Deep South USA

Deep South USA

Ende April 2015, LH 440 im Anflug auf Houston, Texas. Aus dem Kabinenfenster blicken wir auf weites, brettebenes Land, Wiesen, viele Wäldchen, verschlungene Flussläufe und riesige Wasserflächen. Von einer Großstadt ist praktisch nichts zu erkennen, noch nicht einmal, als wir schon mit vernehmlichem Ruck auf dem Beton des George Bush International Airport aufsetzen.

Was wissen wir über Houston (TX)? Nicht viel – Zentrum der US-Ölindustrie, dazu anno 1970 den legendären Funkspruch von Apollo-13-Astronaut John Swigert: "Houston, wir haben ein Problem!" Und Beginn der politischen Karriere von George Bush. Dies sind jetzt alles keine Features, die einen Aufenthalt hier rechtfertigen würden, zumindest nicht für uns. Aber es gab hierher einen Lufthansa-Direktflug, die beste Option für den Start unserer Tour mal durch ein ganz anderes Amerika: Südstaaten-Flair, gute Musik, der "Ol' Man River" Mississippi, Floridas Golfküste mit den angeblich schönsten Stränden Nordamerikas, dazu Alligatoren und andere nicht ganz alltäglichen Tiere – das alles hoffen wir hier zu erleben. Und zum Schluss soll es über den Overseas Highway bis ganz hinunter nach Key West gehen, da sind wir dann schon fast in Cuba. Das verspricht interessant zu werden.

Der Flughafen liegt draußen in Humble, und das Airport Shuttle bringt uns samt verpackten Rädern zu unserem vorgebuchten Motel. Wir passieren parkartige Wohngebiete, eingesprenkelte Gewerbeflächen, riesige Parkplätze, nur am Horizont sieht man mal ein paar Hochhaustürme – so eine dünn besiedelte Großstadt haben wir noch selten gesehen. Zum Erwerb eines Mittags-Sandwichs an der nächsten Tankstelle müssen wir eine gute Meile latschen. An jeder Straßenecke gibt es wunderbare Fußgängerampeln, aber keine Gehwege und außer uns keinen einzigen Fußgänger. Man tigert halt quer durch die Prärie. Welcome to Texas! Eins ist schon mal klar: Ohne ein Pferd, heute natürlich ein Auto, bist du nix in diesem Land!

Zum Glück haben wir ja unsere Iron Horses, die schnell zusammengesetzt sind und freudig mit den Hufen scharren. Jetzt noch zwei Gaskartuschen kaufen, ein paar Lebensmittel und ein bisschen Kleinkram – fast 20 km sind wir dazu unterwegs. Na immerhin – alles funzt, kein Transportschaden diesmal, und jetzt kann die Reise losgehen:-)

Humble - New Orleans (720 km*)


Am nächsten Morgen früher Aufbruch, eastbound, und voll in die Pedale getreten. Ab Mittag soll es kräftig schiffen und schwere Gewitter geben, unweit von uns besteht sogar Hurrikan-Gefahr. Ganze 10 Meilen brauchen wir noch, bis wir den Stadtrand von Humble / Houston erreicht haben und die "Farm Road 1960", anfangs ein sechsspuriger Highway, schmäler wird und nur noch durch weite Anbau- und Weideflächen führt. Riesige Ranches sind das hier draußen, fast von Horizont zu Horizont. Der alte Witz von dem Bauern auf der Schwäbischen Alb kommt uns da in den Sinn, der einstmals Besuch von seinem nach Texas ausgewanderten Vetter erhielt. "Hey man," sprach der Texaner, "meine Ranch is so great, dass ich brauch' ein ganze Tag zu fahren mit Tractor einmal drumrum!" "Oh ja," meinte da der Älbler, "des kann i nochfühla. So a G'lompp han i au mol ghet."

Auf jeden Fall, alles recht ausladend hier draußen, vom Longhorn-Rind bis zu den Schlitten mancher Verkehrsteilnehmer. Cadillac mit eingebautem Tire Slasher, so was hatten wir auch noch nie gesehen. Sowohl dem Rindviech als auch dem Auto kommt man als Radler wohl besser nicht zu nahe. Wenigstens hat jede Straße einen guten, breiten Seitenstreifen.

Kurz vor Mittag – der Himmel ist jetzt fast schwarz mit durchhängenden Wolken, die ersten Blitze zucken. Eins haben wir schon mal gelernt: Wenn der Weather Channel "Thunderstorms at Noon" prognostiziert, dann kannst du dich 100%ig drauf verlassen. In den USA, speziell im tiefen Süden, wird das Wetter ernst genommen – aus gutem Grund. Wir beenden die erste Etappe also nach nur 57 km in Liberty, kaufen schnell was zu essen und können uns dann gerade noch unter ein Motel-Vordach flüchten. Dort sitzen wir im Arkadengang vor unserem Zimmer und erleben beeindruckt den Niedergang gewaltiger Wassermassen. Und wir erleben auch die beeindruckende Freundlichkeit der Texaner. "Do you need something for Dinner?" fragen die beiden netten Betonwerker aus dem Nebenzimmer, die gerade in ihren Truck steigen. Da wir ja schließlich mit dem Rad unterwegs sind und hier ein wenig außerhalb wohnen, hätten sie uns aus dem Supermarkt was mitgebracht. That's Texas! Irgendwie ein gutes Gefühl.

Nächste Etappe: Port Arthur, Heimatstadt von Janis Joplin und ein wichtiges Zentrum der Ölindustrie. Am Abend geht das nächste Gewitter nieder, ein leichtes diesmal, dazu sieht man die Feuerfackeln der Raffinerien am Horizont leuchten. Der für gestern vorhergesagte Hurrikan zog nordöstlich von uns vorbei, konnte zum Severe Storm herabgestuft werden und hinterließ nur geringe Schäden – noch. Eine Gefahr, mit der die Südstaatler leider immer leben müssen; das im Motelzimmer ausgehängte Schild spricht eine deutliche Sprache. Auch deshalb haben wir unsere Tour so früh im Jahr gestartet; als Haupt-Hurrikan-Saison gilt gemeinhin Juni bis Oktober.


Auf der himmelhohen Gulfgate Bridge überqueren wir anderntags den Intracoastal Waterway. Der ist für die US-Schifffahrt ein wichtiger Verkehrsweg abseits von Brandung und Wellengang, und die Brücke ist für uns die erste und für die nächsten Wochen letzte Möglichkeit, mal in die Berggänge zu schalten. Rund 50 Meter über dem Wasser erleben wir einen beeindruckenden Rundblick über das weite, flache Land und gleichzeitig den zweithöchsten Punkt unserer gesamten 6-wöchigen Radreise. Unten werden riesige Tankschiffe beladen – ein auf seine Art auch recht beeindruckender Anblick.

Drüben geht es durch weites Marschland und später auf einer niedrigeren, aber ziemlich langen Brücke über den Sabine Lake; dann sind wir in Louisiana. Wir sehen unzählige Vögel, bestimmt mehr als 20 Arten vom Black Skimmer bis zum Roseate Spoonbill. Funktionierender Naturschutz gleich in Nachbarschaft zur Ölindustrie. Faszinierend; so wird das trotz eigentlich eintöniger Landschaft eine sehr interessante Etappe. Schade, dass wir die Vogel-Vielfalt hier nur durch den obigen Link veranschaulichen können – unsere kleine Kompakt-Knipse ist mit solchen Naturbildern überfordert; wir werden doch mal technisch aufrüsten müssen.

Jetzt folgt ein laaanger, einsamer Stretch bis Cameron (LA). Zum ersten Mal auf dieser Tour radeln wir entlang dem Meer dahin, gut 70 km – endlos lange Strände, auf denen ein paar Stochervögel picken, kaum Verkehr, ab und an ein paar Ferienhäuser, die zum Großteil auf stabilen Beton-Stelzen stehen (die nächste Springflut kommt bestimmt). Es ist schon früher Abend, als uns dann eine Fähre über den Calcasieu River nach Cameron hinüber bringt. Dieses Kaff liegt absolut am A*** der Welt und wurde nicht erst einmal von Hurrikanen platt gemacht. Kein Stein blieb auf dem anderen, es gab Hunderte von Toten, eindrucksvoll hier unter History nachzulesen. Immerhin gibt es ein einziges Motel und zwei Winz-Läden. Wir kaufen die letzten beiden Joghurts auf; Obst ist im Umkreis von mindestens 50 km nicht erhältlich, auch kein Salat, kein Frischgemüse. Zum Abendessen machen wir eine Dose Chili aus unseren Vorräten auf, dazu gibt's ein paar Büchsen Bier. Das war in reicher Auswahl beim örtlichen Einzelhandel vorhanden und ist wohl das einzige Vergnügen für die Anwohner in ihrem entlegenen Außenposten der Zivilisation.


