund 80% der alten Straße sind auch heute noch da, so verheißt die Fachliteratur, wenn auch mit anderen Straßennummern versehen bzw. als County Road zurückgestuft. Hin und wieder verläuft die Route 66 auch als sogenannte Frontage Road direkt neben der Interstate, doch manche Teile sind tatsächlich stillgelegt und abgesperrt, überbaut oder regelrecht von der Natur zurückgeholt. Für uns heißt das: Improvisieren – oft orientieren wir uns an der Eisenbahntrasse, an weit entfernten, teilweise uralten Telegrafenmasten oder wir fragen uns einfach durch. Und wir lassen wirklich keinen Meter des alten, bröseligen Betonbands aus – bald beginnt uns die "Fernstraßen-Archäologie" gewaltig Spaß zu machen.

Dwight (IL) Road closed!

Für die Amerikaner ist die Route 66 ein Stück nationale Identität. Als sie durch einen Federstreich der Bürokraten in Washington abgeschafft wurde, ging ein Aufschrei durch das Land. "Go west, young man" war immer die Devise für jeden, der sein Glück machen und es zu etwas bringen wollte. Fast jeder Ami hat irgendwelche Jugenderinnerungen an die Route 66, und längst gilt sie als Mutter aller Straßen und als Synonym für den American Dream, für das echte, bessere und unverfälschte Amerika vergangener Tage. Jeder Anrainerstaat hat zwischenzeitlich seine Route 66 Association, die sich der Erinnerung an die alte Straße verpflichtet und etliche nette Museen eingerichtet hat.

So rollen wir zunächst durch das gleichförmige Farmland des Corn Belt. Einsame Getreidesilos und die Wassertürme der weit verstreuten Dörfer markieren den Horizont. Touristische Glanzlichter: Fehlanzeige! Aber das ganz große Plus dieser Gegend sind die sehr, sehr freundlichen und liebenswerten Menschen.

Grain Elevator No more gas

Für viele Anwohner der Route 66 waren die neuen Autobahnen der Ruin. Alte Tankstellen, verfallene Motels und geschlossene Touristenattraktionen stehen heute dekorativ herum und vermitteln eine morbide Romantik. Und diejenigen, die durchgehalten haben, brauchten einen starken Überlebensdrang, der sie wie eine Großfamilie zusammengeschweißt hat. Als radelnde Exoten sind wir sofort Mitglieder dieser Familie, und alle bringen uns viel Sympathie und Unterstützung entgegen.

In Divernon treffen wir beispielsweise Matt Bolar. Wir haben uns mal wieder auf der Suche nach der alten Straße verfahren. Matt schwingt sich sofort auf seinen Dreigang-Beach Cruiser mit Mopedsattel, fährt mit uns einige Meilen zurück und zeigt und die richtige Abzweigung. In Joliet füllt uns die Besitzerin der Milano Baking Co. bis zum Eichstrich mit geeistem Gratis-Cappuccino, auf dass wir für unseren langen Ritt den nötigen Druck im System hätten. Und in Dwight lässt uns der Motelbesitzer Dave Moyemont umsonst in seinem eigenen Schlafzimmer übernachten, weil sein Motel voll ist. Er selbst verbringt die Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer. Wir lernen den Erfinder der panierten Bratwurst am Stiel kennen, und Glaida Funk, Inhaberin der Ahornsirupfabrik in Funks Grove, gibt uns eine ganze Menge Adressen von Freunden an der Route 66 mit, die wir unbedingt besuchen müssten. Die Lokführer der langen Güterzüge grüßen die ungewohnten Cyclists freundlich mit dem Horn, und so mancher Harley Biker hält auf einen kurzen Plausch.

Matt Bolar Milano Baking Co. Glaida Funk

Nach 500 Kilometern Illinois überqueren wir den Mississippi und gelangen nach St. Louis. Stuttgarts Partnerstadt präsentiert sich für Radler als ein harter Brocken, denn sie ist umgeben von einem megaharten Slumgürtel. "Der Vorort Venice", so lesen wir im (für Autofahrer geschriebenen) Streckenpilot, "ist kein Stadtteil, wo man mit leerem Benzintank liegen bleiben, einen platten Reifen haben oder irgend jemand auf der Straße etwas fragen sollte". Für Radler heißt dies: Vielbefahrene Hauptstraßen sind sicherer als Nebenstrecken, Autowracks am Straßenrand und herumlungernde Jugendliche sind ein todsicherer Slum-Indikator. Doch kommen wir ganz gut durch die Rough Areas, von kräftigen Regenschauern durchnässt. Unsere (sicher subjektive) Empfehlung für St. Louis deshalb: Durch und abgehakt!

