Indian Summer Tour

Indian Summer Tour

Ein Sonntagmorgen im August, Lufthansa-Flug 5426 nach Toronto, durchgeführt von Air Canada. Pünktlich rollt der große Flieger in Frankfurt zur Startbahn, schwingt sich hinauf in einen wolkenlos blauen Himmel – für uns der Beginn einer langen Radtour in einer Ecke Amerikas, die wir schon lange mal sehen wollten. Ontario, Québec, der St.-Lorenz-Strom, die US-Neuenglandstaaten, letztere hoffentlich bei schönster Fall Foliage, dann das Hudsontal hinab und Finale in den Straßenschluchten von New York… Vorausgegangen sind drei Monate intensiver Planung. Diese Reise führt uns in eine der am dichtesten besiedelten Regionen Nordamerikas, doch deren Juwelen liegen weit verstreut und sind oft nur über anstrengende Umwege zu erreichen. Dazu kommt, dass gerade New England auf der Wunschliste unzähliger Touristen ganz oben steht, natürlich speziell im September und Oktober. Vergiss also die Regel: "Nach Labour Day kommst du überall gut unter, weil Ferienende" – von wegen! In den Neuenglandstaaten beginnt dann die Peak Season.

Gespannt, aber voller Vorfreude lehnen wir uns also in unseren Sesseln zurück. Vor allem Kanada kennen wir bislang überhaupt nicht, abgesehen vom Yukon-Abschnitt des Alaska Highways und einem kurzen Eindruck von Vancouver. Aber ein sehr sympathisches und interessantes Land soll das sein, mit absolut positivem Ruf auf der ganzen Welt, dazu ausgesprochen radlerfreundlich. Und Air Canada führt uns das gleich schon ganz eindrucksvoll vor: Gerade mal 35 € nehmen sie hier für den Radtransport, weniger als auf jedem Flug nach Malle – da kommt schon mal Freude auf!

Am frühen Nachmittag sind wir in Toronto, und sogar komplett mit unserem ganzen Geraffel. Ein freundlicher Shuttle Bus Driver der Marriott Towne Place Suites ("Two Bike Boxes? No Problem") holt uns ab, kurze Fahrt, und dann kriegen wir ein super Zimmer mit kleiner Küche und allen Annehmlichkeiten. Gleich werden die Räder ausgepackt und zusammengesetzt – hurrah, alles funzt, und (bis auf einen Kratzer) ist auch noch alles heil. Uff, uns fällt ein Riesen Stein vom Herz! Kleine Probefahrt zur nahen Petrocanada-Tanke, den Luftdruck regulieren: Pressluft kostet 1 $ CDN pro zwei Minuten, es sei denn, dass man auch tankt. Gleich nimmt das ein netter Autofahrer auf seine Kappe, lässt die da drinnen zweimal den Kompressor wieder anschmeißen, nur damit wir zwei Radler nix bezahlen müssen. "Welcome to Canada!", werden wir verabschiedet, also so was!

Weiter zum Supermarkt, ein gutes Abendessen gekauft – leider gibt′s kein Bier! Dazu muss man in Ontario in den staatlichen LCBO Store, der macht sonntags um 18.00 Uhr dicht und jetzt ist es 10 nach. Das finden wir jetzt gar nicht radlerfreundlich! Na gut, damit kann man gerade noch leben, wenngleich auch schwer:-)

Das sollte aber, um es vorwegzunehmen, der einzige Negativpunkt bleiben. Toronto ist eine der besten Städte für Radler weltweit und stellt selbst das radlerfreundliche Rest-Kanada in den Schatten. Von unserem Airport-Hotel draußen in Mississauga gehen wir die gut 20 km nach Downtown am nächsten Morgen natürlich gleich mal per pedales an. Schon die Anfahrt gestaltet sich ganz entspannt; die Straßen sind breit, jede Menge Radler unterwegs. Die Autofahrer verhalten sich ausgesprochen rücksichtsvoll – wenn man sich beispielsweise hinter einem rechts blinkenden Auto an der Ampel eingeordnet hat und es wird Grün, so lässt der Fahrer erst mal den Radler (und ggf. alle noch folgenden) vorbeiziehen, bevor er zum Abbiegen ansetzt. Wir sind platt vor Staunen – da sind wir aus Germany anderes gewohnt! Schon lange gibt es hier auch ein gutes Mietradsystem, in der ganzen Stadt perfekte Radständer, viele und oft recht schnelle Radwege, Einbahnstraßen-Benützung in Gegenrichtung sowieso. Und wir haben nicht einen einzigen Kanadier wegen einem Radler hupen hören – ein freundliches Miteinander, sagenhaft!

Für sein freundliches Miteinander ist Toronto aber auch anderweitig bekannt. In dieser höchst angenehmen Stadt leben nämlich unzählige Ethnien friedlich zusammen, etwa wie in San Francisco oder auch in Vancouver. Die fast perfekte Multikulti-Gesellschaft ist hier verwirklicht; die vielen Länder-Viertel geben der Stadt einen einzigartigen Flair. Auf der Dundas Street passieren wir das Malta-Viertel, Klein-Portugal und zum Schluss die quirlige Chinatown, eine der größten der Welt. Torontos Wirtschaft boomt, auch wegen dem immer noch nicht nachlassenden Strom an Einwanderern. Über 50% der Bewohner stammen mittlerweile nicht mehr aus Kanada, sondern sind Immigranten aus rund 200 Kulturkreisen. Und dabei gilt Toronto als sicherste Stadt Kanadas.

Jetzt eine Runde zu Torontos Sehenswürdigkeiten. Interessant ist die moderne City Hall, dicht dabei das Eaton Centre, eine riesige Shopping Mall mit Glasdach und Zugang zu 12 km unterirdischen Einkaufsstraßen. Gegenüber dann das historische Gebäude der einst mächtigen Hudson′s Bay Company – sie existiert heute noch und gilt als eine der ältesten Handelsgesellschaften der Welt. Vis à vis vom netten Flatiron Building (das Original – das in NYC entstand erst etliche Jahre später) gibt′s dann einen kleinen Lunch im Straßencafé, dazu ein echtes Stiegl Bier aus Salzburg. Toronto, Zentrum des Welthandels… So lassen wir es uns gefallen!

Sightseeing per Rad ist absolut genial. Weiter geht′s: Toronto gilt auch als Hochburg von moderner Architektur und Design. Da gibt es z.B. das Sharp Centre for Design der OCAD-University, das wie ein riesiger Mosaik-Tisch wirkt, und das Royal Ontario Museum mit seinem genialen Anbau von Daniel Libeskind, dem Mentor des neuen One World Trade Centers in New York. Es folgt eine Runde durch die Harbour Front, geprägt durch tolle moderne Wohnanlagen und ansprechende Parks, ein sehr nettes und entspanntes Ambiente auch hier.

Jetzt fehlt nur noch der himmelhohe CN-Tower, mit 553 m für über 30 Jahre das höchste Gebäude der Welt. Der erweist sich allerdings als rechter Nepp: Für 72 $ CDN (2 pax) stehen wir eine gute Stunde in der Schlange, um dann oben gar nicht auf allen Seiten hinunter schauen zu dürfen. Für einen vollen Blick auf den Lake Ontario muss ich mich mit gezückter Kamera ins Restaurant schleichen. Der Kellner, ganz der freundliche Kanadier, drückt dabei beide Augen zu. Vielleicht war′s aber auch der Radlerbonus – wir sind immerhin die einzigen Touris hier, die das Panorama in Rad-Klamotten und mit Helm genießen:-)

Toronto – Rochester (350 km*)

Fast schon etwas wehmütig verlassen wir Toronto – eine Stadt, in der man wahrlich leben könnte! Doch irgendwann muss es weitergehen. Wir wählen die Südufer-Route, denn die Niagarafälle lassen wir uns natürlich nicht entgehen. Das halbe Hotelpersonal steht zum Abschied Spalier ("Good Luck! Stay safe!"), als wir mit unseren voll bepackten Iron Horses aus der Einfahrt schaukeln. Dann geht es erst mal gut 10 km durch ausgedehnte Gewerbegebiete, bis wir die Lakeshore Road erreichen.

Der Lake Ontario ist der kleinste der fünf Großen Seen Nordamerikas, aber immer noch so groß wie Rheinland-Pfalz oder 35 mal größer als der Bodensee. Vom Ufer aus wirkt er wie ein Meer, hat auch teilweise einen schönen Sandstrand und weist sogar Gezeiten auf. Wir passieren nette Parks mit Picknickbänken, tolle Villen in parkartiger Umgebung und teilweise hübsche Dörfer, wo die Leute auf der Straße flanieren. Der See friert zwar im Winter ein paar Monate zu, aber im Sommer wirkt er als Wärmespeicher, was sogar einen recht ergiebigen Weinbau ermöglicht. Etliche gut aussehende Wineries säumen unseren Weg, umgeben von weiten Rebflächen – eine gesegnete Gegend! Natürlich gibt es auch einen tollen Radweg, den Waterfront Trail, dem wir ab Burlington folgen. Später wechseln wir auf die Frontage Road des Queen Elizabeth Way hinüber, die Parallelstraße zur Autobahn nach Niagara.

Nach 107 km beenden wir unsere erste Etappe im Ramada Beacon Harborside Hotel in Jordan Station. Zum Glück haben wir reserviert, sonst wären wir auf der Straße gestanden! Eine Erfahrung, die uns ab sofort auf dieser ganzen Reise begleitet – Hochsaison eben, immer und fast überall. Gerade hier hätte es auch nicht einmal einen Zeltplatz gegeben, auf den man hätte ausweichen können. Wir werden also sehr vorausplanend reisen müssen! Sybille hat deshalb schon zu Hause eine 8-seitige Liste mit in Frage kommenden Accomodations angelegt. Zum Glück haben alle Hotels WiFI, so dass die Buchung für den nächsten Tag kein Problem ist. Und in besonders touristischen Gegenden buchen wir jetzt bis zu einer Woche im Voraus. Klingt ein bisschen nach Stress und ist es auch, wenn man jeden Abend eine Weile im Büro, sprich vor dem Computer sitzt… Doch vor allem im Herbst in New England, wenn es schon um 18.00 Uhr dunkel wird und oft auch sakrisch kalt, ist das auf jeden Fall besser, als den Abend und die Nacht auf einem entlegenen und finsteren Campground im Wald zu verbringen. Zufrieden mit unserer Planung stellen wir also auf dem Balkon des Beacon Harborside Resorts unseren Gaskocher auf und dinieren mit hübschem Blick auf die kleine Marina und den Lake Ontario einen erstklassigen Gulasch mit Gemüse aus der Dose. Ein paar Kanada-Gänse sind auf den Wiesen am Picken und auf der anderen Seite des Sees sieht man gerade noch die höchsten Gebäude von Torontos Skyline mit dem CN-Tower hervorspitzen, der Rest wird von der Erdkrümmung verschluckt. Dann beschließt ein genialer Sonnenuntergang diesen schönen Tag.


Am nächsten Morgen geht es auf der Lakeshore Road weiter. Bald überqueren wir den Wellandkanal auf interessanter Zugbrücke. Unter uns liegt Lock 1, die erste von acht Schleusen, über die selbst Seeschiffe vom Ontariosee hinauf zum Eriesee geliftet werden können. Der Niagara River ist ja wegen seiner Fälle nicht befahrbar – außer für extreme Abenteurer (dazu weiter unten mehr). Hier begegnen wir jetzt erstmals dem St.-Lorenz-Seeweg, der für gut 1000 Kilometer die Leitlinie unserer Tour sein wird. Schon imposant, diese Kanal-Betonrinne, Nadelöhr einer der der meistbefahrenen Binnenwasserstraßen der Welt – doch uns interessiert im Moment viel mehr der Niagara River, geschichtsträchtig und für seine schöne Uferlandschaft bekannt. Gehört irgendwie einfach dazu, wenn man auf einer Radtour zu den Niagarafällen vordringen will, one of North America′s most important Natural Wonders.

Niagara-on-the-Lake, gelegen an der Mündung des Niagara in den Ontariosee, ist schon mal sehr nett; es wurde etliche Mal als schönstes Dorf Kanadas gewählt. Hier beginnt der historische Niagara Parkway, begleitet von einem hübschen Radweg. Begeistert radeln wir dahin, durch herrliche grüne Parks, vorbei an teils tollen Villen, durch ausgedehnte Waldflächen und oft mit wunderbarem Blick auf den Fluss. Dabei geht es permanent leicht und auch ab und an kräftig bergauf – der Eriesee liegt gut 100 m höher als der Ontariosee, sonst gäbe es statt der Fälle nur einen sich träge dahinschiebenden Strom. Wir kommen am kanadischen Wasserkraftwerk vorbei, an einer mit 19.000 Pflanzen gestylten Blumenuhr, sehen unter uns den berühmt-berüchtigten Whirlpool liegen, und dann, nach einer Kurve – die Niagarafälle. Hmhm, hmhm, nunja.

Also, wenn man schon mal in Brasilien die Iguaçu-Fälle erlebt hat, dann kann man nicht anders, man empfindet (als Schwabe) dieses Gewässer hier bestenfalls als einen doppelten und etwas auseinander gezogenen Uracher Wasserfall. So ähnlich ging es auch schon Eleanor Roosevelt, der Frau des 32. Präsidenten der USA, die in Iguaçu ausgerufen haben soll "Poor Niagara! – Ach, ihr armen Niagarafälle! Dagegen wirkt ihr wie ein Küchenwasserhahn!" Und Oscar Wilde meinte sarkastisch, nachdem seit Beginn des 19. Jh. speziell Hochzeitsreisende ein Faible für Niagara entwickelt hatten, die Fälle seien – nach der Hochzeitsnacht – die zweite große Enttäuschung.

Das ist natürlich schon ein bisschen ungerecht. Die Niagarafälle sind mit einer Höhe von 59 Metern und einem mittleren Durchfluss von 6000 Kubikmeter pro Sekunde immer noch die wasserreichsten Fälle Nordamerikas und eine der wasserreichsten der Welt. Doch sie werden gnadenlos vermarktet und scheinen mitten in einer Großstadt zu liegen, dabei jedes zweite Haus ein Hotel. Wir arbeiten uns mit unseren Schwertransportern durch einen wahren Rummelplatz am Clifton Hill, vorbei an Ripley′s "Believe it or not", Madame Tussaud’s Wax Museum, geschätzten 50 Spielhöllen, 100 Discos und beschallt von einem Höllenlärm zu unserem Hotel in der zweiten Reihe – wo wir natürlich schon wieder nicht mehr untergekommen wären, hätten wir nicht reserviert. Jährlich wollen rund 15 Mio. Besucher (!) diese Attraktion erleben. Und so spulen wir unser Besichtigungsprogramm ein bisschen genervt herunter, obwohl wir uns einer gewissen Faszination auf den zweiten Blick doch nicht entziehen können. Wenn man mal direkt an der Abbruchkante steht, oder der Panoramablick vom Skylon Tower – das hat schon was. Nur die Fahrt mit der Maid of the Mist schenken wir uns, nachdem wir die zwar begeisterten, aber tropfnassen Teilnehmer über die Uferpromenade wandeln sehen – wir wollen ja nicht unbedingt unsere Kamera unter Wasser setzen.