Frühmorgens verlassen wir dann Cameron auf der "Hurricane Evacuation Route" zu einer langen Etappe. Nur weit landeinwärts gibt es eine dichtere Besiedlung, und das nächste Motel gibt es erst in Jennings nach gut 120 km. Dafür sehen wir wieder viele Tiere, Vögel vor allem, und manchmal springt mit vernehmlichem "Plopp" eine Schildkröte in den Wassergraben neben der Straße. Solche Gräben und Flüsschen durchziehen halb Louisiana und werden hier Bayou genannt. Feuchtwiesen wechseln ab mit Sumpf und Seen; manchmal sieht man Kühe weiden, die bis zum Bauch im Wasser stehen. Und wir sehen unseren ersten kleinen Alligator – er ist auf der Straße platt gefahren. Später folgen dichte Sumpfwälder, dann säumen Reisfelder die Straße. Über die US 90 erreichen wir endlich gegen 17.00 Uhr Jennings und sind jetzt fast genauso platt wie der kleine Alligator vorhin, nachdem zum Schluss noch ein kräftiger Gegenwind eingesetzt hatte. Doch die gerechte Belohnung folgt auf dem Fuß – das Abendessen bei Mike's Seafood and Steakhouse. Nach dem "Red Snapper Cajun Style" in dieser völlig unprätentiösen Kneipe sind wir absolut sicher, noch nie auf einer USA-Reise besser gegessen zu haben. Die Cajun Kitchen wird eins der absoluten Highlights auf dieser Tour werden, das ist schon mal klar – wir sehen nahrhafte Zeiten auf uns zukommen:-)

Cajun, der Begriff hat einen gewissen Klang – nicht von ungefähr! Was bei uns in erster Linie als eine Musikrichtung bekannt ist bezieht sich auf die Acadians, die Akadier aus den kanadischen Ostprovinzen, die nach dem britisch-französischen Krieg 1755 vertrieben wurden (dazu fällt uns gleich der Besuch von Québec bei unserer Indian Summer Tour vor zwei Jahren ein) und sich dann hier in Louisiana ansiedelten. Nirgends ist das besser und prägnanter erklärt als bei Wikipedia, und wir sind jetzt hier mitten im Cajun Country unterwegs. Creole, kreolisch hingegen, auch oft mit Louisiana in Verbindung gebracht, ist etwas völlig anderes, mit afrikanischen Wurzeln, hat sich aber teilweise vermischt. Genauer erfährt man das in Lafayette im sehr gut gemachten Museumsdorf und Kulturzentrum Vermilionville. Das ist uns auf jeden Fall einen Ruhe- und Kulturtag wert!

In dem aus Originalhäusern rekonstruierten Dorf am Bayou Vermilion ist sehr nett dargestellt, wie die Cajuns einfach leben mussten, gerade hier in den Wetlands. Der Fluss und die Sumpfwälder waren die Lebensgrundlage, was auch die Cajun-Küche maßgeblich beeinflusste. Fast alles inklusive den Werkzeugen wurde selbst hergestellt, denn reich wurde man in dieser landwirtschaftlich nicht sonderlich ergiebigen Ecke natürlich nicht. Bis heute gehören ja die Südstaatler eher zu den weniger Privilegierten in den USA, und erst das Öl brachte (neben teilweise großen Umweltproblemen) einen gewissen Wohlstand in die Region – sieht man mal ab vom sehr ungleich verteilten Wohlstand der Baumwoll- und Zuckerrohr-Farmer.


Aber das Allerbeste ist nachmittags die Jam Session. Mit Fiddle, Cajun Acordion, Gitarre, Einsaiten-Bass und Banjo erzeugen die gut 15 Musiker einen genialen Sound – wir hätten nie gedacht, dass Cajun Music so fetzig, dabei melodisch und mitreißend ist, irgendwo angesiedelt nahe Country und Bluegrass. Wie so oft haben sie halt in Regionen, wo die Menschen arm sind und viele unerfüllten Träume mit sich herumschleppen, die beste Musik. Mehr dazu? Bitte sehr! Und ein besonderer Glücksfall: Die Jam Session in Vermilionville gibt's nur einmal wöchentlich: Samstags, und das ist heute.

Abends geht's dann weiter bei Randol's – das ist praktisch Pflicht in Lafayette. Die alte, etwas verratzte Tanzhalle ist ein sehr authentischer Laden und hat neben einer genialen Band natürlich auch ein Restaurant mit bestem Cajun-Futter. In Jennings Red Snapper, jetzt Stuffed Catfish, und alles schön hot and spicy, dazu ein paar Bier. Selbst zu den Fleischgerichten gibt es hier Shrimps – wir hätten nie gedacht dass das zusammenpasst. Vielleicht werden wir ja doch noch mal zu Seafood-Fans.. Zum Glück sind wir mit dem Fahrrad da; die Bewegung auf dem sechs Kilometer langen Heimweg tut sehr gut heute. Wir drehen noch eine Ehrenrunde und schlafen heute auf dem Rücken:-)


Hot and spicy - da fällt uns natürlich gleich TABASCO ein. Nicht weit von Lafayette bei New Iberia, draußen auf Avery Island, kreierte Edmund McIlhenny 1868 seine legendäre Tabasco Pepper Sauce, die dort bis heute im Familienbetrieb hergestellt wird, immer noch nach Originalrezept, wenn auch ergänzt durch einige weitere Sorten. Den Betrieb kann man besichtigen und erfährt einige interessante Dinge: McIlhenny, ein großer Gartenfan, züchtete seine Chili Peppers aus von Mexiko importierten Samen, und bis dato wird ein Großteil davon auch hier angebaut. Gereift wird die Soße seit eh und je in gebrauchten Fässern der Whiskey-Destillerie Jack Daniels, luftdicht abgeschlossen durch Salz aus der eigenen Saline unter Avery Island. Jeder Besucher bekommt auch ein paar Mini-Probefläschchen – die sind uns sehr willkommen, für die künftige Verfeinerung unseres Dosen-Chilis:-)


In Edmund McIlhenny's prächtigem Garten wuchsen natürlich schon immer nicht nur Chilis, sondern auch Pflanzen aus aller Herren Länder. Gartenkultur ist eins der ganz großen Highlights im tiefen Süden, das ist schon mal klar! Und "Mr. Ned", der Sohn des Patriarchen, hatte zudem ein Herz für bedrohte Tierarten und siedelte eine Kolonie von Weißen Reihern hier an, die für die damalige Damenhut-Industrie viele Federn lassen mussten und vom Aussterben bedroht waren. Die fast 10 km lange Runde durch den weitläufigen Park ist natürlich für uns Pflicht! Entlang dem Bayou Petit Anse pedalieren wir unter uralten mit Spanish Moss behangenen Bäumen dahin, passieren Mr. Ned's Buddha-Schrein (absolut passend, finden wir) und – jede Menge Alligatoren! Ganz schön beeindruckend, die lieben Tierlein, wenn man quasi Auge in Auge an ihnen vorbeiradelt.


New Iberia ist das absolut netteste Städtchen bislang auf unserer Tour. Eine Reihe hübscher Südstaaten-Häuser säumt die schattige Main Street und vermittelt eine (durchaus zwiespältige) Romantik irgendwo zwischen "Onkel Toms Hütte" und "Vom Winde verweht". Das (natürlich wieder in einem tollen Garten gelegene) Plantagenhaus "Shadows on the Teche" von 1834 kann man auch besichtigen, doch leider darf man drinnen – wie so oft in historischen amerikanischen Bauwerken – nicht fotografieren. Noch nicht mal ohne Blitz. Schade; ob sie wohl Angst haben, die Tapete könnte vom Knipsen Löcher kriegen oder die Seele der Möbel würde geklaut?

Irgendwie ist es auch heute noch ein elitärer Zirkel, der die tollen alten Häuser betreibt. Viele davon sind in noble Bed and Breakfasts umgewandelt, doch konnten wir in nicht einem einzigen für eine Nacht unterkommen. Oft ist auf Monate hinaus alles reserviert. So arbeiten wir uns halt langsam vor in Richtung New Orleans und begnügen uns mit dem Anblick so mancher prächtigen Plantage von außen.