St. Louis, Gateway Arch In den Ozarks

Drüben in Missouri rollen wir durch die Kalkfelsen und die bunten Herbstwälder des Ozark Plateaus, eines hübschen Mittelgebirges, vergleichbar etwa mit der Schwäbischen Alb. Die Route 66 verläuft jetzt oft in einiger Entfernung zur Interstate; einsame Briefkästen am Straßenrand künden von weit draußen in den Wäldern liegenden Farmen. Die Menschen sind in gewohnter Weise freundlich, aber die Scenic Backroads haben auch ihre Tücken: Zuweilen heften sich freilaufende Farmerhunde an unsere Fersen und verhelfen uns zu so mancher konditionsfördernden Sprinteinlage, bis sie hechelnd aufgeben.

Einmal werden wir von einem ganzen Rudel gehetzt. Der Leitwolf will bereits nach meinem Turnschuh schnappen. Ich rufe: "Don't bite me, it's the law!" Das muss er wohl verstanden haben, denn er beißt dafür in Sybilles Packtasche. Zwei runde Löchlein sind dort seither zu besichtigen. Doch dann, wir essen gerade vor dem General Store in Doolittle ein Sandwich, kriegen wir vom Inhaber-Großvater eine erstklassige Lektion verpasst: Der wirft nämlich mit Caracho ein paar Steine in Richtung des Köters von der Tankstelle gegenüber und brummt etwas Gereiztes, wobei er seinen Kautabak von der linken in die rechte Backe werkelt. Dies veranlasst den Hund zu sofortigem Rückzug, winselnd und mit eingezogenem Schwanz. Wir sind absolut platt vor Staunen – obwohl wir nicht so recht wissen, ob es am Ton, am Kautabak oder an den Steinen lag. Wir tippen zunächst mal auf die Steine und legen uns einen kleinen Vorrat in der Trikottasche an. Und tatsächlich – es wirkt! Ab sofort haben wir keinerlei Hundeprobleme mehr, fast jeder Wurf ein Treffer. Vor allem Sybille entwickelt eine Präzision, von der die Köter in den Ozarks bestimmt noch lange jaulen werden.

Attacke! Jeder Schuss ein Treffer

In Missouri ändern wir auch langsam, aber sicher unser Übernachtungsverhalten. Am Anfang unseres Trips hatten wir meistens gezeltet, aber mittlerweile ist es Oktober und gegen 18.00 Uhr wird es dunkel. Als eingefleischte Abendmenschen und Morgenmuffel empfinden wir es als trist, im Schein der Taschenlampe zu Abend zu essen, und auch Lesen oder Tagebuch Schreiben macht doch erheblich mehr Spaß im freundlichen Schein einer Tischlampe. So steuern wir immer häufiger abends eines der zahllosen kleinen Motels an. Gerade in Missouri, aber auch im weiteren Verlauf der Route 66 haben doch noch eine ganze Menge einfacher und gemütlicher Familienbetriebe überlebt, und oft erhält man schon für 20 US$ ein sauberes Zimmer. Prächtige Neonschilder, oft regelrechte Kunstwerke und liebevoll restauriert, wetteifern um die Gunst des Reisenden. Clean Rooms – Low Rates – Cabie TV. In besonders guter Erinnerung haben wir das Forest Manor Motel in Lebanon. Am Tisch vor dem Office kochen wir unser Abendessen, während sich das Neon-Blitzlichtgewitter des Munger Moss Motels schräg gegenüber im Bierglas spiegelt und ziemlich erfolglos versucht, Kunden in die fully renovated 18-$-Rooms zu locken. Get your Kicks an Route 66! Für uns ist das Fernstraßen-Romantik pur.

Motel-Romantik: Lebanon (IL)... ...und Tucumcari (NM)

Einen zusätzlichen Kick in den herbstlichen Wäldern Missouris erhält man durch die unzähligen Antique Shops am Straßenrand. Vom restaurierten Oldtimer über die 50er-Jahre-Werbetafel, das Original-Schwinn-Fahrrad mit Tankattrappe, alte Colaflaschen und ganze Kisten historischer Postkarten kann man hier alles kaufen. Wir selbst sind mittlerweile heftige Autonummernschildersammler. Kein Schrottplatz und kein Antiquitätenladen wird ausgelassen, und hin und wieder schicken wir die Ausbeute via US Mail nach Hause, bevor der Fahrrad-Gepäckträger bricht.