Faszination Niagara – das treibt natürlich auch so seine Blüten. Staunend stehen wir in der Daredevils Exhibit im IMAX Theatre vor den Fotos und Gerätschaften jener Abenteurer, die nach dem Motto "Über die Fälle – tot oder lebendig" auf sich aufmerksam machen wollten. Da war etwa Annie Edson Taylor, eine 63-jährige Lehrerein, die dringend Geld brauchte. Sie befuhr die Horseshoe Falls anno 1901 gemeinsam mit ihrer Katze in einem Holzfass, das sie mit einem Korken verschließen ließ. Vorher war es mittels einer Fahrradpumpe (!) mit frischer Luft befüllt worden. Durch diesen geglückten Stunt wurde sie zwar über Nacht berühmt, starb aber trotzdem Jahre später im Armenhaus. Andere starben oft schon gleich in den Wassern des Niagara, wie etwa ein gewisser Robert Overacker, der die Sache 1995 mit einem Jetski anging und dessen Fallschirm sich nicht öffnete. Der Kanadier Dave Munday hingegen konnte vom Thrill der Fälle gar nicht genug kriegen und überwand sie gleich zweimal. Und der Zirkusakrobat Blondin querte schon Mitte des 19. Jh. den Niagara 17-mal auf dem Hochseil, einmal gar mit dem Fahrrad. Ohne Reifen, nehmen wir mal an. Ein andermal musste sein Manager mit herhalten, den er auf den Schultern hinübertrug. Rund 100.000 Zuschauer sollen dem Spektakel beigewohnt haben. Und einmal führte er einen befeuerten Eisenofen mit, auf dem er sich in luftiger Höhe ein Omelett briet. Mahlzeit!


Wird Zeit, dass wir weiter kommen. Am nächsten Morgen überqueren auch wir den Niagara per Rad, jedoch mit Reifen und auf der Rainbow Bridge. Dabei stehen wir mit unseren bepackten Rädern eine ganze Weile im Stau, bis wir uns endlich der gut einstündigen Grenzabfertigungsprozedur unterziehen und dann ins Verkehrsgewühl von Niagara Falls (USA) eintauchen dürfen. Nach einer kurzen Runde über die Wasserfall-Aussichtspunkte an der US-Seite ist es schließlich Nachmittag, als wir auf den Niagara Historic Trail einschwenken, das Pendant zum Niagara Parkway auf der kanadischen Seite. Und in Youngstown treffen wir dann auf die Lake Road parallel zum See. Jetzt sind wir auf dem Seaway Trail, einem der Nat’l Scenic Byways der USA.


Rund 400 km geht es jetzt wieder am Lake Ontario entlang, mal direkt am Ufer, mal in einiger Entfernung, bis wir dessen östliches Ende erreichen, dort, wo sozusagen der St.-Lorenz-Strom geboren wird. Eine angenehm ländliche und dünn besiedelte Gegend – in Upstate New York erinnert absolut nichts an die brodelnde Weltstadt gleichen Namens. Es gibt kaum Verkehr, aber auch fast keine Motels. Dafür ist der See gesäumt von einer Reihe wunderbarer State Parks mit teils traumhaften Zeltplätzen. Die sind vor allem bei Sportfischern beliebt, die mit fetzigen Booten anrücken, bestückt mit tausend Angeln. Der restliche Verkehr beschränkt sich auf ein paar Wohnmobile, Traktoren mit landwirtschaftlichen Geräten im Schlepp – und auf die Pferdekutschen der Amish People, die auf nette Weise das Landschaftsbild beleben. Und mit ihren genialen Obstständen beleben die Amish unseren Speisezettel, denn ihre köstlichen Pfirsiche und Äpfel retten unseren bald völlig darniederliegenden Vitaminhaushalt. Das ist viel wert, wenn nur alle 40 km ein Tankstellenladen kommt, der dann außer Microwave Burritos, Potato Chips, Donuts von vorgestern und Dosensuppen fast nur Angelzubehör im Sortiment hat.

Die einzige Großstadt in Upstate New York ist Rochester, 210.000 Einwohner. Als Tourenradler kommt man kaum an ihr vorbei, und das wollen wir auch gar nicht. Zum einen gibt es hier die ersten richtig guten Supermärkte seit Niagara Falls – endlich mal wieder die Provianttasche mit lange entbehrten Dingen füllen! Und zum anderen lebte und wirkte in Rochester George Eastman, Fotopionier und Gründer der Firma KODAK. Eastmans Wohnhaus ist heute ein sehr gutes Museum – Nostalgie pur! Für mich (Thomas) ein Must See, haben mich doch viele der einst genialen KODAK-Produkte ein halbes Leben lang begleitet. Angenehme Erinnerungen werden wach: Instamatic 100, die alte Faltenbalg-Retina, der legendäre Kodachrome-Diafilm… Der Aufsprung auf den digitalen Zug ist KODAK dann leider erst verspätet und mit dem falschen Fuß gelungen. Das riesige Werksgelände, das wir auf unserer Fahrt durch Rochester passieren, wirkt aber immer noch gepflegt und sauber. Wie man hört hat die KODAK Company sich in kleinerem Rahmen konsolidiert, produziert jetzt in erster Linie hochwertige Drucker und ist dabei, sich zu erholen – wir würden es ihr gönnen. Schon damit George Eastmans Erbe weitergeführt wird.


Rochester – Ottawa (490 km*)

Weiter geht es auf dem Seaway Trail. Schon wenige Meilen nach Rochester radeln wir wieder durch dünn besiedeltes Farmland, aufgelockert durch kleine Wäldchen und weit verstreute Käffer mit Namen wie Sodus, Mexico und Henderson. Es gibt mehr Auto- und Traktorenwerkstätten, Gebrauchtboothändler und Hundezüchter an der Straße als Grocery Stores, und als viel beworbene Attraktion das world famous Battlefield of 1812 in Sackets Harbor, wo weiland die Engländer von den Yankees eins auf die Mütze kriegten. Sehr wichtiges welthistorisches Ereignis – manche Amis machen hier eine Woche Urlaub, informieren sich auch noch über den letzten Hosenknopf, den General Jacob Brown dort verloren haben könnte, und es gibt sogar Special Events für Schulklassen, für den jährlichen Ausflug etwa. Dafür waren wir noch vor wenigen Jahren in den USA gefragt worden: "Are you from Germany (East) or from Germany (West)?"

Patriotisch angehauchte Militärgeschichte reißt uns jetzt nicht gerade vom Hocker, doch landschaftlich ist diese Ecke hier unbedingt eine genauere Betrachtung wert. Dort, wo der Lake Ontario in den St. Lawrence River übergeht, erstreckt sich nämlich die Thousand Islands Region. Der Name sagt schon alles – in den noch jungen, aber schon mehr als eine Meile breiten Strom ist eine Vielzahl an Inseln jeder Größe eingesprenkelt, für die die Zahl 1000 eher noch niedrig angesetzt ist. An die 2000 sollen es sein, wenn man jede Sandbank und jeden Mini-Felsbuckel mitrechnet. Vom netten Picknickplatz im Grass Point State Park, wo wir zum ersten Mal auf den St. Lawrence stoßen, schweift unser Blick über wenigstens fünf solche Eilande, von denen das kleinste grade knapp Platz für eine Hütte, eine Grillkugel und zwei Campingstühle bietet. Keine Frage, ein Bootstrip in dieses Schären-Gewirr ist ein Muss! Und das Boardwalk Motel in Alexandria Bay, wo wir für zwei Nächte vor Anker gehen, hat gar seine eigene Gäste-Marina. Uns wird langsam klar, warum hier bald jeder ein Boot besitzt. Muss genial sein, so eine mehrtägige Skipper-Tour – in Upstate New York gibt es sogar State Parks mit Campgrounds, die nur per Boot erreichbar sind. Und am Abend hauen wir ein paar gute Steaks auf den moteleigenen Barbecue draußen am Steg, das Menü komplettieren Knoblauchbrot, Salat und ein paar Bier – kann das Leben schöner sein? Dazu der Blick hinüber zum beleuchteten Boldt Castle auf Heart Island; ein Leuchtfeuer blinkt sein Signal herüber, als hätte es alle Zeit der Welt… Wir bleiben ewig sitzen, bis die Feuchtigkeit kräftig aus dem Strom aufsteigt und es ungemütlich werden lässt.

Als gemeine Landratte und Nicht-Bootsbesitzer wendet man sich für seine Insel-Rundfahrt an Uncle Sam Tours und hat eine Auswahl vom einstündigen Kurztrip über die "Dinner Cruise" bis zur Führung durch das Insel-Schloss des einstigen Nähmaschinen-Magnaten Singer. Wir entscheiden uns für die Two Nations Tour bis hinüber in kanadische Gewässer, unter der riesigen 1000 Islands Bridge hindurch und entlang der "Millionaires Row". Gute Wahl – wir hören spannende Anekdoten illustrer Inseleigner, die es, auf welche Art auch immer, zu teils beträchtlichem Vermögen gebracht hatten. Da war etwa der frühere Flusspirat, der dann auf seiner eigenen Insel in Rente ging, oder der Industrie-Boss George M. Pullman. Jener ließ anno 1865 den ermordeten Präsidenten Lincoln in einem seiner luxuriösen Schlafwagen zum Begräbnis transportieren und konnte mit diesem genialen Marketing-Schachzug den Umsatz seiner Firma um ein Vielfaches steigern.

Doch die beste Story ist natürlich die von Boldt Castle, erbaut ab 1900 von einem gewissen George C. Boldt im Stil der Rheinromantik. Boldt war als Kind mit seiner Familie 1864 völlig mittellos aus Preußen in die USA gekommen, wo der junge George dann in New York als Küchenhelfer begann und es später bis zum Manager des Waldorf Astoria Hotels brachte. Das Inselschloss sollte eine Liebeserklärung an seine Frau Louise werden und war fast fertig, als Louise 1904 unerwartet mit nur 45 Jahren verstarb. Boldt setzte ab diesem Tag nie wieder einen Fuß auf die Insel, die in den letzten Zügen liegenden Bauarbeiten wurden eingestellt  und das Haus fiel in eine Art Dornröschenschlaf, bis es 1977 von der Thousand Islands Bridge Authority übernommen wurde. Damals war Boldt Castle fast zur Ruine verkommen, hatte Alkoholschmugglern während der Prohibition als Warenumschlag und später Vagabunden als Nachtquartier gedient und drohte einzustürzen – jetzt ist es wieder mustergültig restauriert. Und so verdanken wir George Boldt heute nicht nur die Hauptattraktion der Thousand Islands, sondern auch die bekannte Thousand Island Dressing. Sie war vom Maître d' Hôtel Oskar Tschirky für seinen Chef kreiert und über die Küche des Waldorf Astoria geadelt worden. Und wir verdanken der Familie Boldt einen anregenden und interessanten Nachmittag.


Für die Weiterfahrt nehmen wir nicht die Thousand Islands Bridge (darüber führt eine Interstate und wir hätten auf dem Gehweg schieben müssen), sondern radeln wieder ein Stück nach Westen, flussaufwärts bis Cape Vincent. Von dort kommt man mit der Wolfe Island Ferry wieder hinüber nach Ontario. Das heißt, eigentlich sind es zwei Fähren – die erste, ein gemütlicher, kleiner Motorponton, fasst gerade mal sechs Autos, und heute nicht mal das. Denn es ist Sonntag und eine ganze Menge Radler wollen mit – auch Upstate New York ist ausgesprochen radlerfreundlich, das muss hier unbedingt gesagt werden. Fast schon wie drüben in Kanada – auf dem kleinen  Campground in Sodus Point etwa kriegten wir einen Radler-Rabatt und dann noch einen Packen Feuerholz geschenkt ("nice to have you here!"), bei George Eastman stellte man einen eigenen Wachmann (!) für unsere bepackten Räder ab, und jeder will natürlich wissen, woher und wohin – "oh, great! Be careful!" Selbst die Grenzer auf Wolfe Island legen ihre strenge Amtsmiene ab und die Kolonne muss warten, bis der Rennradfahrer aus Syracuse ausführlich seine elektronische Dura-Ace-Schaltung erklärt hat. Sicher, es gibt Ausnahmen. Doch jedes Mal empfinden wir den gesellschaftlichen Umgang in Nordamerika als so eine Art Wohlfühlklima.

Auf die Fähre von Wolfe Island nach Kingston hinüber müssen wir dann eine Weile warten. Dabei werden wir von Werner und Joan angesprochen, beide im Rentenalter, natürlich auch mit dem Rad unterwegs. Werner stammt aus Wien, Joan aus Toronto, und gleich werden wir zum Abendessen eingeladen. Am Abend radeln wir dann von unserem Hotel am Fähranleger in die King Street West hinaus, wo Werner und Joan ein Apartment in einer hübschen Wohnanlage haben, mit tollem Blick vom Balkon genau auf die Stelle, wo der St. Lawrence River geboren wird. Es wird ein netter Abend bei guten Pasta mit Gemüse, Salat und einem feinen Merlot aus Niagara-on-the-Lake und einem Frozen Yoghurt mit Heidelbeeren als Nachtisch. Werner, der schon seit seinem 12. Lebensjahr in Kanada wohnt, war Ingenieur bei Electrolux, Joan war Dozentin an der Uni und hat ein Jahr in Halle an der Saale verbracht. Die beiden sind wie wir ständig mit dem Rad unterwegs, oft auch mit dem Kajak, mit dem man hier gleich vom eigenen Garten in See stechen kann. Beneidenswert, so ein Leben – manchmal fragen wir uns, ob wir nicht im falschen Land wohnen…

Unser nächstes Ziel ist Ottawa, die kanadische Hauptstadt. Dorthin kommt man von Kingston über die Route 15, stark befahren, oder entlang dem historischen Rideau Canal. Der soll einen nostalgischen Charme verbreiten wie etwa der Canal du Midi in Frankreich, schon freuen wir uns auf romantische Treidelpfade – und reißen dann doch den größten Teil der Strecke auf der Route 15 herunter. Denn zum ersten Mal auf dieser Tour regnet es, und zwar wie aus Kannen. Na gut, da kann man nichts sagen nach über zwei Wochen, doch da hilft nur Genick einziehen und durch. Dieses nette Roadbook haben wir also umsonst dabei – vielleicht inspiriert es ja ein paar "Nachradler". Immerhin können wir am nächsten Tag noch zuschauen (jetzt wieder bei bestem Wetter), wie die historische Schleuse bei Manotick mittels riesiger Handkurbeln geöffnet und geschlossen wird. Und wenn ein Auto kommt, müssen die Jungs auch noch eine knarrende Drehbrücke bedienen. Ein Knochenjob, immer noch genau wie bei der Inbetriebnahme anno 1832, aber sehr sympathisch, das Ganze. Dann führt uns der hier erstklassig asphaltierte Treidelpfad mitten hinein nach Ottawa, wo der Rideau Canal über eine ganze Schleusentreppe Anschluss an den Ottawa River hat. Dieser Kanal ist mit Recht eine World Heritage Site!