In Thibodaux haben wir dann doch noch Glück – ein bisschen! In der wieder einmal sehr netten Kleinstadt wären wir gerne im Dansereau House abgestiegen. Auch ausgebucht, leider, doch die nette Chefin zeigt uns ihr schönes Haus, das François Philip Dansereau 1852 gekauft und nach dem Civil War zu seiner heutigen Form ausgebaut hatte, und wir dürfen sogar knipsen. Tja, in dem stilvollen Salon hätten wir am Abend auch gerne einen Planters Punch genommen, und ein bestimmt excellentes Frühstück am nächsten Morgen. Die 140 US$ für eine kleine Suite wär's uns wert gewesen:-)


Weiter geht es über die LA 182 und die US 90 – große Straßen mit viel Verkehr, je mehr wir ins Einzugsgebiet von New Orleans kommen. Meist gibt es einen guten Seitenstreifen; manchmal allerdings auch nicht. Da mutiert dann doch so mancher motorisierte Verkehrsteilnehmer zum Asphalt-Rambo und zischt äußerst knapp an unseren Ellenbogen vorbei. "Get off the Road!" kriegen wir ein paar Mal aus dem Autofenster zu hören. Eigenartig – sowas sind wir aus den USA sonst absolut nicht gewohnt. Dabei sind die Menschen in Louisiana bei jeder anderen Gelegenheit genauso freundlich wie etwa die Texaner. Vielleicht leben sie auf den Straßen ihren Frust aus, der in so manchem weniger privilegierten Landstrich herrscht; das hatten wir vor Jahren in den Indianerreservaten New Mexicos auch schon gedacht.

Bei einer kurzen Orangen-Pause lehnen wir die Räder an das Brückengeländer über einen kleinen Fluss – und sehen auf einen Streich sieben Alligatoren im Schilf und im Wasser, und keine kleinen! Einige dürften an die zwei Meter haben. Unglaublich; die warten wohl darauf, dass ein Radler über das Geländer gekickt wird! Gottseidank ist ab jetzt wenigstens wieder ein Seitenstreifen vorhanden. Und richtig froh sind wir, als uns in Westwego die Frau in der Tourist Information erklärt, dass es oben auf dem Mississippi-Damm ("on the Levée") einen Radweg gebe. Na prima! Hier radeln wir jetzt entspannt dahin mit Blick auf den Ol' Man River und die Frachtschiffe, die auf Amerikas wichtigster Wasserader unterwegs sind. Nur für ein paar Grobschotter- Abschnitte müssen wir auf die Straße ausweichen, oder wenn Seitenkanäle mittels Zugbrücken zu überqueren sind. Schon sind die Hochhäuser von Downtown New Orleans in der Ferne zu erkennen.

Am Algiers Point bringt uns dann die Fähre hinüber, direkt zur Canal Street und ins French Quarter. Dort feiern wir im Straßencafé den glücklichen Abschluss unserer ersten Etappe mit einem Espresso und einem Bierchen und stellen wieder einmal fest, dass New Orleans uns gleich auf Anhieb sympathisch ist – so wie schon damals vor fast 30 Jahren. Dann beziehen wir nur ein paar Häuserblocks weiter für die nächsten drei Tage ein super Zimmer. Und das ist eigentlich noch viel zu kurz.

New Orleans, the big Easy. hier könnte man sich mehrere Wochen ohne Langeweile aufhalten. Gleich am ersten Abend geht es natürlich ins French Quarter zur legendären Preservation Hall, Inbegriff des Jazz, obwohl die eigentlich ein auf Alt getrimmtes Fake ist. Trotzdem, so muss es ausgesehen haben in den traditionellen Clubs dieser Stadt, wo Ende des 19. Jahrhunderts der Jazz erfunden wurde, und zwar von Schwarzen, die sich auf dem Congo Square zu ihrer Version der Jam Session trafen. Damit ist dieses Genre eigentlich viel jünger als die traditionelle und weit weniger bekannte Cajun Music, obwohl sich natürlich später vieles sehr kreativ vermischt hat.

Jazzgeschichte ist ausgesprochen interessant und vielfältig – mehr dazu hier. Und die Basics erfährt man auf unterhaltsame Weise bei der sehr guten Walking Tour mit dem Ranger des U.S. National Park Service –N.O. steht doch tatsächlich gleichbedeutend mit dem Grand Canyon und anderen amerikanischen Highlights auf der Liste der Nati'l Monuments, und zwar als New Orleans Jazz Nat'l Historical Park. Die Runde führt zu den wichtigsten Locations der Jazz-Gründerzeit und zum Schluss ins Museum, wo Louis Armstrongs Kornett und weitere Requisiten zu bestaunen sind. Die zugehörige Musik gibt's in allen Variationen überall auf den Straßen im French Quarter und abends in den unzähligen Clubs und Kneipen.


Schön zu sehen auch, wie New Orleans nach dem furchtbaren Hurrikan Katrina im August 2005, dem bislang wohl schlimmsten aller Zeiten, wieder brummt vor Leben und erfolgreich auf die touristische Bildfläche zurückgekehrt ist. Zum unvorstellbaren Leid des natürlich wie immer weniger privilegierten Teils der Bevölkerung, zum Verlust von Häusern, Hab und Gut kam dann noch das Wegbleiben der Besucher, die in N.O. schon immer ein wesentlicher Teil der Existenzgrundlage waren.

Zerstört wurde damals natürlich auch eine große Zahl von Schiffen, vom Frachter über den aufs Land geworfenen Fischkutter bis zum privaten Pleasure Craft. Das schönste jedoch blieb zum Glück heil – Steamboat Natchez, der letzte echte Paddlewheeler auf dem Mississippi und gleichzeitig das letzte echte Dampfschiff. Es überlebte, weil es rechtzeitig flussaufwärts nach Baton Rouge gefahren wurde, das außerhalb der Hurrikan-Zugbahn lag.



Die Natchez wurde erst 1975 gebaut, doch die Dampfmaschine stammt von 1925 und wurde aus einem anderen (abgewrackten) Steamer übernommen. Schon vorher gab es acht Schiffe desselben Namens; etliche davon im 19. Jahrhundert unter dem illustren Kapitän Thomas P. Leathers. Der alte Haudegen verstarb 1896, als er in New Orleans eine Straße überquerte und von einem Radfahrer erfasst wurde. Aua! Auf jeden Fall ist die Fahrt mit diesem Schiff ein echtes Erlebnis. Man darf sogar den Maschinenraum besichtigen, und natürlich ist eine gute Jazzband an Bord. Für uns ist die Natchez was vom Schönsten von Big Easy; auf diesem Schiff könnten wir Tage verbringen. Schade, dass es heute keinen Planverkehr mehr nach St. Louis hinauf gibt.

Zum guten Schluss muss natürlich noch ein Cajun Dinner sein – diesmal bei Mulate's, mit guter Musik, das Essen ist gleichfalls top. Tja, New Orleans, eine der sympathischsten Städte die wir jemals besucht haben. Doch Florida wartet, und irgendwann muss es einfach weitergehen.

New Orleans – Panama City / FL (530 km*)

Um 9.00 Uhr sitzen wir am nächsten Morgen auf den Rädern, dann bringt uns die altbekannte Canal Street sehr angenehm aus der Stadt hinaus. Wir überqueren die legendäre Basin' Street (Basin Street Blues) und finden bald wieder auf die US 90 zurück. Es herrscht mäßiger, disziplinierter Verkehr – überhaupt ist New Orleans eine prima Radlerstadt. Thomas P. Leathers hatte damals wirklich Pech bzw. er lebte in der falschen Zeit. Später überqueren wir den breiten Zu- bzw. Abfluss des Lake Pontchartrain auf einer langen Brücke, und bald grüßt von rechts nach längerer Zeit mal wieder das Meer herüber mit seinem von Stelzenhäusern gesäumten Strand.

Gegen Mittag queren wir den Pearl River und kommen nach Mississippi und damit in unseren dritten U.S. State. Eins ist schon mal klar: Louisiana mit seinem Südstaaten- Charme werden wir vermissen – ein auf seine Weise sehr sympathisches Land. Dann essen wir ein Sandwich auf der Terrasse einer kleinen Bar mit Tankstelle, wo man vor dem Haus sein Auto und am Bayou hinter dem Haus sein Boot auftanken kann. Dort werden wir von einem Mann geknipst, der meint, die zwei Verrückten, die von Houston bis nach Key West radeln, müsse er unbedingt seiner Frau zeigen. And be welcome to Mississippi!