Dann Oklahoma. Bei den Amis gilt es als Dust Bowl, die Staubschüssel. Endlos radeln wir durch leicht welliges, nahezu unfruchtbares Farmland; zuweilen sieht man eine Ölförderpumpe, die sich träge auf und ab bewegt. Legendär sind die Staubstürme der 30er-Jahre, die viele der kleinen Farmer in den Ruin und mit Kind und Kegel in ihren baufälligen, überladenen Autos über die Route 66 nach Southern California trieben, wo man vielleicht als Obstpflücker ein paar Bucks verdienen konnte. "Die Route 66 ist die Mutterstraße, die Straße der Flucht" schrieb John Steinbeck in seinem Roman "Früchte des Zorns". Dieses Buch hat den Mythos der Route 66 entscheidend mitgeprägt; die Okies gelten noch heute als besonders hart und tough, Pioniere eben, und die Route 66 ist ihre Mother Road.

Roadside Business Bei Lucille

Ganz vereinzelt treffen wir noch Menschen, die sich an diese Zeiten erinnern können. Lucille Hamons beispielsweise, die seit 1941 in Hydro eine kleine Tankstelle betreibt. Sie serviert uns an einem windigen Nachmittag in ihrer kleinen Wohnküche den besten Eintopf, den wir je gegessen haben, dazu endlose Route 66-Anekdoten. Oder Howard Litch, 90 Jahre alt und Kurator des Heimatmuseums in Galena. Gegen eine kleine Spende für sein Museum verkauft er uns die Nummernschilder von seinem eigenen Truck. Und ein Pionier der neueren Art ist Christian, Schweizer vom Thuner See und Kneipenwirt in Stroud. Der hat sich mit allen möglichen Berufen auf der halben Welt durchgeschlagen, und jetzt serviert er hier so fantastische Dinge wie Büffel-Burger, Züricher Geschnetzeltes und Sauerbraten. Zwar hat Christian nie kochen gelernt, aber als er diesen Laden für ein paar Dollars gekauft hatte, hat er ein Kochbuch erworben und sich telefonisch von seinen Schweizer Verwandten diverse Rezepte durchgeben lassen. In der Umgebung gilt er als absoluter Spitzenkoch, und manche Gäste fahren über 100 Meilen weit, um in Christians Kneipe zu Mittag zu essen. Diese Story würde wirklich nirgends besser hinpassen als in das Pionierland Oklahoma!

So langsam kommen wir in die Great Plains, die trockenen Grasländer der Prärie, und überschreiben die Grenze nach Texas. Bestimmt 500 Kilometer fast baumloses und brettebenes Land liegt vor uns, so flach und unendlich, dass die ersten Siedler zur Orientierung Pfähle in den Boden rammten. Staked Plains, das gepfählte Land, nannte man das, auf Spanisch Llano Estacado. Erinnerungen an Karl Mays "Unter Geiern" werden wach, wo schuftige Banditen die Pfähle umsteckten und damit die Planwagentrecks der Siedler ins Verderben führten.

Texas - flach und unendlich McLean (TX)

Diese Sorgen hat man als Route 66-Biker nicht; schließlich leitet uns die Mother Road sicher nach Westen. Aber unser Problem ist der Wind, der hier geradezu unvorstellbar bläst, natürlich so gut wie immer von vorn. Texas ist eine einfach unglaubliche Wetterküche. Kaltluft aus Canada und Warmluft vom Golf von Mexico tauschen sich hier ungehindert aus; es kann an einem Tag 40 °C haben und am nächsten einen Schneesturm geben.