Ottawa, genannt "Westminster in the Wilderness", wurde 1857 von Queen Victoria als Kapitale bestimmt, mit beeindruckendem politischem Weitblick: Hier verläuft nämlich die Grenze zwischen dem anglo- und dem frankophonen Kanada, und es war weit genug entfernt vom damaligen Feind, den Yankees. Wir sind allerdings weniger wegen dem neugotischen Regierungsviertel auf dem Parliament Hill hierher gekommen (obwohl dieses sehenswert ist, keine Frage), sondern aus zwei Gründen: Erstens gibt es hier das hoch gelobte Canadian Museum of Civilizations, und zweitens die Headquarters der Royal Canadian Mounted Police, der berühmten Mounties. Die fotogenen Rotröcke mit dem guten Image als höfliche, aber tüchtige Polizisten, die garantiert jeden Verbrecher fangen ("the Mounties always get their man") sind heute natürlich nur noch selten in ihrer Paradeuniform anzutreffen, sondern eine moderne Polizeitruppe mit immer noch erstklassigem Ruf. Doch die Ställe, wo die Pferde für den jährlichen Musical Ride stationiert sind, liegen nur wenige km von unserem Hotel entfernt. Natürlich reiten wir mit unseren Iron Horses dort hinaus und erleben sogar eine der nicht allzu häufigen Vorführungen. Unglaublich, welche Anforderungen hier an Mensch und Pferd gestellt werden: Die zweibeinigen wie auch die vierbeinigen Polizeibeamten werden einer strengen Auslese unterzogen und müssen sich regelrecht hochdienen, siehe hier.

Das kanadische Bevölkerungsmuseum liegt auf der anderen Seite des Ottawa River bzw. der Rivière des Outaouais, in Gatineau, einstmals Hull. Ist schon lustig; man radelt über die Brücke und hier wird Französisch gesprochen – wir sind jetzt in Québec, dem flächengrößten (wenn auch nicht bevölkerungsreichsten) Bundesstaat von Kanada. Dort gehen wir zunächst mal ins Maison de Tourisme und kaufen eine Straßenkarte. Dabei fällt uns auf, dass die Mädels im offiziellen Touristenbüro sich sehr schwer tun mit Englisch. Wir geben uns ja Mühe, aber selbst wenn wir etwas auf Englisch fragen, weil wir das französische Pendant nicht parat haben, kriegen wir eine französische Antwort. Draußen hängt großmächtig die Québec-Flagge mit den weißen Bourbonen-Lilien auf blauem Grund – das kanadische Ahornblatt flattert darunter und ist wesentlich kleiner. Hoppla!

Das Museum jedoch ist erstklassig gemacht. Wir verbringen fast drei Stunden dort, vor allem in der Canada Hall, wo sämtliche Landstriche dieses zweitgrößten Staats der Erde beschrieben sind, samt Geschichte ihrer Besiedlung durch den Weißen Mann, aber auch die wichtigsten Gruppen der First Nations. Sehr beeindruckend auch die Sonderausstellung "Face to face" über Personen, die das moderne Kanada und seine Rolle in der Welt wesentlich mitgeprägt haben. Wie etwa der frühere Premier Pierre Trudeau, Vater der kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten, in der unter anderem der Schutz des Multikulturalismus verankert ist. John Lennon sagte einst über ihn: "If all politicians were like Pierre Trudeau, there would be world peace". Das passt exakt zu dem Kanada, das wir immer erlebt haben.

Ottawa – Québec City (470 km*)

Am nächsten Morgen geht es weiter, auf der Ontario-Seite des Ottawa-Flusses. Es ist wieder grau und regnerisch heute, doch wir kommen gut vorwärts, trotz etlichen bislang in Kanada nicht gekannten Hügeln. Québec erreichen wir wieder kurz hinter Hawkesbury und merken es sofort: Die Route 17 heißt jetzt QC 342 und führt durch hübsche Dörfer – fast meinen wir, in Frankreich zu sein. Und Bier gibt es hier überall im Supermarkt, nicht mehr im speziellen LCBO-Store. Das feiern wir mittags gleich auf einer netten Picknickbank in Vaudreuil-Dorion mit einem gepflegten Lunch (inkl. Baguette!) und zwei Bier statt einem.

Doch auch hier benehmen sich die Québecois, als gäbe es keine andere Sprache auf der Welt als Französisch. Zweisprachige Straßenschilder wie drüben in Ontario – adieu! Auf dem international gebräuchlichen Stoppschild steht hier "Arrêt" und – besonders fies – an Sackgassen fehlt das das sonst in ganz Kanada wie auch bei uns übliche blau-weiß-rote Symbolschild; stattdessen liest man "Cul-de-Sac". Man könnte grad meinen, sie stehen hinter dem Vorhang und grinsen sich eins, wenn einer aus Ontario in eine solche Gasse hineinfährt und fluchend wieder herauskommt.

Dazu prangt auf jedem Autonummernschild der Spruch "Je me souviens" – ich erinnere mich. An die verlorene Vorherrschaft in Kanada nämlich, die die Franko-Kanadier bereits 1713 im Frieden von Utrecht an die Engländer abtreten mussten. Auch heute noch gibt es regelmäßig separatistische Aktivitäten: 1980 und nochmal 1995 scheiterte ein Referendum zur Abspaltung Québecs von Restkanada nur denkbar knapp (49 zu 51%). Es soll sogar schon Anzeigen gegen Geschäftsleute gegeben haben, die ihren Laden zweisprachig beschriftet hatten. Mit einem solchen nationalen Dünkel können wir nun wirklich überhaupt nichts anfangen. Easy going Ontario – wir werden dich vermissen! By the way, Toronto verdankt seinen raschen Aufstieg und Wohlstand nicht zuletzt den vielen genau aus diesem Grund von Montréal und Québec City abgewanderten Investoren, die ihre Flocken lieber in einem liberaleren Klima anlegen wollten – man kann es ihnen nicht verdenken. Immerhin, die Liberalen sollen zwischenzeitlich auch in Qüébec eine eindeutige Mehrheit haben.

Montréal, die zweitgrößte französischsprachige Stadt der Welt nach Paris, ist unser nächstes Ziel. Die Anfahrt ist nicht ganz unproblematisch; der größte Teil der Stadt liegt auf einer weitläufigen Insel und fast alle Zufahrtsbrücken sind Autobahnen. Jetzt aber spielt der französische Kultureinfluss seine absolut positive Karte aus, denn wie en France hat man in Québec ein ganz besonderes Herz für Radler: Hier gibt es das geniale System der "Routes Vertes" mit seiner erstklassigen Website. Aus dieser und mit Hilfe von Google Maps haben wir uns schon am Hotelcomputer in Ottawa eine Anfahrtsstrecke ausgedruckt. Und so bringt uns die "Véloroute 5" in Form eines prima Radwegs über die Pont Taschereau zur Île Perrot, die mitten im St.-Lorenz-Strom liegt. Dann geht es auf der Pont Gallipeault vollends hinüber zur Île de Montréal.

Auf der Véloroute 5 radeln wir dann bis zum Stadtzentrum noch über 40 km dahin, immer schön am Wasser entlang und durch teilweise traumhafte Villensiedlungen. Sogar Straßencafés gibt es; in einem lassen wir uns einen feinen Espresso und ein Küchlein schmecken, und gegenüber ist auch gleich ein Fahrradladen. Das trifft sich gut, denn in meinem Hinterrad sind in kürzester Zeit drei Speichen gebrochen. Zum Glück auf der dem Zahnkranz gegenüberliegenden Seite – seltsam, und eigentlich sollten doch 26er-Speichen nie brechen…

Im Radladen krame ich mein bestes Schul-Französisch heraus: "S′il vous plaît – il me faut quelques rayons pour mon vélo tout-terrain!" Der tätowierte Mechaniker mit der Créole im Ohr und der Red-Sox-Mütze grinst: "Well, let′s go out and look for the right length!" Da keimt für eine liberalere Zukunft Französisch-Kanadas doch vorsichtig ein zartes Pflänzchen der Hoffnung:-) Mit fünf stabilen neuen Speichen (you never know!) werde ich entlassen: "Auf Wiiedasejn – have fun!"

Die Véloroute 5 bringt uns auch fast genau zu unserer Montréal-Kontaktadresse: In der Südstadt nahe dem Canal Lachine wohnen Harald und Nicole, und die haben uns für ein paar Tage eingeladen. Die beiden sind wie wir begeisterte Alltagsradler, wir kennen uns aus dem Rad-Forum, und neben dieser netten Anlaufstelle fern der Heimat verdanken wir Harald eine ganze Menge beste Routentipps – und können sogar noch an der Bundestagswahl teilnehmen. Die Briefwahl-Unterlagen liegen schon säuberlich in unserem Schlafgemach bereit, das gleichzeitig eine komplett ausgestattete Fahrradwerkstatt ist – Speichenwechsel somit auch kein Problem! Merci bien noch mal nach Montréal:-) Wir haben ein nettes Labourday-Weekend zusammen, mit gutem Essen und kräftigem Bier.

Und natürlich lassen wir uns auch die Sehenswürdigkeiten der Stadt nicht entgehen, wobei uns mal wieder ein paar Dinge besonders interessieren, die der Durchschnitts-Touri sicher nicht auf der Rechnung hat: Die beeindruckende Wohnpyramide Habitat etwa, konstruiert für die Weltausstellung 1967, und das sehr gute Eisenbahnmuseum draußen in Sainte-Catherine. Auch den Mont Royal müssen wir natürlich erklimmen, 200 m über dem Niveau der Innenstadt gelegen, die höchste Erhebung in weitem Umkreis. Ein verschlungener Radweg führt hinauf auf Montréals Hausberg, und von oben hat man einen fantastischen Blick über die Stadt und den Fleuve Saint-Laurent bis hinüber zu den Bergen von Vermont. Eins der weiteren Ziele unserer Reise, doch das ist noch ein paar verschlungene Pfade mehr und etliche Pedalumdrehungen hin.

Zunächst einmal geht es jetzt am St.-Lorenz-Strom entlang. Der Name hat irgendwie einen magischen Klang, schon einst im Erdkundeunterricht weckte er Fantasien von unendlicher Weite, Pelztierjägern, Handelsschiffen und Eisschollen… In Zahlen: 580 km von Kingston bis Québec (Stadt), mit dem dort beginnenden Ästuar 1240 km, vom längsten Quellfluss einschließlich der Großen Seen bis zur Mündung 2900 km. Der St. Lorenz entwässert die mit 245.000 km² größte Süßwasserfläche der Erde mit einer sagenhaften Abflussmenge von 16.800 m³/s, ist auf weiten Strecken bis zu fünf Monate im Jahr zugefroren und trotzdem eines der wichtigsten schiffbaren Gewässer der Welt. Und er war Einfallstor für alle Entdecker und Eroberer seit Jacques Cartier und wichtigster Lebensnerv des frühen Kanada.

Unsere Route nach Osten ist jetzt die QC 138, bekannter unter dem Namen Chemin du Roy. Diese älteste kanadische Fernstraße verläuft am nördlichen Ufer des Stroms, wurde bereits 1731 in Betrieb genommen (weil im Winter kein Schiffsverkehr möglich war) und war damals die längste zusammenhängende Straße Amerikas nördlich des Rio Grande. Eine schöne Strecke, oft radeln wir direkt am Ufer des St. Lorenz entlang, der schon hier stellenweise mehrere Kilometer breit ist. Die Gegend ist meist recht ländlich; gesund aussehende Rindviecher stehen auf der Weide; vor fast jeder Farm werden Äpfel und Kürbisse verkauft. Manchmal überqueren wir Seitenflüsse auf Brücken mit gewöhnungsbedürftiger Gitterrost-Fahrbahn – ein Grund, kräftig herunterzubremsen, denn wir fliegen förmlich dahin bei stets genialem Rückenwind von 40 km/h und mehr. Wie die Internet-Wetterseiten meinen sei das hier so üblich, und die auf dieser Etappe doch recht zahlreichen Tourenradler fliegen alle mit uns in derselben Richtung. Kein Wunder, dass jeder Cross Canada Cyclist Fahrtrichtung West-Ost wählt – diesen Wind wollten wir nicht als Gegner haben!

Erst kurz vor Québec (Stadt) bildet der Fleuve Saint-Laurent so langsam das Steilufer aus, wie man es eigentlich von Bildern kennt – bis hier waren wir fast immer flach dahin geradelt. Ab jetzt hat der Chemin du Roy ein paar ganz fetzige Gefälle und natürlich auch kräftige Steigungen von 12% und mehr aufzuweisen, dazu mäandert er durch unübersichtliche Vorortstrukturen und entfernt sich oft recht weit vom Fluss. Ein freundlicher Rennradfahrer lotst uns in die Vieille Ville hinein, fast bis vor unser vorgebuchtes Hotel. Vive la France!


Québec ist nicht wie Frankreich, Québec ist Frankreich! Eine vollständig erhaltene Altstadt, die einzige unzerstörte Stadtmauer nördlich von Mexiko, überragt von einer trutzig aussehenden Zitadelle, dazu Boulangeries, Charcuteries und Crêperies an jeder Ecke – das alles wirkt, als wäre es Eins zu Eins von der Franche-Comté oder von Burgund hierher verpflanzt worden und in Ehrfurcht erstarrt. Tausende Touristen aus aller Welt sind begeistert – uns fehlt hier ein wenig der Neue-Welt-Charakter, das Feeling solcher Städte wie Toronto, Ottawa oder auch Montréal. Das ist natürlich subjektiv, doch nach halbtägigem Stadtbummel zieht es uns weiter. Zwei Tagesetappen nur, dann ist man in den Staaten, in Maine / New England…

Doch immer noch fasziniert uns der St. Lorenz, von dem wir unbedingt noch mehr sehen wollen. Wir mieten deshalb für ein paar Tage einen kleinen Chevy, dann geht es weiter auf der QC 138, der altbekannten nördlichen Uferstraße. Hier heißt sie jetzt nicht mehr Chemin du Roy – die frühen französischen Siedler haben sich bis Québec lieber an den Wasserweg gehalten. Denn im Ästuar wird das Wasser salzhaltig, es gibt deutliche Gezeiten, im Winter meist "nur" Packeis und selten eine komplette Eisschicht. Dazu war das Ufer unwegsam, oft mit Steilhang und schlecht zugänglich. Gerade deshalb aber zählt die QC 138 zu den landschaftlich schönsten Strecken Kanadas, führt über viele Hügel, durch ausgedehnte Wälder, dazwischen kleine Rodungsinseln mit weltvergessenen Dörfern. Das ist jetzt Kanada wie wir es uns immer vorgestellt hatten, dazu schon seit Tagen wieder bestes Wetter, klare Luft dank dem stets kräftigen Wind. Und immer wieder fantastische Blicke auf den breiten Strom, besonders schön am Abend, wenn die tiefstehende Sonne die weit draußen vorbeiziehenden Frachtschiffe in ein romantisches Licht setzt – wir machen eine Reihe schönster Fotos.


Mit einer Fähre geht es dann über den Saguenay nach Tadoussac hinüber. Ein Name mit Klang – das Städtchen an der Mündung des fjordartigen Saguenay-Flusses in den St. Lorenz gilt als eine der besten Ecken weltweit zur Walbeobachtung, weil im Brackwasserbereich zwischen Atlantik und St. Lorenz viele Kleinlebewesen existieren und die Wale hier einen reich gedeckten Tisch vorfinden. Dazu braucht man in Tadoussac nicht einmal aufs Wasser hinaus (Sybille wird′s eh schon bei dem Gedanken daran schlecht), denn auch vom Sentier de Pointe d′Islet, dem Fußweg um das kleine Kap herum, das den Eingang zum Saguenay markiert, sind Walsichtungen fast garantiert. Ein netter Spaziergang – und tatsächlich sehen wir zwei Minkwale bzw. deren Rückenflossen. Doch bis unsere kleine Knipse reagiert sind die Tiere schon wieder abgetaucht und das Bild zeigt eine leere Wasserfläche. Zu guten Naturfotografen werden wir es wohl nie bringen – das können andere besser. Trotz allem ein Erlebnis!