Von der Stadt Bay St. Louis führt eine riesige Brücke über die gleichnamige Bucht. Dann geht es entlang endloser weißer Strände durch Gulfport und Biloxi, zwei Städte mit unzähligen Casinos und Hotelanlagen. Jetzt sind wir an der Redneck Riviera, wo der kleine Mann von weiter landeinwärts seinen Pauschalurlaub verbringt.


Strandparadies und Riesenbrücken – das sind unsere wesentlichen Eindrücke von diesem Stretch bis hinüber nach Florida, den wir mangels weiterer Highlights als Transfer-Etappe werten. Und Gegenwind! Der wird unser treuer Begleiter bleiben fast bis Key Largo. Wir wundern uns zunächst, denn eigentlich liegen die USA ja in der Westwind-Zone. Doch für die Golfküste gelte das nicht, wird uns später ein Ranger in den Everglades erklären. Das hier sind die Trade Winds, die schon die frühen Entdecker und Eroberer von Europa hierher geblasen haben, der Nordostpassat also. Na denn, in Ermangelung jeglicher Berge auf dieser Reise ist das halt der Ausgleich:-) Und als wir dann später vom Strand weg wieder in die Wälder kommen, die hier in Mississippi keine Sumpfwälder sind, sondern aus Kiefern und Eichen bestehen, da wird der Wind dann auch ganz erträglich.

Nach zwei Tagen in Mississippi kommt schon bald die Grenze nach Alabama. Nur eine Nacht gar werden wir in diesem Bundesstaat sein, unserem vierten jetzt. Wir zweigen auf die kleine AL 188 ab, die durch nettes Waldland führt und sogar ein paar (winzige) Hügel aufweist. Dann bringt uns eine weitere Riesenbrücke von mehreren Kilometern Länge zu unserem heutigen Ziel, Dauphin Island. Hat irgendwie was, so über das Wasser zu radeln! Dabei schauen wir ausgiebig den vielen Pelikanen zu, die entweder im Formationsflug vorbeiziehen oder zum Fischen in die Mobile Bay stechen. Dann beziehen wir auf der kleinen, bewaldeten Strandinsel ein gutes Zimmer im (laut offiziellem Inselplan) einzigen Motel. Im kleinen Supermarkt gibt es alles für ein gutes Abendessen, dann werfen wir den Gaskocher an und sitzen noch lange draußen, bis irgendwann die Moskitos das Regiment übernehmen.

Nach Dauphin Island gibt es nur die eine Brücke - und eine kleine Fähre über die Mobile Bay hinüber zum Fort Morgan. Nur vier Autos wollen mit am nächsten Morgen um 8.00 Uhr, dafür noch ein paar Radler. Einer von ihnen ist Kevin aus London, der die ACA-Strecke Southern Tier fährt und erst der zweite Gepäckradler (von insgesamt vier) ist, den wir auf der ganzen langen Strecke treffen. Dann sind da noch Bruce und Lucy aus Arkansas, die hier Urlaub machen, das historische Fort besichtigen und anschließend noch eine kleine Rennrad-Runde drehen wollen. Eine gute halbe Stunde dauert die gemütliche Fahrt, vorbei an ein paar Bohrinseln.

Drüben geht es auf wenig befahrener Straße durch schöne Wälder und vorbei an hübschen Häusern. Gut heiß ist es jetzt so langsam, auch schwül – wie schön luftig war es doch auf der Fähre! Das wird jetzt so bleiben und sich sogar noch steigern; wir haben Mitte Mai, der Sommer ist nicht mehr fern und der ist in Florida bekannt für Temperaturen um 35 °C und eine Luftfeuchtigkeit von um die 80%. Schon kommt auch das Florida-Schild ("Welcome to the Sunshine State"), als müsse es eine Erklärung für die Hitze liefern. In Houston waren wir noch bei recht angenehmen Temperaturen und in langen Hosen losgeradelt. Wie eingangs erwähnt – es gibt gute Gründe, eine Golfküsten-Tour ins Frühjahr zu verlegen.

Floridas Nordgrenze gegen Alabama und Georgia wurde einst weitgehend mit dem Lineal gezogen. Deshalb hat das Land eine Form wie ein Colt, und wir sind jetzt ganz oben am Lauf, quasi an der Revolvermündung. Die Amis nennen diesen schmalen Teil den Panhandle, also den Pfannenstil, und bis ganz hinunter zum Pistolengriff haben wir noch gute 1200 km vor uns. Die Redneck Riviera setzt sich hier noch ein ganzes Stück weiter fort; wir pedalieren an langen Stränden mit riesigen Apartment- Häusern entlang und der Verkehr wird immer dichter.

Seit Alabama sind wir auf der US 98, und vor Pensacola verschwindet dann leider der Seitenstreifen, sodass wir die Stadtdurchfahrt etwas genervt und mit angelegten Ohren hinter uns bringen. Angenehm wird es dann erst wieder auf der fast 5 km langer Brücke über die Pensacola Bay. Dann sind wir wieder ganz gut auf der Rolle bis Fort Walton Beach, wo mir irgendwann ein immer stärker werdendes Rubbeln an der Hinterradbremse auffällt. Shit, die Felge ist durchgebremst! Doch mein Fahrrad beweist wie immer Charakter und kollabiert gerade hundert Meter vor einem Bike Shop.

Dort treibt der Mechaniker Mike nach einigen Telefonaten ein superstabiles neues Hinterrad für mich auf, das einer seiner Kumpels eigentlich für sich selbst eingespeicht hatte. Dieses wird dann gleich höchst professionell eingebaut – mal wieder Glück gehabt! Sogar die gute alte Deore-Nabe kann ich wieder mitnehmen, nachdem die Speichen durchgezwickt sind. Großer Dank an die Jungs von Bob's Bicycles! Und abends feiern wir in Destin den doch noch sehr gelungenen Abschluss dieses interessanten Tags mit einer riesigen Domino's Pizza und einigen Dosen Miller's High Life Beer.

Auf der US 98 kommen wir weiterhin ganz gut vorwärts, doch sind wir recht froh, als wir in Santa Rosa auf die kleinere FL 30A überwechseln können. Die führt uns am endlosen Strand entlang, gesäumt wieder von Ferienhäusern und Hotelkomplexen. Sicher kein Highlight für das Auge, aber der feinsandige und fast überall offen zugängliche Strand ist schon genial.

Am Abend in Panama City müssen wir dann natürlich auch mal ins Meer springen – das Wasser ist einfach wunderbar; das müssen sogar wir zugeben, die wir ganz bestimmt keine Beach People sind. Dafür gibt's dann später als kleines Kontrastprogramm (fast) schwäbische Linsen mit Würstchen von unserem Gaskocher, serviert auf dem Balkon (mit Meerblick). Ein bisschen Heimatgefühl muss schon sein:-)

Panama City – Sanibel Island (880 km*)

Nach Panama City endet die Redneck Riviera schlagartig – jetzt sollen wir laut Reiseführer in den angenehmen Teil des Florida Panhandle kommen, neben den Keys und den Everglades die schönste Ecke des Sunshine State. Weder Trubel noch Bausünden soll es hier geben, dafür eine fast heile Welt aus naturbelassenen, einsamen Stränden, Marschland, stillen Wäldern, Naturparks und verträumten Fischerorten.

Doch den Zugang zum prognostizierten Idyll muss man sich erst mal hart verdienen – nach wieder einmal zwei riesigen Brücken über die East Bay führt die US 98 mitten durch die Tyndall Air Force Base. Eine rund 20 km lange und wirklich öde Strecke ist das, die zwar von Wald gesäumt ist, aber bei recht steifem Gegenwind unsere ganze Kraft verlangt. Dazu heulen ständig Düsentriebwerke, ein paar Marschflugkörper zischen in geringer Höhe über unsere Köpfe hinweg; ein Schild liefert die Erklärung: "Drone Testing Range". Als endlich ein weiteres Schild das Ende des Militärgeländes ankündigt, ist es schon fast Mittag und wir fühlen uns der Vorhölle entronnen.