Endlos kurbeln wir in den kleinen Gängen und fühlen uns dabei wie Korken auf dem Ozean. Was wollen wir zwei Winzlinge eigentlich in dieser lebensfeindlichen Ecke? Dazu, Bilanz an Sehenswürdigkeiten bis hier: Der Beton-Blauwal in einem stillgelegten Vergnügungspark, der Einraum-Knast von 1910 in Texola, das Stacheldrahtmuseum in McLean, Schrottplätze, Neons und Antique Shops. Früher wären wir für sowas nicht mal aus dem Auto gestiegen. Doch jetzt zieht uns, bei einem tiefen Gefühl innerer Zufriedenheit, irgendwas wie ein gigantischer Magnet immer weiter nach Westen. Keep on rollin′! Und die wahnsinnige Weite der Plains kratzt an primitiven menschlichen Emotionen auf eine Weise, wie kaum eine andere Landschaft das tut. Verbringe mal einen Abend draußen bei Stanley Marshs Cadillac Ranch, nur mit dem grandiosen Himmel über dir, oder lege, so etwa bei Groom oder hinter Vega, dein Fahrrad auf den Boden und gehe, bei Wind und treibenden Wolkenfetzen, ein paar Schritte in die Unendlichkeit hinaus – dann weißt du, was ich meine.

Texas Junk Cadillac Ranch, Amarillo (TX)

Später kommen sie natürlich doch noch, die "echten" Sehenswürdigkeiten. Santa Fe beispielsweise, New Mexicos Hauptstadt, älteste Stadt der USA mit ihren tollen Indian Art Shops. Gallup dann, gelegen in traumhafter Kulisse aus roten Sandsteinfelsen, wo Hollywood jahrzehntelang großartige Filme gedreht hat, von Redskin bis Superman. Wir sehen versteinerte Baumstämme im Petrified Forest National Park, radeln durch die Painted Desert und steigen in den Grand Canyon hinunter, der nur einen Katzensprung von der Route 66 entfernt liegt. Unten, es ist Mitte November, werden wir von der Hitze fast gegrillt, während am South Rim in 2200 Metern Höhe ein Schneesturm tobt. Der zwingt uns in Flagstaff, 120 Kilometer weiter, zwei Tage zum Pausieren, doch dann geht es 500 Höhenmeter hinab zum Coconino Plateau und wird wieder wesentlich wärmer. By the way: Hinter Texas lässt auch der Wind spürbar nach, und ab dem Red Rock Country und der Arizona State Line haben wir sogar ein paar gänzlich windstille Tage.

Arizona State Line Grand Canyon, South Rim

Weiterhin sind es die kleinen, eher unbedeutenden Dinge, die uns faszinieren. In Holbrook übernachten wir im Wigwam Motel, einem echten Klassiker der 40er-Jahre. Es besteht aus 16 Beton-Indianerzelten und war von Anfang an ein Hit bei den Route 66-Reisenden. Dann Winslow, wo es einen uralten, von Charles Lingbergh persönlich konstruierten Provinzflughafen gibt, auf dem dekorativ ein paar abgewrackte Propellermaschinen herumstehen. Unweit davon halb vergammelt im Dornröschenschlaf das prachtvolle La Posada, früher Flaggschiff der Fred-Harvey-Eisenbahnhotels. Und natürlich die Menschen: John Gross etwa, der in einer stillgelegten Buick-Werkstatt haust, wo er mit seinem Jaguar E-Type und seinen Harleys direkt bis vors Bett fahren kann. Oder Bob Waldmire, selbsternannter Route 66-Caretaker, der in Hackberry fantastische Federzeichnungen mit Route 66-Motiven fertigt, die man überall zwischen Chicago und L.A. als Postkarten kaufen kann. Selbstverständlich lassen wir uns auch von Angel Delgadillo in Seligman die Haare schneiden. Der wurde hier, direkt an der Mother Road, 1927 geboren und seine Stories sind legendär. Angel, nebenbei Gründer der Historic Route 66 Association of Arizona, bearbeitet seine Kunden auch heute noch in dem historischen Friseursessel, den sein Vater 1929 aus St. Louis hat kommen lassen, und hinterher sieht Sybille aus wie mein Großvater väterlicherseits und ich wie eine Kreuzung aus Napoleon und Boris Becker.