Am nächsten Tag folgen wir noch ein ganzes Stück dem St. Lorenz bis er so breit wird, dass man fast das Ufer auf der anderen Seite nicht mehr erkennen kann. Die Landschaft ist hier jetzt schon sehr nordisch, ähnlich wie in Alaska und in Teilen von Norwegen – nur noch spärliche Tannen bedecken die Hochflächen um die Straße, dazwischen Moos und Flechten. Dann kommt nur noch Tundra, bis hinauf nach Labrador. Und immer noch wäre das die Véloroute 5 gewesen. Passt jetzt leider nicht mehr ins Programm unserer Indian Summer Tour, doch vielleicht in ein paar Jahren mal, dann auf jeden Fall etwas früher… Dann geben wir Gas, zurück nach Québec.

Québec City – Bar Harbor / Acadia NP (450 km*)

Québec, das kommt von Kebec, einem Wort aus der Algonquin-Sprache, und heißt "dort, wo sich der Fluss verengt". Tatsächlich ist der St. Lorenz hier nur wenig mehr als 100 m breit, und deshalb führt hier eine Brücke hinüber, die letzte vor der noch gut 1200 km entfernten Mündung. Eine imposante Konstruktion; bei der Überfahrt fühlen wir uns fast, als radeln wir über den Wolken, was durch das heute wieder mal regnerische und trübe Wetter unterstrichen wird. Doch schaffen wir fast noch trocken die 100 km nach Saint-Georges, und dort sitzen wir zum ersten Mal auf unserer Tour einen Regentag aus. Es schifft dermaßen, dass man vom Motelfenster aus kaum die auf der Straße vorbeifahrenden Autos erkennen kann. Doch dann ist wieder gut für fast drei Wochen – auf jeden Fall kein schlechter Schnitt.

Am nächsten Morgen ist es noch grau und alles nass, aber ein Silberstreif zeigt sich am Horizont. Am Ortsausgang ein Wegweiser: 40 km zur US-Grenze, 57 sollen es sein bis Jackman (ME) – das kann doch nicht stimmen? Die spinnen wirklich, die Québecois – da haben sie in ihrer nationalen Egozentrik nicht einmal realisiert, dass auf der anderen Seite bei Uncle Sam in Meilen gemessen wird. Ab Grenze also 17 Meilen = 27 km, mithin um die 70. Und wieder kein einziges Schild doppelsprachig, wie schon damals gleich nach der Grenze von Ontario. Drüben in Maine jedoch wird man freundlich und mit einem hübschen Schild in zwei Sprachen willkommen geheißen. Der Grenzbeamte ist auch nett und will eine Menge über unsere Radtour wissen. So gestaltet sich unsere Ankunft in New England – ein gutes Gefühl.

Dazu empfängt uns ein dichter und unendlicher Wald, wie wir ihn noch nie gesehen haben. Von einem Aussichtspunkt an der Straße schweift unser Blick über bewaldete Berge bis zum Horizont, aus denen zaghaft die ersten Herbstfarben hervorspitzen. Das stellt selbst die in Kanada erlebten Wälder in den Schatten, und der Pfälzer Wald ist da ein Gehölz dagegen! Die US 201 trägt außerdem den Beinamen "Moose Alley" – gleich nach wenigen Kilometern sehen wir auch schon den ersten Elch; der steht direkt neben der Straße. Doch er erschrickt fürchterlich, als Sybille mit einem schmirgelnden Geräusch hinter mir zum Stehen kommt – just in dem Moment sind die Beläge ihrer Vorderbremse durchgebremst. Wir hätten nie gedacht, dass ein so riesiges Tier einen solch gewaltigen Satz machen kann – jedenfalls wird es wieder mal nix mit dem großartigen Naturfoto. Leider war dieser erste auch der letzte Elch, den wir auf der ganzen Tour zu Gesicht bekommen haben. Diese Woche hat die Jagdsaison begonnen; die Tiere wissen das ganz genau und ziehen sich tiefer in die Wälder zurück. So jedenfalls die Erklärung von Mary und David aus Freeport, die wir am nächsten Tag auf einem Picknickplatz treffen – das leuchtet ein.

Jackman ist auf viele Meilen die einzige Siedlung inmitten dieser riesigen Wälder, an einem kleinen See gelegen, Zentrum aller Jäger und im Winter der Snowmobilfahrer. In Bishop′s Motel finden wir ein prima Zimmer, dann wird erst mal Sybilles Rad auf Vordermann gebracht. Als ich gerade fertig bin, geht drüben vor dem Tankstellen-Laden ein Mords Spektakel los. Ein Pickup steht da, etwas Großes, Schwarzes wird an einem Kran in die Höhe gezogen – ein ausgewachsener Schwarzbär, der dabei mit einer Hängewaage gewogen wird! Tja, die Jagdsaison – der Jäger ist mächtig stolz auf seine Beute, Hunde kläffen… Der Bär tut uns zwar leid, aber er werde fast komplett gegessen, wie wir hören. Bärenschinken gilt als Delikatesse, das weiß man nicht erst seit Karl May, und auch in Europa stand er früher auf der gehobenen Speisekarte (hier ein Rezept). Dazu fällt mir ein, es war so Ende der 70er-Jahre und ich verdiente mir mein Studium als Semesterferien-Trucker, ich habe damals selbst mal einen tiefgefrorenen Bären, komplett mit Fell und Krallen, per Lkw bei einem Feinschmecker-Restaurant im Schwäbischen Wald angeliefert… Maine, Outdoor- and Hunter′s Country. Hat schon was, aber wir lassen uns doch lieber vis à vis in Bishop′s Store eine gute Pizza backen. Dazu eine Schüssel Salat und ein paar Bier – Friede den Bären:-)


Auf langem Anstieg überqueren wir anderntags die Wasserscheide, die nördlichen Ausläufer der Appalachen, dann geht es auf schöner Strecke entlang dem Kennebec River bergab. Unser Ziel ist jetzt der Acadia National Park, drunten bei Bar Harbor an der Yankee Coast. Das sind vier Tagesetappen, quer durch ganz Maine. Dabei fällt uns auf: Obwohl wir nun doch schon eine ganze Weile auf unserer Indian Summer Tour unterwegs sind, ist gleich nach dem Jackman Summit der Wald wieder vollständig grün. Indian Summer, das entspricht etwa unserem Begriff "Altweibersommer", also ab September, und für die bunten Blätter braucht es erst mal ein paar kräftige Nachtfröste. Die Fall Foliage beginnt sowohl von Jahr zu Jahr als auch regional recht unterschiedlich – genaue Infos finden sich auf dieser genialen Website. Wir werden uns also noch bis New Hampshire gedulden müssen! Und was uns auch noch auffällt: Dieses Land Maine ist uns ausgesprochen sympathisch. Das liegt vor allem an seinen geradlinigen Menschen, die nicht viele Worte, dafür einen ehrlichen und zufriedenen Eindruck machen. Dabei haben sie einen gut durchgekauten Slang und einen angenehm trockenen Humor. Wenn etwa ein Pickup neben dir hält und der Fahrer fragt: "Bah Haaba, ouh?", dann kann das heißen a) Wo fahrt ihr denn hin – bestimmt nach Bar Harbor?, b) Wisst ihr, wie ihr am besten nach Bar Harbor kommt?, oder c) Soll ich euch nach Bar Harbor mitnehmen? Und einmal spricht mich im Supermarkt einer mit ernster Stimme an: "I didn′t know that shopping Hannaford′s is so dangerous". Was will der jetzt wieder? Bis ich merke: Ich habe meinen Radhelm noch auf. Ouh! Auf unserer Straßenkarte steht als Slogan: "Maine – the way life should be". Wir stimmen zu. Und die vermeintlich langweilige Transferstrecke von Jackman nach Bar Harbor hat richtig Spaß gemacht:-)

Maines Küste ist extrem zerklüftet. Hier laufen die Granitkuppen der Appalachen in einem Gewirr aus Inseln, fjordartigen Tälern und Felsfingern in den Atlantik aus, eine maritim-herbe Landschaft von gleichzeitig angenehm rustikalem Charakter. Auch der Acadia NP liegt auf einer Insel, Mt. Desert Island, die von Trenton über eine Brücke zu erreichen ist. Nur die brodelnden Lobster Pounds an der Straße lassen zunächst erahnen, dass wir hier über einen Meeresausläufer radeln, sonst könnte das auch als eine Kopie der finnischen Seenplatte durchgehen. Doch spätestens auf der ME 3, die sich über viele Hügel und durch wunderbare Wälder an der Küste entlang in Richtung Bar Harbor schlängelt, zeigen ein paar weit draußen vor Anker liegende Kreuzfahrtschiffe und die vor manchen Häusern gestapelten Hummerreusen, dass dieses Gewässer dort draußen der weite, wilde Ozean ist. Dazu pedalieren wir an einer Reihe gut aussehender Motels, Campgrounds und auch recht gediegener Hotels vorbei – der Acadia National Park zählt mit an die 3 Mio. Besuchern jährlich zu den meistbesuchten Nationalparks der USA.

Dass es diesen Park hier überhaupt gibt, ist dem Weitblick einiger einflussreicher und nicht gerade armer Persönlichkeiten Anfang des 20. Jahrhunderts zu verdanken, der Rusticators, die im Gegensatz zur übrigen Hautevolee hier oben ihre Sommerhäuser bauten anstatt in Newport (RI) oder auf den Thousand Islands. Zu ihnen gehörten John D. Rockefeller jr., Charles W. Eliot, Präsident der Harvard University, und einige Mitglieder der Astor-Familie (Waldorf-Astoria). Die wollten eine Kommerzialisierung dieser großartigen Landschaft verhindern, kauften in großem Stil Land auf und stifteten es 1916 dem Staat unter der Auflage, dass ein Nationalpark gegründet werde. Dieser umfasst zwischenzeitlich weit mehr als die Hälfte von Mt. Desert Island und – das sehen wir mit einem Blick – bietet so tolle Möglichkeiten für Radler und zum Wandern, dass wir unsere Motel-Reservierung von drei Tagen gleich auf vier verlängern. Dazu haben wir absolutes Kaiserwetter, und das soll noch eine ganze Weile so bleiben.

Als erstes steuern wir natürlich den Cadillac Mountain an, 466 m hoch und die höchste Erhebung an der amerikanischen Atlantikküste bis ganz hinab nach Rio, wie in einem Heft des Tourismusbüros stolz geschrieben steht. Eine gute Straße geht dort hinauf; wir brauchen nicht einmal das kleine Blatt, und der Gipfel ist eine dieser interessanten Granitkuppen, abgeschliffen von den Gletschern der Eiszeit, fast vegetationslos und mit beeindruckendem Rundblick auf viele kleine Inselchen und die Schiffe vor Bar Harbor.

Haben wir ein Glück – den größten Teil des Jahres sind Acadias Berge in dichtem Nebel verborgen oder es gibt stürmisches Regenwetter; bei uns ist es windstill und wir holen uns fast einen Sonnenbrand. Die ersten Autos kommen uns am frühen Morgen schon entgegen, denn auf dem Cadillac Mountain den Sonnenaufgang zu erleben ist Kult. Er gilt als der Punkt in den Staaten, den die Strahlen der aufgehenden Sonne als erstes treffen. Dann geht es weiter, auf der astrein asphaltierten Park Loop Road zum Jordan Pond. Dort steht die romantische Jordan Pond Gate Lodge, eine Schlüsselstelle und Zugang zu Acadias genialster Einrichtung, den Carriage Roads.

Diese Carriage Roads sind das Werk von Rockefeller jr., der ein begeisterter Reiter und Kutschfahrer war. Er ließ in seinen Privatwäldern ein System von 57 Meilen für Autos gesperrten Reit- und Karrenwegen anlegen, die schon vor der Gründung des Nationalparks für die Allgemeinheit zugänglich waren. In den Gate Lodges wohnten damals Wächter, die für Reiter und Kutschen das Tor zu öffnen und Autofahrer draußen zu halten hatten – heute stehen die Carriage Roads Reitern, Radlern und Wanderern offen, im Winter dann den Skilangläufern. Rockefeller sparte beim Bau dieser Straßen an nichts; sie sind aufwendig mit einem Bruchsteinsockel konstruiert, um die Steigungen moderat zu halten. Dazu gehören 17 hübsche Steinbrücken im Stil der damals angesagten Rheinromantik; jede für sich heute ein kleines Kulturdenkmal. Mehr als ein Drittel des Acadia-Geländes stammt aus Rockefellers privatem Grundbesitz – bis heute das Kernstück für den später noch kräftig erweiterten Nationalpark.

Auf einer solchen Carriage Road radeln wir jetzt, vorbei an Jordan Pond, Eagle Lake und Witch Hole Pond, zum Visitor Center (toller Film auf Deutsch!) und dann wieder hinab nach Bar Harbor. Wir sind total begeistert – 45 Meilen dieser Karrenwege sind heute noch da, mit bester Feinsplitt-Oberfläche und mit hübschen Holzwegweisern; davon radeln wir in den nächsten Tagen bald jeden Meter ab. Eine weitere Tour führt uns zum exponierten Leuchtturm bei Bass Harbor, wo der Blanke Hans wild gegen die Felsen gischtet, und auch eine ausgedehnte Wanderung darf nicht fehlen. Die Trailheads erreicht man mittels Gratis-Bussen, die sogar Fahrradträger haben...

Bar Harbor – North Conway / White Mtns. (400 km*)

Acadia, ein Highlight unserer Reise! Das macht jetzt Lust, mehr von der Yankee-Küste zu entdecken, beispielsweise noch ein paar der hübschen Leuchttürme. Allein in Maine soll es an die 70 geben, etliche stehen auch Besuchern offen. Doch da hat man es als Radler nicht ganz leicht, denn eine Küstenstraße gibt es nicht. Maine hat eine Nord-Süd-Ausdehnung von 515 km und dabei 5600 km Küstenlinie; die Küste ist verkehrsfeindlich und das Land dahinter kleinräumig. Die Leuchttürme liegen alle draußen auf den felsigen Fingern in der Brandung oder gleich auf einer der vielen Inseln – zum Pemaquid Point Light, das wir als nächste Station vorgesehen haben, sind es rund 100 km Luftlinie ab Bar Harbor, doch wir kurbeln gut 220 km herunter. Dafür müssen wir weit ins Hinterland zurück bis auf die US 1, eine verkehrsüberlastete Achterbahn, und die Küste kriegen wir nur sporadisch und dann kurz zu Gesicht, etwa bei der hübschen Seglerhochburg Camden. Gerade auf der US 1 treffen wir aber innerhalb von zwei Stunden die einzigen vier Gepäckradler, die uns seit Québec bis ganz hinunter nach New York begegnet sind. Die US 1 ist nämlich mangels Alternativen Teil der ACA-Route "Florida – Maine", die jährlich tausende von Radtouristen herunterspulen. Die anstrengenden Stichstraßen zu den Leuchttürmen hinaus radelt praktisch keiner.