Doch ab jetzt stimmt absolut alles, wovon unser Reiseführer schwärmte. Apalachicola etwa mit seinem kleinen Fischerhafen, wo die frischen Austern direkt an den Bootsstegen verkauft werden, ist fast weltentrückt zu nennen und hat eine kleine Altstadt mit Gehwegen zum Flanieren und netten Straßenrestaurants. Hier lassen wir uns einen leckeren Cesar's Salad schmecken, und danach besuchen wir das John Gorrie Museum.


John Gorrie, einst Krankenhausarzt in Apalachicola, wollte Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Malaria- und Gelbfieberpatienten im schwülheißen Küstenklima kühle Luft und damit bessere Genesung verschaffen. Zunächst hängte er Behälter mit Stangeneis an die Decke, das aber seinerzeit umständlich per Schiff aus dem kalten Norden herangeschafft werden musste. Also entwickelte er eine Maschine zur Luftkühlung, auf die er 1851 ein U.S.Patent erhielt. Gerade Florida hat dem genialen Tüftler heute sehr viel zu verdanken – er gilt als Erfinder der Klimaanlage, die eine umfassende Besiedlung subtropischer und tropischer Gebiete überhaupt erst möglich machte. Trotzdem verstarb John Gorrie, von der Gesellschaft verlacht und finanziell ruiniert, bereits 1855 zurückgezogen im Armenhaus.

Tja, die Welt ist grausam und ungerecht – Gorrie trieb auch die Entwässerung der die Siedlungen umgebenden Sümpfe voran, um die Moskito-Plage einzudämmen. Er ahnte damals schon, wie Malaria und Gelbfieber übertragen werden, während die Menschheit zum großen Teil noch glaubte, solche Krankheiten kämen von giftigen Ausdünstungen des Bodens. Ohne John Gorrie könnten wir auch an diesem Abend ganz bestimmt nicht nach gutem Essen noch den gemütlichen Bummel an der kleinen Marina in Carabelle machen, einem weiteren der sympathischen, relaxten Panhandle-Orte. Denn ohne ihn gäbe es hier ganz bestimmt keine Marina und keine Sportfischer, wahrscheinlich noch nicht mal den ganzen Ort, sondern nur Sumpf, Moskitos und Krankheiten.

Kurz nach Carabelle endet die Küstenstraße und die US 98 zieht sich ins Hinterland zurück. Doch hier oben gibt es mitten im dichten Wald eines der bekanntesten Highlights des Panhandle, nämlich den Wakulla Springs State Park. Der soll schon fast allein eine Reise wert sein – wir schwingen uns deshalb schon um 8.00 Uhr in den Sattel, um die gut 70 km noch vor Mittag herunterzukurbeln.

Florida besteht zum Großteil aus einem flachen Kalkplateau, und Wakulla Springs ist eine Karstquelle ähnlich dem Blautopf oder dem Aachtopf bei uns zu Hause. Bloß viel größer; mit einer Schüttung von zwei Milliarden Litern Wasser täglich ist das die größte artesische Quelle des Landes. Aus ihr entspringt ein stattlicher Fluss, in dem es jede Menge Alligatoren, Schildkröten und die verschiedensten Wasservögel gibt. Wir buchen eine Bootsfahrt mit dem State Park Ranger, und die ist wirklich klasse. Sanft gleitet das Boot durch kristallklares Wasser, durch Wasserlilienfelder und vorbei an malerisch mit Spanish Moss behangenen uralten Zypressen. Die Alligatoren hören wir schon nach wenigen Minuten auf zu zählen. Wahre Riesen sind dabei, die uns aus ihren kleinen Äuglein stechend mustern. Auch Schildkröten und Wasservögel gibt es jede Menge, Sichler, Reiher, Anhingas.


Eine verzauberte Welt ist das hier, das pralle Naturspektakel. Wir sind total begeistert – noch nie, auf noch keiner Reise (außer vielleicht auf den Galapagos-Inseln) haben wir eine so vielfältige und interessante Tierwelt gesehen wie bei unserer Tour von Houston nach Key West. Floridas Wälder, Sümpfe und Wasserflächen faszinieren sicher jeden, das hätten wir so kaum erwartet.

Dann beziehen wir in der prächtigen alten State Park Lodge ein stilvolles Zimmer – sehr schön noch mit den Originalmöbeln aus den 30er-Jahren ausgestattet, als das Haus gebaut wurde. Und unten im Foyer ist (ausgestopft) der Monster-Alligator "Old Joe" zu bestaunen. Er war einst das Maskottchen von Wakulla Springs, fast vier Meter lang, wohl an die 200 Jahre alt, nie in seinem langen Leben auch nur einem Menschen gefährlich geworden und wurde 1966 von Wilderern gemeuchelt. Seither grinst er süffisant und plastifiziert in seiner riesigen Vitrine vor sich hin.

Am nächsten Morgen spazieren wir früh um 7.00 Uhr nochmal zum Quelltopf hinüber für ein paar Morgenfotos. Friedlich wie ein Spiegel liegt das Wasser da – und drüben am anderen Ufer hören (und sehen) wir die Alligatoren brüllen, was sich anhört wie eine Kreuzung zwischen Angus-Bulle und Seelöwe. Ein urtümliches Erlebnis – wir sind beeindruckt! Dabei ist am diesseitigen Ufer ein beliebter Badeplatz, der gestern (es war Sonntag) sehr gut besucht war. Man stelle sich einen heimischen Baggersee vor, am einen Ufer fröhliche Schwimmer und am anderen eine mutmaßlich recht gefräßige Tierwelt. Also, wenn wir Schnappi wären, wir würden öfter mal kurz zum Lunch herüber schwimmen:-)

Unglaublich, wie dicht beieinander Zivilisation und Natur manchmal leben können. Oft klappt es aber auch nicht, meist zum Nachteil der Natur. Bei der Weiterfahrt müssen wir gleich vor dem Parkeingang eine nette Schildkröte von bestimmt 40 cm Durchmesser über den Highway tragen – keine Minute später kommen zwei riesige Trucks von beiden Seiten herangedonnert. Fünf oder sechs weitere Schildkröten können wir in den nächsten Tagen noch retten. Wir wünschen ihnen ein langes Leben, das unter guten Voraussetzungen ähnlich wie bei den Alligatoren weit über 100 Jahre dauern kann.

Zwei lange Tagesfahrten durch Floridas unendliche Wälder liegen jetzt an, verfolgt von einer Horde von Moskitos und anderen gemeinen Stechtieren. Ab und an ziehen Holzlaster vorbei, und immer wieder hören wir in den Sümpfen die Alligatoren röhren. Nachschubquellen gibt es kaum hier oben außer ein paar einsamen Tankstellen oder urigen Ladenkneipen und auch nur ganz wenige Motels. Dafür begleiten uns immer wieder kleinere Gewittergebiete – das Ende der Trockenzeit ist nahe, ohne Zweifel. Meist ist das recht lustig; manchmal sehen wir es in einem halben Kilometer Entfernung heftig regnen, während wir davor in der Sonne stehen und überlegen, ob wir jetzt die Regenklamotten anziehen sollen oder nicht. Zehn Minuten später ist der Spuk vorbei. Und wenn nicht, dann radeln wir einfach weiter und nehmen den Regen als willkommene Abkühlung in der Hitze.

Das nächste absolute Natur-Highlight ist Homosassa Springs, wo im Ellie Schiller State Park verletzte und verwaiste Manatees eine neue Heimat finden. Hier gibt es auch einen Karst-Quelltopf wie in Wakulla Springs, nur wenige Kilometer entfernt von der Golfküste, wo sich die bis zu eine Tonne schweren Riesen wohlfühlen im ganzjährig 22 °C warmen Wasser. Die bei uns als Rundschwanz-Seekühe bezeichneten gemütlichen Tiere waren schon fast ausgestorben, weil sie immer wieder von den Schrauben der Motorboote verletzt oder getötet werden und weil sie ein ziemlich gleichmäßiges Klima brauchen, was ihren Lebensraum eng begrenzt. Tatsächlich können wir hier einige dieser seltenen Tiere sehen und erleben – das ist nicht jedem Florida-Besucher vergönnt!

Im Park werden die sanften und gutmütigen Giganten zweimal täglich gefüttert, und zwar mit Salat satt, den sie am liebsten und in Unmengen fressen. Dabei bekommen die Patienten öfter Besuch von ihren Kumpels, die aus dem nahen Meer herbei geschwommen kommen und sich richtig zu freuen scheinen, wenn man sich mal wieder sieht. Manche umarmen sich regelrecht mit ihren Flossen oder geben sich gar einen Willkommenskuss. Die vielen Besucher sind begeistert, und man ist fast gerührt.