Wigwam Motel, Holbrook (AZ) Bei Angel: Gleich fällt die Mähne Bob Waldmire

Bei Topock überqueren wir den Colorado River und somit die Grenze nach California. Das Tal ist eine kleine, grüne Oase, aber dann zieht die Mother Road nochmal alle Register. Vor uns liegt der mit Abstand härteste Teil der Route 66 – die Durchquerung der Mojave-Wüste. Auf über 250 Kilometern gibt es hier nichts als Steine, Sand und ein paar genügsame Chreosotbüsche. Im Sommer kann es hier tagelang am Stück 50 °C geben; damit ist die Mojave-Wüste der heißeste Fleck der USA nach dem Death Valley. Auch wir haben jetzt, Ende November, längst wieder die kurzen Klamotten und den Sunblocker im Einsatz. Und nur ein einziger, kleiner Campingplatz sowie ein derzeit geschlossenes Motel liegen dazwischen, sonst gibt es noch nicht mal die Möglichkeit zum Wasserfassen. Die Logistik muss stimmen auf dieser Etappe! Und man kann sich ja mal überlegen, während man mit zusammengebissenen Zähnen hinter Needles den 30 Kilometer langen Anstieg zum South Pass hoch pedalt, was man hier gemacht hätte so als Okie im klapprigen, überladenen Ford Model A mit vier quengelnden Kindern im Fond und mit überhitztem Kühlsystem.

Nach zwei Monaten, 3700 Kilometern, 9 Plattfüßen und 6 gebrochenen Speichen stehen wir endlich auf dem Cajon Summit, dem letzten Pass, dann setzen wir an zum Sinkflug, eine unvergleichliche Abfahrt über fast 1500 Höhenmeter hinab in die Mega-Stadt Los Angelopolis. Das Ziel der Ziele präsentiert sich als 150 Kilometer Siedlungs-Einheitsbrei; die Route 66 verliert sich im Straßengewirr, und über allem wabert die mieseste Luft aller Zeiten, ein geradezu erbärmlicher Smog.

L.A., Sunset Blvd. We've made it!

Seltsamerweise verspüren wir keine Euphorie, eher ein Gefühl innerer Leere, homeless, no Future, End of the Trail. Wie wir gehört haben, geht es jedem so! Und so erteilt uns die Mother Road, quasi posthum, noch eine letzte, jedoch nicht unwesentliche Lehre: Der Weg ist das Ziel. Die Selbsterfahrung, die man aus den scheinbar alltäglichen Standardsituationen schöpft, ist der Gewinn einer Reise. Und seither waren wir noch x-mal per pedales in den Staaten unterwegs – eigentlich wenigstens einmal so alle zwei, drei Jahre.

Natürlich haben wir zwischenzeitlich auch die Straße aller Straßen noch mehrfach besucht, wenngleich zuweilen per Stippvisite mit dem Auto. Etliche bei unserem Big Trip geknüpfte Freundschaften haben bis heute gehalten. Natürlich bleibt auch die Zeit auf der Route 66 nicht stehen. Einige der alten Koryphären leben heute nicht mehr; Howard Litch starb schon kurz nach unserem Besuch, vor ein paar Jahren auch Lucille Hamons, leider. Selbst Angel trainiert nicht mehr für den Bad Haircut Award; er hat seinen Laden zum Gift Shop umfunktioniert. Es entwickelt sich langsam ein (bescheidener) Tourismus an der Mother Road, und so manches Juwel ist wieder instandgesetzt und neu eröffnet, das Hotel La Posada in Winslow zum Beispiel, wo wir zwischenzeitlich eine wunderbare Nacht verbrachten. Die Route 66 Associations sorgen dafür, dass immer mehr Road Closed-Schilder verschwinden und dass die alte Straße heute wieder meistens leicht zu finden ist – in Illinois beispielsweise ist sie jetzt mit braunen Historic Route 66-Tafeln perfekt ausgeschildert. Trotz Tourismus steckt noch vieles im Dornröschenschlaf, und der alte Charme sitzt auch weiterhin in jeder Ecke. Die Route 66 keine Fahrradstrecke? Wir sagen, sie ist die beste!

Main Street of America

Das originale Roadbook zur Tour mit sämtlichen damals ermittelten km-Angaben halten wir noch als Fotokopie bereit (21 Seiten / 11 Blätter A4). Man kann es bei uns zum Selbstkostenpreis von 6.- € inkl. Porto (innerh. Deutschland) bestellen (Kontakt) – es ist aber von 1994/95, zwar von hohem Nostalgiefaktor, aber höchstens in Teilen noch aktuell. Vielleicht schaffen wir es ja mal, dieses Roadbook als PDF zum Download hier einzustellen.

Now – get your Kicks on Route 66! Wir freuen uns auch über Zuschriften, über Links zu Reiseberichten (von Radlern natürlich:-) und über Hinweise zu wichtigen Änderungen an der Mother Road, die wir dann gerne hier posten werden. Vielleicht lässt sich ja dann eine kleine Datensammlung für "Nachradler" anlegen …

Happy Trails, Sybille & Thomas

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