In Waldoboro können wir dann auf den nur wenig befahrenen Highway 32 abbiegen. Der führt uns durch eine wunderbare Landschaft mit viel Wald, kleinen Farmen und ein paar schönen, rustikalen Eigenheimen nach Pemaquid Point. Und diese Straße ist jetzt wirklich sehr hügelig – wir haben zwar kein GPS, aber das Höhenprofil dieser 35 km gleicht vermutlich der Pulsfrequenz eines Top-Athleten, da war die US 1 noch flach dagegen. Auch wenn die Steigungsstrecken nie lang sind; wir müssen unser Bestes geben und brauchen alle Übersetzungen bis hin zum Granny Gear – unsere absolut anstrengendste Etappe bisher.

Pemaquid Point Light gilt als eines der schönsten Fotomotive an der ganzen Atlantikküste, trotzdem verlieren sich nur wenige Autos auf dem kleinen Parkplatz dort draußen. Im einstigen Haus des Leuchtturmwärters ist ein kleines Museum untergebracht, und über eine enge Wendeltreppe kann man zur Galerie des Turms hinaufsteigen, wo die altehrwürdige Fresnel-Linse schon seit 1856 ihr Blinksignal über eine der gefährlichsten Stellen sämtlicher US-Gewässer hinausschickt. Drunten tauchen von Eiszeit und Brandung abgehobelte Granitrippen spektakulär ins Meer hinab. Und dann gibt es noch ein historisches, völlig zivilisationsentrücktes Hotel. Dieses ganze Ambiente strahlt eine zeitlose Ruhe aus wie auf einem Bild von Edward Hopper.


Das Pemaquid Hotel ist ein absolutes Juwel, erbaut 1888 und teilweise noch immer mit seinen Originalmöbeln ausgestattet. Es gibt ein gemütliches Kaminzimmer und ein historischer Telefon-Klappenschrank steht in der Ecke – ein Wunder, dass sie hier überhaupt eine Homepage haben. Anmelden per Internet ging jedenfalls gar nicht, nur telefonisch, und die Verbindung war so schlecht und es rauschte, als wäre der Klappenschrank noch immer in Betrieb. Bezahlen kann man nur Cash; dafür bekommt man eine handgeschriebene Quittung, die man ohne weiteres rahmen und im Heimatmuseum an die Wand hängen könnte. Gegenüber steht noch (schon leicht bemoost) der Pontiac-Kombi vor der Garage, mit dem sie wohl in den 50er-Jahren die Feriengäste vom 40 km entfernten Bahnhof holten. Und abends, als wir vom kleinen Seafood-Restaurant nebenan zurück kommen (nur am Wochenende offen; Wein muss man selbst mitbringen) kreist der Lichtfinger von Permaquid Point Light romantisch alle sechs Sekunden über den Nachthimmel. Auch das ist Amerika – immer noch. Nachts wird es sakrisch kalt, doch wir schlafen in der wunderbaren Wald- und Seeluft und unter einem dicken Stapel Decken tief und traumlos.


Am nächsten Morgen kämpfen wir uns wieder zur US 1 zurück; fast zwei Stunden brauchen wir für die Strecke. Schon verständlich, dass sich kaum ein Tourenradler diese Mühe antut, doch Pemaquid Point entschädigt dafür. Ein bisschen wehmütig verlassen wir jetzt die Yankee Coast – das Meer werden wir wohl erst in New York wieder zu Gesicht bekommen. Doch jetzt wird es Zeit für die White Mountains, wo die Laubfärbung gemäß oben genannter Website langsam ihrem Zenit entgegen gehen soll. Bei Bath überqueren wir noch mal den Kennebec River, jetzt ein breiter Fluss mit Schlickablagerungen in der Mündung, dann geht es durch die hübsche Maine Lakes Region und nahe Fryeburg auf der US 302 hinüber nach New Hampshire. Und damit endlich in die ersten bunten Herbstwälder – je weiter weg von der Küste und je höher hinauf wir kommen, desto bessere Arbeit hat der Nachtfrost schon geleistet.

Die White Mountains sind wieder ein Teil der Appalachen, dem Rückgrat der Neuenglandstaaten, nehmen über ein Viertel des Staats New Hampshire ein und sind bekannt für ihre Presidential Range, eine beeindruckende Kette aus Granitbergen, die nach besonders verdienten US-Präsidenten benannt sind. Der Mt. Washington ist mit 1917 m der höchste dieser "Weißen Berge" (und des gesamten US-Nordostens), die so heißen, weil sie etliche Monate im Jahr von Schnee bedeckt sind. Die Kuppen sind meist stürmischen Winden ausgesetzt und demnach kahl, doch der Wald reicht trotzdem weit hinauf in dieser rauen Gegend und verfärbt sich hier stets ein paar Wochen früher als im maritimen Maine. Genau deshalb sind wir hier – aber nicht nur: Der Mt. Washington ist nämlich auch berühmt für seine historische Zahnradbahn.

North Conway ist das Zentrum der White Mountains – ein recht geschäftiger Flecken. Die Leaf Peepers fallen hier spätestens Ende September in Scharen ein, was man sich geschickt durch den Bau einiger Factory Outlet Malls zunutze gemacht hat. Die ganze Main Street ist wieder mal gesäumt von "No Vacancy"-Schildern, als wir hier einlaufen – gottseidank haben wir schon tagelang vorher reserviert. Trotzdem, ein Ort nicht ohne Charme. Man kann nett flanieren, im Straßencafé sitzen und natürlich in den Bergen rundum unheimlich viel unternehmen. Und North Conway ist eine alte Eisenbahnerstadt.


Natürlich radeln wir gleich nach Abwurf unseres Gepäcks im Hotel zum historischen Bahnhof hinüber, heute Headquarters der Conway Scenic Railroad Association. Dort herrscht ein Mords Betrieb – eine schön restaurierte Dampflok wird gerade auf der Drehscheibe (!) in Position gebracht, etliche bestens gepflegte Waggons und Dieselloks sind zu sehen, mehrere Touristenzüge gibt es täglich… Doch zum Mt. Washington kommt man mit der Bahn von North Conway aus schon lange nicht mehr. Die einst wichtige Bahnlinie der Maine Central Railroad Co. von Portland nach St. Johnsbury (VT) wird nur noch bis Bretton Woods hinauf befahren, und der Anschluss zum Zahnradbähnchen fehlt. Wir müssen glatt wieder einen Mietwagen nehmen. Na denn, alles hat auch sein Gutes – so können wir noch ein bisschen Eisenbahn-Sightseeing betreiben, was ohne Auto wohl kaum möglich gewesen wäre.

Rund 60 km sind es bis zum Talbahnhof der Zahnradstrecke. Am nächsten Morgen steuern wir also unseren VW Jetta (made in Mexico) entlang dem Saco River nach Norden. Der hat hier ein wunderschönes Tal geformt, in dem wir die Schienen der Conway Scenic Railroad mehrfach kreuzen; bunter Wald zieht sich an den Hängen hinauf. Dann die Passhöhe; rechter Hand das interessant aussehende Sporthotel von Bretton Woods und daneben der Bahnhof Fabyan. Heute Endstation, früher ein wichtiger Eisenbahnknoten – hier hatten die werten Fahrgäste über eine längst vergessene Stichbahn Anschluss zur Talstation der Mt. Washington Cog Railway.

Cog Railway, das heißt Zahnradbahn, und die am Mt. Washington ist die älteste der Welt. Bis heute ist sie auch die zweitsteilste, nach der Pilatus-Bahn in der Schweiz. Erbaut 1866 bis 1869, Spurweite 1422 mm, System Riggenbach – unmöglich, diese Meisterleistung von anno dazumal hier nach jeder technischen und historischen Facette zu beleuchten; das würde den Rahmen jedes Reiseberichts sprengen. Mehr dazu hier, doch zwei Aspekte sind unbedingt hervorzuheben: Erstens liegt der Gipfel des Mt. Washington voll im Permafrost, so wie oben in Alaska. Die Trasse musste deshalb auf einer aus Kanthölzern gezimmerte Unterkonstruktion verlegt werden, die mittels Erdankern gegen das Abdriften gesichert ist. Und zweitens herrscht dort oben das wohl übelste Klima der Welt. 1934 wurde am Mt. Washington mit 372 km/h die bis 1996 höchste Windgeschwindigkeit der Welt gemessen. Bereits im Herbst, wenn es im Tal selbst nachts noch frostfrei ist, hat es auf dem Gipfel oft schon Temperaturen von −40 °C und darunter; an über 100 Tagen im Jahr bläst es mit 120 km/h und mehr und damit in Hurrikanstärke. Hier überhaupt eine Eisenbahn aufzubauen erscheint uns als der schiere Wahnsinn – die Gipfelhotels dort oben wurden jedenfalls in schöner Regelmäßigkeit vom Blitz getroffen und dann vom Sturm zerbröselt.


Heute ist die Cog Railway also ein Inselbetrieb. Die Stichbahn zur Talstation wurde durch eine Stichstraße ersetzt; die fahren wir jetzt bergan, den Mt. Washington stets im Blick. Plötzlich sehen wir es zur Linken kräftig qualmen – eine der historischen Dampfloks von ca. 1900 steht da vor dem Bahnbetriebswerk und sogar noch unter Dampf. Sie zieht immer noch jeden Tag um 8.15 Uhr den ersten Zug auf den Gipfel. Eine tolle Konstruktion mit schrägem Kessel, damit bei den Steigungen hier von bis zu 38% nicht die Kohle vom Rost rutscht. Toll, wir dürfen nach Herzenslust knipsen, der Lokführer freut sich und gibt Auskunft zu jeder noch so ausgefallenen Frage. Nur das genaue Alter seiner Maschine weiß nicht mal er und auch sonst keiner. Jedes Einzelteil vom Treibrad bis zum Kolben wurde irgendwann mal getauscht, von einer anderen Lok übernommen oder gleich ganz neu hergestellt – alles in der chaotischen kleinen Betriebswerkstatt, die wir gerne besichtigen dürfen. Hier machen sie ganze Dampfkessel aus für meine Begriffe sehr dünnen Blechen (so was wie einen TÜV und vorgeschriebene Hauptuntersuchungen scheint es nicht zu geben), aber auch ganz robuste Neukonstruktionen mit Biodiesel-Maschine. Faszinierend!


Schon ist es Mittag, der Gipfel des Mt. Washington nicht mehr zu sehen. Nebel und Wolken hüllen ihn an 307 Tagen im Jahr ein, das dürfte für Nordamerika rekordverdächtig sein. Heute also nicht mehr! So erwerben wir zwei Tickets für morgen, Samstag, 10.30 Uhr, mit dem Dieselzug. Wer Tickets für die Cog Railway vorab kauft pokert zwar immer ein bisschen, doch an einem Indian-Summer-Wochenende hat man sonst keine Chance. Und so treffen wir den Früh-Dampfzug im Begegnungsverkehr; der ist dann bereits auf der Rückfahrt.

Und wir haben Glück. Samstag, 28.9.2013 – Kaiserwetter! Pünktlich stehen wir an der Marshfield Base Station auf der Matte. Dort zeichnet sich schon ein gewaltiger Andrang ab; der Parkplatz platzt aus allen Nähten und zwei Busse sind auch noch gekommen.

Schon um 9.30 Uhr stellen wir uns am zugewiesenen Eingangsbereich auf, damit wir die ersten in der Reihe sind. Das hat sich gelohnt – wir kriegen die beiden besten Plätze im Waggon, ganz vorne, wo man das Frontfenster aufmachen und hinausknipsen kann. Wie bei Zahnradbahnen üblich wird der Waggon von der Lok auf den Berg geschoben, damit er bei einem Kupplungsdefekt nicht talwärts abhaut. Die einzigen Plätze also mit freier Sicht auf die Strecke.

Heute ist fast der gesamte Fuhrpark der Cog Railway im Einsatz. Unsere Lok, die allerneueste, ist noch gar nicht ganz fertig; sie macht heute ihre Jungfernfahrt. Die Motorabdeckungen fehlen noch, gleichfalls die Innenverkleidungen im Führerstand. Dann geht es auch schon los, über rumpelige Schienen, die ein bisschen verbogen sind. Trotz Erdankern kann man den hölzernen, einem Wildwest-Viadukt ähnlichen Unterbau wohl doch nicht ganz am Wegdriften hindern. Neben den schwierigen klimatischen Bedingungen werden wohl auch die Vibrationen der Loks und die Touristenmassen das ihre dazu beitragen. Old Peppersass, die erste Lok aus dem 19. Jahrhundert, konnte gerade mal 12 Passagier nach oben befördern, die in dicke Decken gehüllt auf einem offenen Plattformwagen saßen, ohne jeden Wetterschutz. Die aktuellen Waggons, auch schon aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts, bieten 70 Passagieren Platz auf ihren hübschen Holzsitzen.


Eine Ausweichstelle gibt es auf halbem Weg nach oben und einen Wasserturm. Per Schiebeweiche wird die Durchfahrt reguliert. Neuerdings sollen auch Winterfahrten angeboten werden – sicher ein Wahnsinns Aufwand, diese Strecke immer befahrbar zu halten. Wie erwartet steht der Dampfzug an der Ausweiche, dazu ein weiterer Dieselzug. Sechs Dampfloks sollen noch im Einsatz sein, wie wir hören, zwei oder drei sind immer gerade im Bahnbetriebswerk und werden neu aufgebaut. Es gefällt uns sehr, wie diese hemdsärmelige Gesellschaft hier alles am Laufen hält und dass sich diese Bemühungen auch in den Fahrgastzahlen niederschlagen.

Eine knappe Stunde dauert die Fahrt, dann sind wir oben. Es gibt hier ein modernes, sturmsicheres Gipfelgebäude aus Beton (erbaut 1979) mit Schnellrestaurant und Andenkenladen, die Wetterwarte und (ein Treppchen höher) eine Steinpyramide mit dem Gipfelschild und einer 100 m langen Schlange davor, denn jeder will unbedingt ein Foto von sich auf dem höchsten Punkt östlich des Mississippi haben. Es gibt ein paar Schneereste, eine grandiose Aussicht über drei Bundesstaaten und genau zwei Picknickbänke. Auf einer davon verspeisen wir unseren Lunch, in der prallen Sonne, ohne Jacke und auf dem Berg mit dem schlechtesten Klima der Welt. Es ist kaum zu fassen…

Und als unser Züglein gerade für die Rückfahrt den Gipfel verlässt, ziehen die ersten dicken Wolken auf und am Nachmittag ist wieder alles dicht. Dann feiern wir den gelungenen Ausflug mit einem Bierchen und einem Kaffee auf der Terrasse des Mt. Washington Hotels in Bretton Woods. Das tolle alte Sporthotel, Ort der Weltwährungskonferenz 1944, ist eigentlich stinkenobel, doch auf eine angenehme Art unaufdringlich. Kommt genau hin heute:-)

North Conway – Albany (440 km*)

Lange hatten wir bei unserer Tour-Planung überlegt, ob wir nicht im Mt. Washington Hotel für ein paar Tage Quartier nehmen sollen. Einfach eine tolle Ecke dort oben; wir hätten zur Zahnradbahn radeln können… Doch schon eine Nacht im günstigsten Zimmer kommt etwa so teuer wie drei Tage Mietwagen (okay, es gibt noch zwei, drei andere Quartiere in der Umgebung), und vor allem wäre uns dann der Kancamagus Highway entgangen. Und das geht wirklich gar nicht – wenn man im Herbst durch die White Mountains radelt, ist der "Kanc" ein Muss! Die 55 km lange Paradestrecke von Conway nach Lincoln führt mitten durch den White Mountains Nat′l Forest und war eine der allerersten im National Scenic Byway System. Und hier erleben wir jetzt den Neuengland-Herbst in seiner ganzen Pracht.