Ein kleiner Zoo gehört auch noch zum Ellie Schiller State Park, dort zeigen sie einen Querschnitt durch die gesamte heimische Fauna. Dabei natürlich wieder Alligatoren – diesmal in allen Altersklassen! Besonders putzig sind die nur wenige Wochen alten, die noch gestreift sind und kaum größer als eine Eidechse. Aber sie grinsen schon wie ihre Altvorderen und haben viele kleine spitze Zähnchen, zwischen die wir selbst im Babyalter nicht mit den Fingern kommen wollten. Auch sehen wir den Seeadler, das Wappentier der USA, dazu Schwarzbären und Pumas, die wir hier im tiefen Süden jetzt wirklich ganz zuletzt erwartet hätten. Und im Info-Center hängt ein Foto von Clarence, dem schielenden Löwen aus der Uralt-Fernsehserie Daktari. Der soll hier im Zoo einen geruhsamen Lebensabend verbracht haben, ein Vorgänger der heute unzähligen Florida-Rentner sozusagen. Auf jeden Fall war das ein interessanter Tag mal wieder – ein Hoch auf die Naturschutz-Bemühungen von Florida, dem Staat mit der größten State-Park-Dichte der gesamten USA.

Dort, wo Floridas Pistolenlauf in den Griff übergeht bzw. der Panhandle in die nach Süden ausgerichtete Halbinsel, ist die Uferlinie besonders versumpft. Suwannee River, Withlacoochie und noch weitere Flüsse ergießen sich hier in den Golf von Mexiko, Schilfflächen bedecken das Brackwasser, dazwischen kleine Inseln, winzige bewachsene Kalksteinhügel. Sandstrände: Fehlanzeige – das ist wohl der Grund, warum es hier oben fast keinen Tourismus gibt und sich so viel großartige Natur erhalten konnte. Unsere Leitlinie nach Süden, die US 19, verläuft meist an die 30 km landeinwärts dahin, und die weit auseinander liegenden Küstenorte erreicht man über lange Stichstraßen durch die von kleinen Farmen durchsetzten Wälder.

Eine solche Stichstraße ist die FL 345 hinaus nach Cedar Key. Der verschlafene 700-Einwohner-Ort ist weit entfernt von den berühmten Florida Keys im Süden und mit diesen nur namentlich verwandt, war aber einstmals ein wichtiger Hafen und sogar Endstation einer Bahnlinie. Von hier wurde das begehrte Zedernholz verschifft, unter anderem für die Bleistifte von Faber Castell aus Stein bei Nürnberg. Reste der einst großen Holzpiers sind hier noch zu sehen, auch gibt es eine kleine Künstlerkolonie, ein paar Kneipen und weltentrückte Hotels. Cedar Key, Apartment mit Meerblick – ein echter Traum! Hier könnte man wochenlang durchhängen.


Dann Crystal River, nur wenige Häuser, Kanäle dazwischen für die Bootsbesitzer, Hotel, eine kleine Marina. Am Fluss stehen schon die Liegestühle bereit für den perfekten Florida-Sonnenuntergang. Da überlegt man sich wirklich dreimal, ob man am nächsten Tag wirklich weiterradeln will. Auch ohne Strand oder vielleicht gerade deshalb – in dieser relaxten Ecke hier oben fanden wir Florida am schönsten. Und hier muss jetzt endlich mal ein echtes Lob ausgesprochen werden, nämlich für unseren sehr guten Reiseführer (klick)! Selbst wenn die darin beschriebenen Touren nicht exakt zu unserem Reiseplan passten – ohne die stimmungsvollen Beschreibungen und guten Background-Infos in diesem Buch wären wir an so manchem Highlight glatt vorbeigefahren.


Weiter südlich wird die Besiedlung wieder dichter. Ein paar lange Etappen sind nötig, um den Großraum Tampa / St. Pete zu umgehen, denn die Sunshine Skyway Bridge über die Tampa Bay, mit ihren 5,5 Meilen eine der größten Schrägseil-Brücken der Welt, wurde vor Jahren für Radler und Fußgänger gesperrt, nachdem sie zum Selbstmörder-Hotspot geworden war. So kommen wir ungewollt zu einer erst noch recht netten Runde durch das überraschend hügelige Innere von Florida. Erstmals auf dieser Tour brauchen wir alle Gänge, obwohl wir die 100-Höhenmeter-Marke nie übersteigen. Wir kommen durch Zephyrhills, bekannt für sein Mineralwasser, das man in halb Florida kaufen kann. Die Landschaft ist meist recht ländlich; es gibt ausgedehnte Wälder mit kleinen Seen dazwischen, dann unendliche Zitrus-Plantagen. Melonen- und Orangenlaster sind unterwegs; mexikanische Erntehelfer sind im Einsatz, die oft in recht ärmlichen Behausungen wohnen. Mehr als 300 km kurbeln wir so herunter, bis wir wieder die Küste erreichen. Dann sind wir bald im Raum Cape Coral / Ft. Myers, der sich bis Naples hinunter zieht. Ein beliebtes Touristenziel – ab hier gibt es wieder Sandstrände, Palmen, Beach Life, das Florida der Urlaubs-Industrie.


Und trotzdem ist hier alles ganz anders als an der Redneck Riviera. Hotelklötze und riesige Ferienkomplexe sind hier kaum zu finden, eher kleinere Ferienhaus-Anlagen, Golfplätze und immer noch eine Menge Natur. Hier hat sich der Tourismus später und wesentlich langsamer entwickelt als um die bekannten Hotspots wie Miami – mehrere große Buchten und das sumpfige Hinterland der Everglades haben eine solche Entwicklung verhindert. Fort Myers aber, erst in den 70er-Jahren überhaupt zum Touristenziel avanciert, war schon früh der Wintersitz von ein paar gut betuchten Teilzeit-Aussteigern wie etwa Thomas A. Edison und Henry Ford. Edison, der 1885 zur Kur nach Florida kam, kaufte sich dann gleich im darauffolgenden Jahr ein umfangreiches Stück Land am Caloosahatchee River und verbrachte seither jeden Winter im tropischen Süden.

Edisons Home and Garden ist uns natürlich einen ausführlichen Besuch wert! Das Anwesen liegt am über 30 km lange McGregor Blvd., der zentralen Schlagader von Ft. Myers und gleichzeitig der Verbindung zu den Stränden hinaus und nach Sanibel Island. Der ist eine gigantische Allee aus tausenden von schlanken Königspalmen, die noch auf Edison zurückgehen – die ersten davon ließ der ruhelose Erfinder und Forscher, der gleichzeitig ein begnadeter Botaniker war, aus Cuba herbeischaffen und pflanzte sie persönlich ein.

Herbeischaffen ließ Edison auch sein ganzes Haus, und zwar in Fertigteilen, dazu gleich ein fast identisches Gästehaus. Er arbeitete oft auch mit anderen Forschern und Industriellen zusammen – in seinem (natürlich großartigen) botanischen Garten verbarg sich quasi ein früher Think Tank. Gleich am Eingang steht Edisons Denkmal unter einem riesigen Banyan-Baum, den er als Setzling 1925 vom Reifenfabrikanten Harvey Firestone geschenkt bekommen hatte. Die beiden experimentierten damals gemeinsam an der für die USA wichtigen Herstellung von Gummi.


Das Wohnhaus der Familie Edison ist eigentlich recht klein und unprätentiös. Fast noch geräumiger ist da die Werkstatt, in der der geniale Erfinder wirkte – über 1000 Patente hat er im Laufe seines Lebens angemeldet. Die Glühbirne hat er allerdings entgegen weit verbreiteter Ansicht nicht erfunden (wer war's? – Klick), jedoch zur Serienreife gebracht, weshalb er als Elektrifizierer der modernen Welt gelten darf. Edison erfand aber u.a. den Börsenticker, den Phonograph, den Toaster und das gewachste Butterbrotpapier – und konstruierte den ersten Swimmingpool Floridas. Der ist selbstverständlich auch heute noch dicht, denn in den Beton sind Bambusstäbe eingelassen, quasi als eine frühe Form von Baustahlmatten.