Die amerikanische Fall Foliage ist mit Worten schlicht nicht zu beschreiben, selbst unsere Kamera kann nur ein paar blasse Erinnerungen, auf keinen Fall aber den Gesamteindruck dieses Naturspektakels einfangen. Verantwortlich dafür sind die Ahornbäume, von denen es hier zehn Unterarten gibt – auch bei uns zu Hause ist der Herbst ja ein Fest der Farben, aber die roten Ahornblätter fehlen halt. Dazu gibt es hier alle Farbabstufungen von Dunkelgrün über Gelb und Orange bis Weinrot oft an einem einzigen Baum! Man muss das einmal im Leben gesehen haben.


Dazu können wir sogar den ganzen Tag in den kurzen Radklamotten fahren – wann hatten wir das schon mal Anfang Oktober? Hin und wieder, wenn wir an einem der vielen Wanderparkplätze vorbei kommen, stellen wir kurz die Räder ab und laufen zwei-, dreihundert Meter in den Wald hinein – dort ist dann fast noch alles grün. Die frostige Nachtluft streicht die Highways entlang und sammelt sich an Lichtungen; dort setzt das Farbenspiel immer zuerst ein. Auch diese Diskrepanz trägt dazu bei, dass die Farben des Waldes an ein paar Tagen im Jahr besonders kontrastreich sind.


Gegen Mittag sind wir am Picknickplatz bei den Sabbaday-Wasserfällen, wo wir uns unter einem wahren Dom aus bunten Blättern unser Sandwich schmecken lassen. Sicher das farbenprächtigste Picknick unserer Reise! Dann geht es zur Sache – waren wir bislang recht zügig und ohne großen Anstieg dahingerollt, so haben es die nächsten 12 km in sich. Mit sicher bis zu 10% Steigung schraubt sich der Highway jetzt hinauf zum Kancamagus Pass (872 m), und das Gepäck zieht gut nach hinten. Auf der anderen Seite entschädigt eine lange Abfahrt ins Tal des Pemigewasset River, und kurz nach 16.00 Uhr laufen wir in Lincoln ein. Dort beziehen wir im Profile Motel ein wirklich supergemütliches kleines Cottage, blitzsauber und mit guter Heizung. Jim, der nette Wirt, schenkt uns Feuerholz und Grillkohle, und am Abend brutzeln ein paar gute Steaks auf unserem Barb, ein köstlicher Geruch steigt auf und vermischt sich mit dem Odeur der weiten Wälder. Wir sind normal nicht überschwänglich mit Quartier-Empfehlungen, aber diese hier muss sein! Und in der Nacht, wir sitzen noch endlos draußen, spannt sich ein grandioser Sternenhimmel über die rauen, wilden, großartigen White Mountains.


Drei Tage bleiben wir in Lincoln – wieder ein Ort mit einer Menge Sehenswertem in Radel-Distanz rundherum. Der Franconia Notch State Park etwa mit dem Flume Gorge, einer tiefen Klamm mit kühnen Holzstegen und einer schön restaurierten überdachten Holzbrücke; Echo Lake und Cannon Mountain – nur The Profile, der "Alte Mann der Berge" hat sich vor zehn Jahren unter großer Anteilnahme der Bevölkerung verabschiedet. Er lebt weiter auf New Hampshires Nummernschildern – und im Namen unseres Motels. Solche Dinge erfährt man an den abendlichen Lagerfeuern, die Jim für seine Gäste organisiert. Immer sind ein paar interessante Leute da, lassen den Tag ausklingen, es gibt anregende Unterhaltungen – mit einem netten Rentner-Ehepaar aus Boston etwa. Die beiden sind des Lobes voll über Deutschland, deutsche Autos, die deutsche Wirtschaft im Besonderen, und warum die denn nicht zusammenbräche bei so viel Socialism? Damit meinen sie, dass es bei uns eine gesetzliche Krankenversicherung gibt und dass jeder sechs Wochen Urlaub hat. Und was wir denn vom Government Shutdown halten? Das hören wir jetzt zum ersten Mal. Unglaublich, das öffentliche Leben steht still. Washington hat keine Müllabfuhr mehr, fast alle Ämter bleiben zu und auch sämtliche Nationalparks. Schon vor Monaten haben wir Tickets für Miss Liberty gebucht, mit Aufstieg bis zur Krone, die werden doch nicht… Durchaus gibt es auch in der Bevölkerung Stimmen, die voll auf der Linie der Republikaner sind; dem Socialism müsse man jetzt endlich Einhalt gebieten. Hoffentlich haben sie unsere Einwände in bruchstückhaftem Englisch auch verstanden! "Nice talking", heißt es zum Abschied, "have a good trip!"Herzlicher Handschlag. Trotz mancher Meinungsverschiedenheit, immer bleibt das angenehme zwischenmenschliche Klima.


Über den nur 570 m hohen, aber recht anstrengenden Kinsman Pass verlassen wir dann New Hampshires White Mountains – sie waren in jeder Hinsicht ein Höhepunkt dieser Reise. Oben auf der Passhöhe ist ein Parkplatz des Nat′l Forest Service. Da haben sie doch glatt die Plumpsklos verrammelt, weil der vorgeschriebene tägliche Reinigungsdienst in unbezahlten Zwangsurlaub geschickt wurde:-/ "Thanks, Obama" hat einer an die Tür geschrieben. Ein anderer hat wutentbrannt "Thanks, Congress" darüber gepinselt. Die Touris erleichtern sich derweil in den Wald. Manchmal spinnen sie schon ein bisschen, die Amis! Dann geht es auf rauschender Abfahrt hinab zum Connecticut River und auf einer interessanten Brücke hinüber nach Vermont. Damit erreichen wir jetzt unseren dritten Neuenglandstaat.

"’VOICI LES VERTS MONTS!’ – ‚Da seht – die grünen Berge!’ soll der französische Entdecker und Eroberer Samuel de Champlain ausgerufen haben, als er – im frühen siebzehnten Jahrhundert – in Begleitung eines katholischen Priesters, einiger indianischer Scouts und ‚Coureurs de Bois’ von Kanada über den nach ihm benannten großen See hinüberkam und als erster weißer Mann die endlosen Wellen der bewaldeten Hügel und Bergketten sah." So steht es in den Memoiren des Dramatikers Carl Zuckmayer, der zu Zeiten des Dritten Reichs und über den Zweiten Weltkrieg etliche Jahre in Vermont lebte, nachdem seine Werke in Deutschland verboten wurden und die Familie, von der Gestapo gehetzt, buchstäblich in letzter Sekunde emigrieren konnte. Zuckmayers Beschreibung charakterisiert die hiesige Landschaft ziemlich treffend. Nach dem White Mountain State sind wir jetzt im Green Mountain State. Und gleich nach der Landesgrenze fangen sie an, die Hügel und Bergketten, bloß dass sie jetzt im Indian Summer nicht grün, sondern bunt sind. Bei der Anfahrt nach Montpelier brauchen wir alle Gänge und eine Menge Körner – diese Landschaft lässt keinen Tretrhythmus aufkommen.

Montpelier, immerhin Landeshauptstadt, wirkt trotz ihrem Capitol mit der vergoldeten Kuppel wie ein Dorf mit zwei, drei städtischen Straßenzügen. Auch das passt perfekt zu Zuckmayers Schilderung, der Vermont als ein Land eigenwilliger, schrulliger, aber freiheitsliebender, ehrlicher und auf ihre Weise sehr sympathischer Hinterwäldler beschreibt, unprätentiös und "nonkonformistisch bis in die Knochen". Genauso typisch für Vermont ist auch sein heutzutage berühmtestes Produkt: Ben & Jerry′s Ice Cream. Die poppig bunte, moderne und blitzsaubere Fabrik der beiden bärtigen Althippies, die 1978 per 5$-Fernkurs zu Eiskonditoren wurden, ist natürlich auch uns einen Extra-Abstecher wert. Bio-Produkte wie Milch von örtlichen Family Farms, weitere Zutaten per Direkt-Import von ausgewählten Kleinbetrieben aus der Dritten Welt beschafft, jeder Beschäftigte gewinnbeteiligt, der Top-Manager verdient nicht mehr als das Siebenfache des einfachen Arbeiters – schon genial, dieses Konzept, zumal in einem Land wie den USA, das sich jeder höheren Belastung der Besserverdienenden stets vehement widersetzt… Das Eis schmeckt auch klasse und ist seither unsere Lieblingsmarke! We recommend: Chocolate Chips Cookie Dough:-)


In Montpelier haben wir nach langer Zeit mal wieder schlechtes Wetter und müssen einen Tag mit Sturm und Starkregen aussitzen. Kein Problem – wie immer haben wir genug zu lesen dabei. Darunter natürlich "Als wär′s ein Stück von mir" – Carl Zuckmayers erwähnte Memoiren. Der hatte in Vermont eine kleine, entlegene und vom Verfall bedrohte Farm gepachtet und versuchte sich als Geflügel- und Ziegenzüchter. In Hollywood und in New York hatte er als Schriftsteller keinen Fuß auf den Boden gebracht, weil er sich außerstande sah, das Drehbuch für einen "seelenlosen Hollywood-Schinken" zu schreiben. Er stand dann vor der Wahl, sich entweder total verbiegen zu lassen und "in den Nebeln der Depression zu versinken" – oder ins kalte Wasser zu springen und etwas völlig Neues anzufangen. Wie er diese Herausforderung gestemmt hat, das macht Zuckmayers Memoiren für mich (Thomas) zu einem der besten Bücher der Weltliteratur. Es hat auch mir vor Jahren den Rücken gestärkt, meinen ungeliebten Job als Berufsschullehrer an den Nagel zu hängen, bei der Volkshochschule neu zu beginnen und dann später, immer mit einer schönen Auszeit dazwischen für ausgiebige Reisen, zur Schulbehörde zu wechseln. Aber das ist eine andere Geschichte…

Backwoods Farm – die Farm hinter den Wäldern. Das Anwesen liegt in Barnard im Windsor County, soll in Privatbesitz und immer noch bewohnt sein, auch nicht ganz leicht zu finden. Doch wir könnten es ja mal probieren, vielleicht einen Blick drauf werfen, wenigstens von außen, das müsste doch gehen? So buchen wir also telefonisch in Bethel ein Zimmer in einem kleinen Bed and Breakfast, das einzige verfügbare Quartier in dieser dünn besiedelten Gegend, neun Meilen von Barnard entfernt.


Gleich nach Montpelier wird es auf der VT 12 wieder recht hügelig und anstrengend. Wir kommen ins Tal des Dog River, wo kleine Farmen sich mit Wäldern abwechseln, die immer noch in den schönsten Herbstfarben leuchten, aber durch den gestrigen Sturm schon viele Blätter lassen mussten. Schweißtreibend der Anstieg hinauf zum Allis State Park, wo wir an einem verträumten Seelein unsere Mittagspause einlegen. Dann geht es endlich bergab, auf einer fürchterlich schlechten Straße, und durch die nette Kleinstadt Randolph nach Bethel.

Gleich finden wir unser vorgebuchtes Quartier, das Nestled Inn. Niemand da, aber das Haus ist offen und lässt sich auch gar nicht mehr abschließen, denn das Schloss wurde mit einem Stechbeitel aus der Tür gestemmt. Wir trauen uns nicht so recht, eigenmächtig unser Zimmer zu beziehen und fragen deshalb mal im örtlichen Grocery Store nach, ob jemand die Besitzerin kennt. Na klar, das sei Sue – alle im Laden sind sehr freundlich; gleich wird auch ein Anruf gestartet. So klappt es also doch noch – wir fahren wieder die paar hundert Meter zurück und werden jetzt tatsächlich erwartet.

Sue scheint heute irgendwie unpässlich zu sein, obwohl wir sie im Anbau rumoren hören. So führt uns der Nachbar Rick durch das historische Haus von 1903, zeigt uns unser Zimmer, erklärt die Benutzung der Küche und wirft den Internet-Router für uns an. Toller alter Kasten, ein früheres Herrenhaus; außer Fernseher, Kühlschrank und einem auch schon fast historischen Elektroherd scheint seit dem Bau kaum etwas Modernes dazu gekommen zu sein. Irgendwie hat dieses Etablissement etwas von einem alten Krimi – hoffentlich ist Sue nicht "neben der Kapp", schleicht nachts mit dem Küchenmesser über die Treppe oder schüttet uns Arsen in den Frühstückstee… You never know.

Wir setzen uns zunächst einmal eine Weile mit einem Kaffee und einem Bierchen auf der Veranda in die Abendsonne, dann erfreut eine gute heiße Dusche. Anschließend begeben wir uns nach Downtown ins "Cockadoodle Café", wo sie eine geniale Pizza haben. Der Laden hat was von einem historischen Saloon; das ganze Dorf trifft sich hier und man muss sich einfach wohl fühlen. Wir bleiben sitzen bis Betriebsschluss, das heißt hier in Vermonts Wäldern bis um Acht, dann werden Bethels Gehsteige hochgeklappt. Jetzt kann man höchstens noch an der Tankstelle ein Bier kaufen, in den 24-Stunden-Waschsalon gehen, in den Antiquitätenladen (der Inhaber ist im Sessel zwischen seinen Auslagen eingepennt) oder sich tätowieren lassen. Der Tattoo-Fuzzy kann wohl seine Zeche in der Pizzeria abarbeiten, denn die Bedienung sah aus wie eine weibliche (und jüngere) Version von Ozzie Osbourne… Wie hieß es doch bei Zuckmayer: Nonkonformistisch bis in die Knochen.

Am nächsten Morgen ist es kalt und nebelig; erst gegen 10.00 Uhr kommt die Sonne raus. Es wird dann aber ein schöner, sonniger Tag; grade recht, um die Backwoods Farm oben in Barnard zu suchen. Wieder geht es anstrengend bergauf (Zuckmayer sprach von 600 m Höhe) – kaum ein Fahrzeug begegnet uns auf der Straße, da trifft man wahrscheinlich eher noch einen Hirsch.

Unsere erste Anlaufadresse ist der Barnard General Store (since 1832), der unschwer mitten in dem kleinen Dorf an der Straßenkreuzung auszumachen ist. Recht nett ist es dort; der Laden mit integrierter Kneipe war schon zu Zuckmayers Zeiten Mittelpunkt des örtlichen Lebens; auch er hat dort so manches Mal gesessen, Neuigkeiten erfahren und natürlich eingekauft. Heute wird das Geschäft von Freiwilligen betrieben, die eine Kooperative gegründet haben – vorher stand es jahrelang leer.

Die nette Frau an der Kasse kennt die Backwoods Farm natürlich. Sie beschreibt uns den Weg dorthin, ein paar Meilen weiter den Highway entlang... Und wir sollen unbedingt die Privatsphäre respektieren. Na klar, das können wir sehr gut verstehen, dass der Besitzer (der vielleicht beim Kauf des Anwesens nicht einmal wusste, wer hier früher zu Hause war) nicht alle paar Tage Besuch bekommen möchte von Leuten, die unter allen Umständen seine Hütte besichtigen wollen. Aber wenigstens mal einen Blick riskieren…

So finden wir das alte Haus problemlos. Gleich erkennen wir es aus Zuckmayers Beschreibung an der asymmetrischen Dachkonstruktion; es ist prima in Schuss und sauber renoviert. Wir parken die Räder in respektvoller Entfernung, ich mache ein paar Fotos aus größerer Distanz, als sich plötzlich die Tür öffnet und ein Mann heraustritt. "You are looking for the Zuckmayer-House, I think? Well, you′ve found it!" Mann, haben wir ein Glück! Wir werden freundlich gebeten einzutreten, dürfen uns umschauen, Fotos machen… So sehen wir die riesige Küche mit den grob behauenen Deckenbalken aus dem 18. Jh. und dem schweren Eisenherd, dann das Wohnzimmer mit dem historischen Kamin, all die Dinge, die Zuckmayer beschrieben hat – kaum zu fassen.

Der Mann, der hier lebt, heißt Peter. Die Familie wohnt hier seit 1960; Peters Eltern haben das Haus dann 1963 von Joseph Ward gekauft, exakt demjenigen, der es früher an die Zuckmayers vermietet hatte. Peter hat Mr. Ward noch selbst gekannt, der wohl erst so um 1970 verstorben ist.


Peter, der ein ganz, ganz feiner Mensch ist, kennt tatsächlich auch Zuckmayers Memoiren sehr genau. Er ist Übersetzer für Spanisch und Portugiesisch, literarisch interessiert und fasziniert davon, welche berühmten Persönlichkeiten hier schon zu Gast waren, Bert Brecht etwa. Jetzt ist er gerade dabei, den Kamin zu verrammeln und das Haus frostsicher zu machen, denn im Winter wird er nicht hier oben sein. "Ab Mitte November etwa kannst du hier kaum mehr wohnen – es gibt keine Isolierung, die Bausubstanz ist noch Original 18. Jahrhundert", meint Peter. Schon vorhin ist uns aufgefallen, wie behutsam alles renoviert ist. Alle Teile der Farm sehen noch exakt aus wie zu Zuckmayers Zeiten, nur der Anbau, der früher als Schopf und Garage diente, wurde um eine Veranda erweitert. Die freistehende Scheune ist noch original, nur der Hühnerstall musste vor zehn Jahren abgerissen werden und der Fischteich wurde ausgebaggert und neu angelegt, weil er zu versumpfen drohte.

Zum Abschied kriegen wir sogar noch ein Glas von Mr. Ward′s gutem Quellwasser, das der einst Zuckmayer stolz wie einen edlen Wein kredenzte, von der Quelle, die schon Ward′s Großvater gefasst hatte. Dann werden wir herzlich und mit Handschlag verabschiedet. Peter hat es wohl gefallen, dass auch mal Besucher mit detaillierten Kenntnissen bei ihm vorgesprochen haben, und ganz sicher hat uns das Fahrrad mal wieder bei der Kontaktaufnahme geholfen – ein Bonus, den der Radler unbedingt jedem Porschefahrer voraushat.

Das war jetzt mal wirklich ein echtes Highlight heute! Wir radeln dann noch nach Woodstock hinunter, vorbei an dem Haus, in dem früher der Hardware Store von Maynes & Ward war, picknicken im netten Stadtpark, dann geht es zurück nach Bethel mit kleinem Zwischenstopp in Barnard, wo wir im General Store noch einen Kaffee trinken und uns ein Schokoladenküchlein schmecken lassen. An diesem Abend haben wir natürlich viel in unser Tour-Tagebuch zu schreiben! Sybille kocht eine gute Tomatensuppe, dazu gibt’s ein paar Bier und später noch etliche Tassen heißen Tee gegen die beißende Kälte in Sues altem Kasten. Dann schlafen wir unter einem dicken Stapel Wolldecken den Schlaf der Gerechten.

Am nächsten Morgen gibt sich Sue tatsächlich kurz die Ehre und wir lernen sie doch noch kennen. Sie ist erst noch ganz nett, wirkt fit und ausgeschlafen – trotzdem, der gute Rick muss das Frühstück machen, sich auch sonst um alles kümmern. Wir fragen, ob man sich nicht Sorgen mache wegen dem fehlenden Türschloss? Das sei schon seit Jahren so, hat halt mal blockiert. "Nothing happens in Vermont", brummt Rick hinter seiner Zeitung hervor. Dann klemmt er sich einen Besen unter den Arm und stapft die Treppe hinauf. Schon eine seltsame Konstellation, die beiden…  Wir brechen auf, als sich gegen 10.00 Uhr der Nebel lichtet. Trotz allem war es gut hier, speziell Ricks feine Bratkartoffeln:-)

Weiter geht es durch die bunten Wälder. Der Scenic Highway 100 bringt uns jetzt mit anstrengender Steigung hinauf zum Skigebiet Killington, dem wohl bekanntesten der Green Mountains. Der Sherburne Pass hat nur um die 700 Höhenmeter, trotzdem pfeifen wir aus dem letzten Loch, als wir oben ankommen. Dann geht es auf fetziger Abfahrt und bei hohem Verkehrsaufkommen über die US 4 hinab nach Rutland; dort dann weiter auf der US 7. Klingt einfach, doch schon im Stadtgebiet von Rutland werden wir vom Sheriff von der Hauptstraße verscheucht und wir müssen uns eine Ersatzroute durch Downtown und über ein paar stille, aber nicht ausgeschilderte Farm Roads basteln. Ab hier ist Vermont kein uriges Hinterwäldler-Land mehr, sondern Verkehrskorridor und Naherholungsgebiet der großen Städte weiter südlich. Die Befahrbarkeit der Straßen und das Verkehrsaufkommen sind jetzt von hier bis NYC unser Hauptproblem – wir werden genau navigieren müssen.


Über Manchester Center, gepflegt, mit einer Anzahl abgehobener Nobelläden und 4 km Marmor-Gehweg (!) dazwischen, radeln wir nach Bennington, biegen ab auf die ruhige Route 67 und sind bald wieder in Upstate New York; zum zweiten Mal auf dieser Reise. Fast schließt sich jetzt der Kreis; die Green Mountains laufen in niedrigeren Hügelketten aus, dann überqueren wir auf einer interessanten Zugbrücke den Hudson, der jetzt unsere Leitlinie bis ins Ziel sein wird.

Drüben sind wir in Albany, New Yorks kaum bekannter Hauptstadt. Hier mieten wir noch mal für ein paar Tage ein Auto – Plymouth mit der Mayflower und auch Cape Cod wollten wir gerne noch sehen, wenn wir schon mal in New England sind… So erreichen wir die Küste doch noch mal vor New York; mit dem Rad hätte das nicht mehr gelangt. Ist auch gut so; es ist schon sehr herbstlich dort draußen; nicht jetzt im Sinne von bunten Blättern, sondern von Nebelsuppe und einer feuchten Kälte, die durch jede Ritze in die Klamotten kriecht.


Albany – Brooklyn / NYC (280 km*)

Der Hudson River wird oft als "Rhein Amerikas" bezeichnet – das passt. Er ist der wichtigste und größte Fluss des US-Ostens, ein bedeutender Schifffahrtsweg, kann es auch von der landschaftlichen Schönheit her mit dem "echten" Rhein aufnehmen, und auch von der amerikanischen Form der Rheinromantik war ja hier schon die Rede. Schon im 19. Jahrhundert ließ sich die damalige High Society palastartige Herrenhäuser an den Hudson-Ufern bauen, der Fluss animierte bedeutende Künstler zu großartigen Werken – es gibt eine Menge zu sehen.

Kaum zu sehen bekommen wir aber zunächst einmal den Fluss selber, außer gleich unmittelbar in Albany. Gar nicht so einfach, die richtige Stadtausfahrt zu finden – das Hudsontal ist auch eine wichtige Verkehrsachse und die Uferstraße zunächst eine mörderische und für Radler zu Recht verbotene Interstate. Durch dröge Industrie- und heruntergekommene Wohnviertel, in denen wir jetzt nicht unbedingt eine Panne haben wollten, finden wir dann die NY 144, schmal und schlaglochdurchsetzt. Dazu ist es zapfig kalt – 33,5 Grad Fahrenheit zeigt das Thermometer an einem Fabriktor an, also knapp 1 Grad Celsius. Wir schreiben Mitte Oktober, im Mittelwesten hatten sie schon den ersten Wintereinbruch, einen halben Meter Schnee in Rapid City, und die Hochlagen der White Mountains machen jetzt auch wieder ihrem Namen Ehre. Selbst in Albany sollen ab morgen die ersten Flocken wirbeln; wird höchste Zeit, dass wir uns nach Süden absetzen. Ein kräftiger Nordwind hilft uns dabei. Zum Wochenende soll es aber wieder wesentlich wärmer werden, immerhin.

Bald zieht sich die Interstate ins Hinterland zurück, und bei New Baltimore wechseln wir über auf die US 9W. Die ist zwar stellenweise recht stark befahren, aber sehr gut ausgebaut, gilt allgemein als gute Fahrradstrecke und vor allem für die zahlreichen Rennradler als bestes Ausfall-Tor aus New York. Hier sind wir also jetzt richtig! Und als nach einem kurzen, kalten Regenschauer nahe Catskill dann sogar die Sonne hervor kommt wissen wir, dass wir jetzt vollends auf der Siegerstraße sind. Kalt bleibt es zunächst trotzdem – zum Aufwärmen hilft das hügelige Terrain. Oder auch der heiße Kaffee in ein paar richtig tollen Diners, edelstahlverkleidet, im Stil der 50er-Jahre, wie wir sie bislang nur aus nostalgischen Büchern kannten. Charmanter kann man bei einer USA-Radtour wohl kaum Mittag machen. Zum Aufbruch dann einen Quarter in die Music Box: "On the Road again"

Im Storm King State Park geht es nochmal richtig zur Sache; wir kommen auf steilem Anstieg bestimmt 300 m über das Niveau des Hudson hinauf, dazu werden oft wieder etliche Höhenmeter auf Zwischenabfahrten vernichtet. Die Wälder leuchten hier noch in den schönsten Farben; wir sind wirklich auf einer Welle der Peak Foliage durch den amerikanischen Herbst gesurft! Jetzt sehen wir endlich auch öfter den Fluss und radeln sogar ein Stück an ihm entlang, beispielsweise in der Kleinstadt Nyack. Hier wuchs Edward Hopper auf, einer der vom Hudson inspirierten Künstler, der Meister des Amerikanischen Realismus. Sein Geburtshaus kann man besichtigen, wobei dort allerdings nur ein paar Skizzen und Karikaturen von ihm zu sehen sind. Für seine wirklichen Meisterwerke müssen wir noch bis NYC warten – "Gas" etwa, unser Lieblingsbild, hängt dort im Museum of Modern Art; die unfangreichste Sammlung hat das Whitney Museum.


Noch bis kurz vor New York könnte man meinen, man radelt auf dem Land dahin, mit eingesprenkelten Dörfern und Kleinstädten – absolut nichts Weltstädtisches bis hier! Erst in Englewood und Fort Lee (NJ) dann kriegt das Ganze Großstadtcharakter. Absolut genial ist unser Motel am letzten Abend vor dem Endspurt: Die Econolodge liegt praktisch direkt an der Zufahrt zur George Washington Bridge, die wir uns abends noch auf einem Spaziergang anschauen. So schön beleuchtet wie auf manchen Fotos ist sie heute nicht, trotzdem sehr eindrucksvoll. Da geht es morgen drüber…

Ha, New York – wir kommen! Sonne, Wind und treibende Wolken begleiten unseren Final Countdown; voll euphorisch ziehen wir jetzt auf den Geh-/Radweg der George Washington Bridge hinaus. Echt Wahnsinn, fast fühlen wir uns in die Stratosphäre katapultiert, so hoch über dem Fluss, das erinnert uns an unseren Ritt über die Golden Gate Bridge vor 15 Jahren… GG war es auch, die GW einst als längste Hängebrücke der Welt ablöste. Heute wie damals am Golden Gate bläst uns der Wind fast gegen das Geländer. Trotzdem sind eine ganze Menge Radler und auch Jogger unterwegs; GW ist der einzige Weg, wie man radelnder Weise von New Jersey her nach Big Apple hinein kommt. Natürlich müssen wir x-mal anhalten, unzählige Fotos machen – Manhattans Hochhäuser sind wunderbar in der Ferne zu erkennen, wir meinen gar, die Freiheitsstatue am Horizont im Dunst erspähen zu können. Sie scheint uns mit ihrer Fackel zuzuwinken:-)


New York und Euphorie, das ging bei uns anfangs nicht so zusammen. Klar, tolle Stadt, geradelt sind wir hier auch schon… Nur, drei Tage vor unserem Abflug hatten wir noch nicht mal ein Quartier. 300 Bucks für ein Mini-Hotelzimmer, alle Hostels überbucht, auch bei Air BnB und Konsorten kamen wir nicht zu Potte. Selber schuld, wenn man bei der Planung verpennt, dass ausgerechnet der New York Marathon in die anvisierte Aufenthaltszeit fällt. Schließlich stoßen wir auf die Online-Plattform WIMDU mit natürlich auch schon recht ausgedünntem Angebot. Dort können wir bei einem gewissen Adam eine Zusage ergattern, 23rd Street, Lower Eastside – na, Spitze! Doch Anfang August schickt Adam uns eine Mail, anhängend ein Foto von seinem Girlfriend mit Ferrari, und lässt uns wissen: Wenn wir nicht am ersten Tag nach der Ankunft den vollen Betrag in bar berappen schmeißt er uns raus. Dabei ist das Geld schon über unsere VISA-Karte abgebucht, der Wohnungseigner kriegt es gemäß AGB während des Aufenthalts von WIMDU überwiesen. So geht es also nicht – das Ganze zurück, Adam fliegt aus dem Portal und wir haben wieder nix. Erst in wirklich letzter Minute meldet sich Naimah, kleines Apartment, weit draußen in Brooklyn, Bedford-Stuyvesant. War da nicht was mit Straßengangs, ausgebrannten Wohnblocks, im besten Fall noch Ghetto? Uns bleibt keine Wahl, wir sagen zu, das Geld wird wieder abgebucht. Doch wie kommen wir an die Schlüssel? Unsere Mails bleiben unbeantwortet, gleichfalls ein Anruf auf Naimahs Handy. Hängt die Frau auf der Droge oder was? Erst über die WIMDU-Notrufnummer klappt es endlich; da sind wir schon auf dem Sprung zum Flughafen. Naimah lässt vielmals entschuldigen, irgendwas bei der Mail-Übermittlung hat wohl nicht geklappt. Jetzt haben wir wenigstens Adresse, Datum, Uhrzeit, wir sollen uns bei einem Mr. Thomas melden, schräg gegenüber – uff! Uns fällt ein Stein vom Herz, doch eine gewisse Skepsis bleibt.

Weiter über die GW Bridge. Auf der anderen Hudson-Seite sind wir in Washington Heights; ein steiler Kringel führt von der Brücke auf den Riverside Drive hinab. Wir passieren das riesige Krankenhaus der Columbia University, dann geht es Richtung Downtown, entlang gepflegter Wohnanlagen. Nur zwei Blocks weiter liegt Central Harlem, auch so ein Ghetto – werden wir vielleicht ein paar Vorurteile revidieren müssen? Auch den Radweg unten am Fluss, auf dem wir dann ein Stück zugange sind, gab es vor 19 Jahren noch nicht. Gigantisch, was New York seither für Radler und überhaupt für seine Bürger getan hat!