Tja, hochinteressant ist das alles – auch die vielen skurrilen Anekdoten, die sich um Thomas A. Edison ranken. So spielte er noch im stark fortgeschrittenen Alter gerne bei abendlichen Gesellschaften das "Telefonbuch-Spiel". Will heißen, er warf einen einzigen Blick auf eine x-beliebige Telefonbuchseite und wettete dann, dass er zu jedem darauf genannten Namen die Telefonnummer sagen könne. Dabei soll er stets gewonnen haben – an Alzheimer litt der Mann sicher nicht! Außerdem fuhr er bis zu seinem Tod praktisch ausschließlich das alte Ford Model T, das ihm sein Freund und Nachbar Henry Ford geschenkt hatte. Er liebte es vor allem wegen seiner offenen Bauweise, denn da konnte der bekennende Kautabak-Fan geschickt aus den nicht vorhandenen Fenstern spucken.


Zum Glück begegnet uns bei der Weiterfahrt auf dem McGregor Blvd. und weiter auf dem Sanibel Causeway nicht eine einzige Tin Lizzy – bei diesem Wagentyp (im US-Straßenverkehr immer noch ab und zu anzutreffen) sind wir seither immer besonders wachsam. Und jetzt wird es mal wieder Zeit für ein paar relaxte Tage. Zu diesem Zweck haben wir auf Sanibel Island eine gemütliche kleine Ferienwohnung gebucht. Die Insel, eine von Mangroven stabilisierte Sandbank mit endlosem Strand, ist einfach nur schön – intakte Natur, gepflegte Häuser, prima Radwege überall und alles picobello sauber. Ein echtes Ferienparadies! Dazu mit einer ganz besonders sympathischen Tierwelt, wie das Display in der Ding Darling Nat'l Wildlife Refuge zeigt:-)

Sanibel Island – Key West (460 km*)

Für die Weiterfahrt geht es über den Sanibel Causeway zurück, dann biegen wir rechts ab und kommen, über eine weitere riesige Brücke, nach Estero Island und Ft. Myers Beach, wo sich die traumhaften Strände fortsetzen. Natürlich fahren wir gleich einmal zum wunderbaren alten Pier hinüber, ein persönliches Must See für mich (Thomas) – hier verbrachte ich anno '83 meinen allerersten USA-Urlaub, dem dann noch unzählige weitere folgen sollten. Wie schon damals sind hier auch heute wieder zahlreiche Fischer jeglicher Couleur zugange, darunter eine Menge gefiederte Abstauber. Ein unglaublich guter Platz zum Chillen – wir verbrachten einst halbe Tage hier, und auch etliche Abende.


Floridas Golfküste ist einfach super angenehm, in jeder Hinsicht. Und den Abend verbringen wir dann in Naples, dort gibt es den nächsten tollen Pier. Ehrlich, wo könnte man schöner Ferien machen? Allerdings spricht sich das auch in Germany so langsam herum. Wir hören hier fast mehr Deutsch als Englisch – Florida boomt gerade, trotz Euroschwäche und hohen Dollarpreisen; das ist hier unzweifelhaft zu erkennen. Und oft hören wir den Satz: "Ach, hier ist es so viel schöner als im lauten Miami Beach."


Südlich von Naples macht die US 41 einen Knick nach Südosten und entfernt sich von der hier wieder sehr sumpfigen Küste. Jetzt geht es auf dem Tamiami Trail in die Everglades, sprich einmal quer durch Nordamerikas berühmteste Sümpfe.

Tamiami Trail, das ist die historische Straße von TAmpa nach MIAMI, die nach fast 14-jähriger Bauzeit erst 1928 fertig wurde. Die Arbeiter litten sehr unter Moskitos und der Arbeit im bodenlosen Morast, wobei sie sich noch der Schlangen und Alligatoren erwehren mussten. Erst als man einen Graben in den unter dem Sumpf befindlichen Kalkstein sprengte (mit gut 1500 Tonnen Dynamit!) und diesen mit Kies aufschüttete kam der Bau voran. Jetzt konnte man die 200 km zwischen Naples und Miami an einem Tag zurücklegen – Anfang der 20er-Jahre hatte das erste Auto (ein Ford Model T) über alte Indianerpfade elf Tage für die Strecke gebraucht.


Für Radler ist das kein ganz einfacher Streifen, denn es gibt fast keine Versorgung unterwegs und auch nur ganz wenige Accomodations, dafür mit Sicherheit strammen Gegenwind. So bleibt für heute nur eine Kurzetappe von 60 km ins 5 km von der Straße entfernte Everglades City. Von dort sind es dann 110 km zum Miccosukee Gaming Resort, einer von den Miccosukee-Indianern betriebenen Spielhölle mit den ersten verfügbaren Betten nach dem großen Sumpf.

Bis Everglades City ist die Wildnis noch nicht geschützt. Entsprechend gibt es eine Reihe von Kleinunternehmern an der Straße, die alle mit dem Sumpf-Erlebnis was verdienen wollen. Zu Mittag erreichen wir beispielsweise eine kleine Tankstelle mit Minizoo, wo auch Propellerboot-Touren angeboten werden. Dort kriegen wir vom Chef zwei Jung-Alligatoren vorgeführt und dürfen sie sogar in die Hand nehmen – dazu wird ihnen das Maul mit Panzertape zugebäppt.

Vielleicht 40 cm lang sind die Kleinen und dabei bereits anderthalb Jahre alt, wie wir hören. Sie haben schon richtig Kraft und fühlen sich an wie, na – wie ein besonders hochwertiger Geldbeutel. Tatsächlich werden Alligatoren selbst heute noch für kommerzielle Zwecke gezüchtet, auch ihr Fleisch steht im US-Süden so manches Mal auf der Speisekarte. Doch nicht mit uns; wir hegen für Schnappi eine starke Sympathie und wünschen jedem einzelnen dieser tollen Tiere ein langes Leben von, wie schon erwähnt, wenigstens 100 Jahren.


Everglades City erweist sich dann als winziger Außenposten der Zivilisation mit nur 400 Einwohnern, die teilweise weit draußen in den Sümpfen siedeln. Man lebt vom Airboat-Tourismus, doch abends ist es hier sehr ruhig und auf angenehme Weise weltabgeschieden. Unser Bed and Breakfast, das Ivey House, ist eine echte Empfehlung wert, eine der ersten "Certified Green Lodging Locations" in Florida. Auch wegen seinem tollen organischen Frühstücksbuffet:-) Den Nachmittag verbringen wir dann angenehm am Pool unter einer riesigen Kuppel aus Moskito-Gaze. Abends und nachts klingen die interessanten Laute der Tierwelt durchs Fenster.

Am nächsten Morgen starten wir um 8.00 Uhr, schauen noch kurz ins Everglades Info Center hinein und treten dann kräftig in die Pedale. Auf endlos langer Gerade geht es zunächst durch die Big Cypress Swamp National Preserve und anschließend entlang der Nordgrenze des Everglades NP. Trotz Naturschutz eine recht eintönige Strecke; von einem Urwald kann man hier nicht sprechen. Die indianische Bezeichnung für die Everglades ist "Fluss aus Gras", und tatsächlich handelt es sich hier um einen fast 100 km breiten, sehr langsam fließenden Fluss, der aber durch Entwässerung weiter nördlich stark gefährdet ist (mehr dazu in den NP-Links oben).

Die Umgebung wirkt denn auch wesentlich trockener auf uns als eigentlich erwartet; trotzdem sehen wir in den Wasserläufen und Gräben an der Straße Unmengen von Alligatoren, bestimmt so an die 30 Stück – mehr als eine Million soll es allein in den Everglades geben. Die Sumpfzypressen und Bauminseln jedoch, für die diese Landschaft bekannt ist, sind meist nur in der Ferne zu erkennen. Wahrscheinlich erschließen sich die Reize der Everglades wirklich nur vom Boot aus – mit einer Großflasche Moscito Repellent an Bord.

Erst nach fast 60 km kommt die erste nennenswerte Kurve und 10 km weiter noch eine. Unseren Lunch aus dem kleinen Supermarkt in Everglades City ziehen wir an der Leitplanke lehnend hinein, dazu gibt es warmes Bier. Und erst nach 17.00 Uhr treffen wir ziemlich platt und vom Gegen-Sturm zerblasen im Miccosukee Gaming Resort ein, das schon aus fast 20 km Entfernung zu sehen war. Schon ein wenig anders hier als das beschauliche Everglades City! Egal, ein größerer Posten Saft, Wasser, ein paar Orangen und ein (kaltes!) Bier stellen uns wieder auf die Beine. Und das reichhaltige Abendessen vom Buffet. Dann buchen wir unsere Quartiere für die nächsten Tage mittels Hotel-WiFI und schlafen wie die Steine.