Diese Entwicklung hat einen Namen: Michael Bloomberg. Als Bürgermeister von New York seit 2001 (zum symbolischen Jahresgehalt von 1$) hat der Unglaubliches vollbracht, etwa die Kriminalität dramatisch gesenkt und umweltmäßig so einiges auf die Beine gestellt, dabei eine Vervierfachung des Radwegnetzes. Eine erstklassige New York City Bike Map erhält man in jedem Radladen von Big Apple kostenlos oder kann sie im Internet herunterladen – natürlich haben auch wir sie dabei; auf unserem Weg nach BedStuy müssen wir ja die halbe Metropole queren. Einen Teil dieses Fortschritts hat Bloomberg auch noch aus eigener Tasche finanziert; damit steht er auf einer Stufe mit Bill Gates, Warren Buffett oder auch John D. Rockefeller jr., dem "Erfinder" von Acadia.

Über die 79th Street geht es dann hinauf zum Central Park. Dabei passieren wir die Stelle, wo 1980 John Lennon ermordet wurde, und das Memorial "Strawberry Fields". Gleich gegenüber im Dakota Building hat er damals gewohnt. World Peace – es war ihm nicht vergönnt… Spätestens hier wissen wir wieder: New York lässt keinen kalt, niemals. Auch wenn es sich alle paar Jahre runderneuert, völlig wandelt, neu erfindet – New York bleibt die Stadt der Städte.

Am Columbus Circle wechseln wir auf den Broadway, dort weiter zum Times Square. Auch hier hat sich viel verändert; der Broadway hat jetzt einen tollen Radweg und auf dem Times Square gibt es Straßencafés. Dazu Stationen des neuen Leihradsystems Citibike allerorten – auch ein Projekt, das Michael Bloomberg durchgesetzt hat, gegen massiven Protest etwa des Taxigewerbes, wo sie ihre Felle davonschwimmen sahen. Eine nicht ganz unberechtigte Sorge, wenn man sieht, wie viele New Yorker auf diesen blauen Drahteseln unterwegs sind. Aus Motor Town wird Bike Town – sagenhaft, schon jetzt können wir sagen, in NYC radelt es sich besser und entspannter als in Stuttgart oder München. Natürlich auch, weil der motorisierte Verkehr oft steht; eine große Zukunft hat der in der Großstadt eben nicht:-)

Vorbei am Flatiron Building (erinnert uns natürlich an Toronto) und über die 2nd Ave. geht es weiter bis zur Delancey Street, der Zufahrt zur Williamsburg Bridge. Hier queren wir den East River, wobei natürlich auch wieder eine Menge Fotos fällig sind. Das Empire State Building sticht aus der Skyline hervor, auch das neue One World Trade Center am Ground Zero; es steht kurz vor der Vollendung. Dann sind wir auch schon drüben in Brooklyn.

Über den dortigen Broadway radeln wir unter einer rumpeligen Hochbahntrasse entlang durch Gegenden, die erst auf den zweiten Blick einen gewissen Charme entwickeln, zu unserem gebuchten Apartment in der Bainbridge Street. Diese ist gesäumt von netten Brownstones, kleinen Sandstein-Reihenhäuschen, fast alle freundlich bunt gestrichen, mit kleinen Gärtchen und hochliegenden Eingangstüren, die man über eine Art Freitreppe erreicht.

Gleich finden wir auch unser Haus. Wie erwartet, eine sehr authentische Gegend, die Bevölkerung ist fast zu 100% schwarz oder mit Hispano-Einschlag. Doch freundliche Blicke begleiten unsere Ankunft, die sich schon herumgesprochen hat. Mr. Thomas wohnt gegenüber im Tiefparterre, gleich führt mich ein Nachbar dorthin. Eine Bimmel gibt es nicht, nur zwei Drähte hängen aus dem Türrahmen. Auf dreimaliges Klopfen erscheint Thomas dann, ein kräftiger Schwarzer, mit schwerem Goldschmuck behängt – wie in einem Gangsterfilm, muss ich unwillkürlich denken. Als ich ihm erkläre, dass ich auch Thomas heiße, strahlt er wie eine 1000-Watt-Leuchte, kräftiger Handschlag: "Welcome to our Neighborhood!" Wieder hinüber, wir werden in unsere Behausung eingewiesen. Tiptop, alles da, zwei Zimmer, Wohnküche, Bad (mit Jacuzzi!), und – Naimah hat uns sogar den Kühlschrank gefüllt! Unglaublich, wenn uns vor ein paar Jahren einer gesagt hätte, dass wir mal in BedStuy Quartier nehmen würden, wir hätten ihn wahrscheinlich für verrückt erklärt.

Naimah kommt uns dann am nächsten Tag besuchen – und jetzt schämen wir uns wirklich für unsere Vorurteile und anfänglichen Zweifel. Die Frau ist so was von nett; Mutter und Großmutter, arbeitet am Schalter eines Postamts in Manhattan, dabei ist sie noch Vertrauensfrau der Postgewerkschaft und auch noch Sängerin in einer Jazzband. So hat sie einfach kaum Zeit, ist ständig irgendwo eingespannt. Das mit dem Jazz erfahren wir leider erst nach zwei Wochen beim Abschied, als sie Sybille, fast verstohlen, eine CD mit ihren Songs zusteckt. Schade, das hätten wir uns doch zu gerne live angehört. Ein Beispiel mal wieder dafür, dass du, so oft du auch New York besuchst, jedes Mal irgendwas Interessantes verpasst.

In den nächsten Tagen erradeln wir uns fast den gesamten Big Apple, gut 400 km durch sämtliche fünf Boroughs mit Ausnahme der Bronx (ist zu weit draußen). Vorher besuchen wir Steve Silver in seinem Loft in der Berry Street, einen für seine authentischen Radtouren bekannten Insider. Sehr nett ist es in Steves lichtdurchflutetem Atelier in der alten Munitionsfabrik (er ist auch Künstler, mit Ausstellungen auf der halben Welt) – leider ist das Programm für die Saison beendet, doch Steve nimmt sich eine gute Stunde Zeit und zeichnet uns die schönsten Runden mit ihren Must Sees in die Karte ein. Sogar durch Harlem, aktuell Boomtown Number One – wie gesagt, die Vorurteile…

Weite Teile von Manhattan erscheinen uns dagegen im Moment überlaufen, durchkommerzialisiert, partymäßig und ein bisschen beliebig. Auf der Brooklyn Bridge etwa, über die wir natürlich auch radeln müssen, kann man vor lauter Menschenmassen kaum treten und wir sind stellenweise gar zum Schieben gezwungen – unglaublich; vor 19 Jahren waren wir praktisch die einzigen auf der Brücke (abgesehen vom Autoverkehr einen Stock tiefer), die einzigen Radler sowieso. Und am Battery Park bei Starbucks warten etwa 40 Leute, bis das Klo frei wird…

Auf jeden Fall sind wir dermaßen froh, hier draußen in BedStuy gelandet zu sein. An jeder Ecke gibt es einen Laden, zwei Blocks weiter fährt die Subway, die Nachbarn sind supernett, nie fühlen wir uns unsicher. Auf der Straße parken gute Autos, täglich wird der Gehweg gefegt (!) und abends patrouilliert ein Cop durch das Viertel. Manchmal sitzen wir mit einem Bier und einem Kaffee draußen (Naimah hat Tisch und Stühle vors Haus gestellt), dann kommen die Nachbarn herbei und es gibt nette Unterhaltungen – New York City at it′s Best! Gar nicht weit von hier, gleichfalls in Brooklyn, wohnt auch (wie wir in einem Brownstone-Reihenhaus) New Yorks künftiger Bürgermeister Bill de Blasio. Er wurde am 5. November 2013 mit großer Mehrheit gewählt; Michael Bloomberg durfte nach 12 Jahren Amtszeit leider nicht mehr antreten. Brooklyn gilt heute als gentrifiziert, und echte Problemviertel gibt es in ganz New York nicht mehr. Wir wünschen Bill de Blasio und dieser Stadt, dass die tolle Entwicklung so weitergeht.

Ja, und natürlich die Freiheitsstatue. Weit über 90% der Weltbevölkerung erkennen sie, wenn sie auf Bildern auftaucht; sie wird glorifiziert und karikiert, in den Himmel gehoben und als Heuchelei gegeißelt. Wie auch immer, Miss Liberty ist und bleibt das Symbol der USA, mit allen ihren Stärken und Schwächen. Ich (Thomas) kriegte vor über 40 Jahren ein Buch zur Konfirmation, das ich heute noch habe; darin ein Foto, auf dem Besucher aus den kleinen Fenstern unter Miss Liberty′s Krone schauen. Das, schwor ich mir schon damals, das will ich auch mal…

Dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen hat uns viel Geduld gekostet. Bei unseren drei vorangegangenen New-York-Besuchen seit 1986 war das Monument jedes Mal geschlossen, wegen Überfüllung oder Restaurierungsarbeiten, dann wegen 9/11, der Zugang zur Krone sowieso nie möglich. Und dann noch der Government Shutdown kürzlich – wir haben sicher hörbar aufgeatmet, als wenigstens dieser am 16. Oktober vorüber war. Jetzt stehen wir, nach einer Leibesvisitation wie auf dem Flughafen, endlich auf Liberty Island – kaum zu glauben.

Doch das heißt noch lange nicht, dass man auch hinauf zur Krone kommt. Nur acht oder zehn Personen dürfen gleichzeitig dort oben sein, aus Sicherheitsgründen. Den Zugang bucht man extra, wie schon erwähnt bis zu drei Monate im Voraus, exakt mit Tag und Uhrzeit. Schon in den ersten Tagesstunden sind dann oft alle Tickets vergeben, und Standby geht praktisch gar nicht. Jeder will halt den Spirit dieses genialen Bauwerks erleben, das der Elsässer Auguste Bartholdi in den 1870er-Jahren gezeichnet und entworfen hat, die Stahlkonstruktion innen drin stammt von Gustave Eiffel. Doch auch der Sockel, vom renommierten Architekt Richard Morris Hunt entworfen und auf einem früheren Hafenfort errichtet, strahlt eine gewisse künstlerische Größe und Faszination aus. Seine vier Terrassen erlauben einen monumentalen Rundblick auf die Südspitze Manhattans, die Hudson-Mündung, das Jersey-Ufer, Ellis Island und vieles mehr – weiter hinauf müsste man jetzt rein aus Gründen der Aussicht eigentlich nicht.

Im Sockel ist ein interessantes Museum integriert; dort kann man die ursprüngliche Fackel der Statue aus nächster Nähe bestaunen. Die frühere Flamme war aus Glas, von innen erleuchtet und sollte als Leuchtturm fungieren, doch Miss Liberty brachte es über ein trübes Funzeln nie hinaus, das selbst von Manhattan aus kaum zu sehen war. Arm und Fackel waren immer der Schwachpunkt der ganzen Konstruktion. Nach Beschädigung durch die Explosion eines Munitionsdepots am New-Jersey-Ufer wurde der Arm 1916 für Besucher geschlossen – früher war er auch zugänglich gewesen, über eine steile Eisenleiter. Die Fackel musste dann ersetzt werden, weil Wasser eindrang und die ganze Freiheitsstatue korrodieren ließ. Sagenhafte Bilder finden sich da im Web, von der Innenkonstruktion und aus für Otto Normal-Touri nie möglicher Perspektive. Faszinierend, dieses Teil; in jeder Hinsicht.

Zur Krone hinauf geht es dann über eine tolle, steile, sehr enge Wendeltreppe, neu gefertigt aus rostfreiem Stahl, die uns von der Konstruktion her an Leonardo da Vinci erinnert. Vorher muss man aber alles, selbst Geldbörse und Schlüsselbund, in einem Schließfach deponieren; nur die Kamera darf mit hinauf. Und dann stehen wir endlich in Miss Liberty′s Gehirn und dürfen durch die geschwungene Front aus winzigen Fensterchen hinausblicken, direkt unter der Strahlenkrone… Das setzt im wahrsten Sinne des Wortes unserem New-York-Besuch die Krone auf:-)

Bei der Rückfahrt legt unser Schiff sogar noch in Ellis Island an – das Immigration Museum dort gehört auch zum Statue of Liberty National Monument und ist sehr beeindruckend. Wir sehen die riesige Halle, in der zwischen 1892 und 1924 jeder Auswanderer registriert wurde, selbstverständlich nach einem scharfen Verhör und eingehender medizinischer Untersuchung. Gar nicht so wenige wurden gleich wieder zurück geschickt; das gelobte Land blieb ihnen verschlossen. Ellis Island war gefürchtet – auch Zuckmayer beschrieb eindrucksvoll seine Ängste damals bei der Immigration. Zu seiner Zeit, 1939, war Ellis Island zwar schon nicht mehr in Betrieb, das Procedere aber war das gleiche. Nur wir, wir haben mit Ellis Island ein Riesen Glück – seit schweren Beschädigungen durch Hurrikan Sandy im letzten Jahr ist es jetzt gerade den zweiten Tag wieder offen. Das ist jetzt das kleine Tüpfelchen auf dem I, das Finale einer genialen Radtour, bei der alles, aber auch wirklich alles gepasst hat. Und, nicht zu vergessen, das Beste in beiden Ländern, in Kanada wie in den USA, waren wieder die Menschen – halt Urlaub unter Freunden.

Zum Abschluss fahren wir noch mit der Subway zum Empire State Building hinüber und genießen die Aussicht auf die riesige Stadt, gerade zum besten Zeitpunkt von der Dämmerung bis zum Einbruch der Nacht, wobei ein unglaubliches Lichtermeer bis zum Horizont es eigentlich gar nie richtig Nacht werden lässt.



Licht um Licht geht an in den Wolkenkratzern, die Stauschlangen der Autos winden sich durch Big Apple und zeigen uns mal wieder deutlich, wie wir auf jeden Fall auch unsere nächste Reise angehen werden – per pedales, mit dem Fahrrad. So kommst du überall hin, sogar von BedStuy hinaus zum JFK Airport. Ist schon ein geiles Gefühl, am Terminal Eins vorzuradeln, unter den scheelen Blicken des Taxi- und Transportgewerbes (dem wieder einmal ein paar Felle davongeschwommen sind), absteigen, durch die Drehtür schieben, Radtaschen zu zwei Paketen verschnüren, alles aufgeben, fertig.

Fahrräder demontieren und verpacken, das war gestern, dank Lufthansa. Und als wir noch nicht mal im Flieger sitzen wissen wir schon, dass wir ganz bestimmt in absehbarer Zeit mal wieder unsere Pedale auf der anderen Seite des Großen Teichs rotieren lassen.

So long, happy Trails

Gruß Sybille & Thomas

* Alle km-Angaben aus Karten und dem Internet ermittelt, überschlagen und bereinigt, d.h. Fahrten zum Supermarkt, Stadt- oder NP-Runden ohne Gepäck usw. wurden abgezogen. Die Google Map unten zeigt unsere Route näherungsweise und basiert nicht auf selbst ermittelten GPS-Daten, also ohne Gewähr. Blau = geradelt, Rot = mit dem Auto zurückgelegt. Am Ende unserer Tour hatten wir real 4380 km auf dem Tacho. Reisedauer: Drei Monate von Anfang August bis Anfang November 2013.


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