Nur noch rund 40 km wären es jetzt nach Miami Beach, wo die allermeisten Trans-Florida-Radler ihre Tour beenden. Doch dort zieht es uns überhaupt nicht hin – wir biegen also früh am nächsten Morgen direkt vor dem indianischen Klein-Vegas, das uns immerhin eine angenehme Nachtruhe beschert hat, von der US 41 scharf rechts ab in die kleine FL 997 nach Süden. So kommen wir ganz gut am Großraum Miami vorbei und radeln, wenngleich mit recht kräftigem Verkehr, vorwiegend durch ländlich geprägte Gegenden mit kleinen Farmen und einer Menge Baumschulen und Gärtnereien. Wir haben Anfang Juni jetzt und die Regenzeit naht mit Macht – eine ganze Stunde müssen wir einen sintflutartigen Guss unter dem Vordach einer Viehfutter-Handlung aussitzen. Doch ab 11.30 Uhr bleibt es für den Rest des Tages vollends schön, und in Homestead erreichen wir die US 1 und damit unsere Zielgerade.

Die US 1, der Ostküsten-Highway der Vereinigten Staaten, führt von Florida bis ganz hinauf nach Maine, ist 2390 Meilen lang und eine Legende. Einst begann er in Miami, doch 1938 kam noch der Overseas Highway mit 127,5 Meilen hinzu, und deshalb steht der Milepost 0 jetzt in Key West. Am südlichsten Punkt der USA, wie schon erwähnt, und näher bei Cuba als beim amerikanischen Festland. Dafür waren 42 Brücken nötig – manche führen meilenweit über das offene Meer.

Tropische Perlen an der Betonkette, so werden die Florida Keys treffend in einem Zeitungsartikel bezeichnet. Davon merkt man aber zumindest bis Key Largo noch nichts. Lange Zeit radeln wir schnurgerade zwischen einer türkisblauen Beton-Bande durch eingezäunte Mangrovensümpfe, bis dann eine erste kurze und noch nicht sonderlich spektakuläre Brücke unsere "Seefahrt" einläutet. Nach Key Largo und der mit über 20 km längsten Insel-Passage aller Keys wird die Strecke aber schlicht genial: Inselchen an Inselchen, Brücke an Brücke, rechts der Golf von Mexiko, links der Atlantik. Wunderbar klares Wasser in fantastischen Farben. Viele Boote sind draußen, es wird geangelt, Seekayaks sind zu sehen, und manchmal sieht man parallel die Brücken der einstigen Florida East Coast Railway.


Die frühere Bahnlinie war das Baby des Unternehmers Henry M. Flagler, einem der Gründungsmitglieder der Standard Oil Corporation (neben Rockefeller), der gleich auch eine Reihe großzügiger Eisenbahnhotels dazu errichtete und somit Südflorida touristisch erschloss. Der Zugverkehr wurde 1912 aufgenommen – ab da konnte man 23 Jahre lang mit einer der interessantesten Bahnen der Welt bis ganz hinunter nach Key West fahren. Doch 1935 vernichtete der heute als Labor Day Hurricane bekannte und bis dato schwerste Wirbelsturm aller Zeiten Flaglers einstigen Traum, zerstörte die Bahnlinie auf über 60 km Länge, fegte einen ganzen Zug samt Insassen ins Meer und es gab auf den Keys insgesamt über 400 Tote. Erst danach wurde der Overseas Highway gebaut – er verlief zunächst auf den restlichen schmalen Bahnbrücken, die der Hurrikan übrig gelassen hatte.


Flaglers Brücken, oft interessante Stahlkonstruktionen, wurden natürlich bald zu klein für den zunehmenden Verkehr und durch moderne Beton-Neubauten ersetzt. Doch etliche sind erhalten geblieben, beeindruckend anzusehen, und manche sind heute in das Florida-Radwegnetz integriert. Die neuen Brücken, von denen die Seven-Mile Bridge mit ganzen 11 km die längste ist, sind aber kaum weniger reizvoll – vor allem die Parallelführung erlaubt immer wieder spannende Blickwinkel.

Doch bis zur Seven-Mile Bridge ist es noch ein Stück; wir lassen uns Zeit. Jede Insel hat ihre eigene Besonderheit: Key Largo etwa gilt als Taucherparadies, Big Pine Key ist berühmt für das Key Deer, ein besonders kleines und nur hier vorkommende Reh, auf einer Insel rennen uns riesige Leguane über den Weg, Islamorada ist ein Hotspot für Hochseeangler, und natürlich gibt es jede Menge urige Hangouts und Kneipen.

Auf Lower Matecumbe Key machen wir Mittag bei Robbie's Marina. Hier kann man beim Essen zuschauen, wie die Gäste die Tarpons füttern, eine ziemlich kräftige und gut zwei Meter lange Raubfisch-Art, die auch bei Hochseeanglern sehr beliebt ist. Hier kommen sie bis an den Steg, denn der findige Robbie verkauft für 5 Bucks Eimerchen mit kleinen Fischen. Auch die Pelikane kriegen noch was ab und die Leute haben einen Mords Spaß – wo stehen denn schon mal die Silberrreiher direkt auf den Biertischen.


Genial ist auch unser Quartier in Marathon, Captain Pip's Hideaway and Marina, direkt am Wasser und jetzt tatsächlich nur noch einen Steinwurf von der Seven-Miles Bridge entfernt. Dort müssen wir natürlich am Abend zum besten Licht gleich noch hin! Eine wunderbar zeitlose Atmosphäre herrscht dort draußen, die Flagler-Brücke läuft auch hier parallel, ist aber unterbrochen und dient als Fishing Pier. Es wird geangelt, Spaziergänger flanieren, und dann gibt es mal wieder einen Top-Sonnenuntergang. Captain Pip hat Tische und Bänke am Ufer stehen, man vergisst glatt die Zeit und unser gutes Kalbsgeschnetzeltes mit Champignon-Sahne-Soße und Parmesan wird fast kalt, bis wir endlich zum Essen kommen:-) Lazy Days on the Keys.


Am nächsten Morgen ist alles Grau in Grau; für unseren Endspurt können wir das erste Mal seit langem mal wieder ganz ohne Sunblocker losradeln. Wie traumhaft war da doch der Abend gestern! Dafür schiebt uns ein toller Rückenwind über die Seven-Mile Bridge, und immerhin bleibt es trocken bis Mittag. Und trotz Grauwetter müssen wir öfter mal anhalten - Emergency Stop zum Knipsen:-) Bis 1982 musste die alte Brücke den gesamten Verkehr inkl. aller Trucks aufnehmen, heute kaum noch vorstellbar. Zum Veranschaulichen der Seven-Miles Bridge reichen Fotos aus Radler-Sicht schlichtweg nicht aus, deshalb hier noch ein paar Bilder aus dem Web.

Key West erreichen wir dann bei penetrantem Niesel, der aber immerhin in Florida brühwarm ist. Tja, Regenzeit – doch unsere Tour war wettermäßig perfekt getimed. Das Ankunftsfoto am Southernmost Point wirkt halt etwas verschwommen, aber damit kann man leben...

90 Miles to Cuba – früher gab es hier nur ein Schild, das aber immer wieder von Souvenirjägern geklaut wurde, weshalb es die Stadtverwaltung durch das heutige bojenartige Betonmonument ersetzen ließ. Die kunterbunt-flippigen Key Westler fühlten sich auch schon immer mehr der Karibik als Continental USA zugehörig – ein Bürgermeister der Stadt soll einst sogar in gut sechs Stunden auf Wasserskiern nach Cuba gefahren sein. Und Flaglers Paradezug hieß "Havana Special". Klar, dass wir den alten Bahnhof (ein Nachbau allerdings, aber mit nettem Museum) am nächsten Morgen besuchen müssen. Dahinter gingen gleich die Fähren ab – nach Havanna natürlich. Heute ist hier der Sportboothafen und am Bahnhof fährt nur noch eins der üblichen Touristen-Trolley-Züglein. Sightseeing; enjoy Key West's Highlights!

Das eigentliche Highlight aber ist Key West selber mit seiner tropisch-überwucherten Downtown, den gemütlichen Bars und dem hohen Radverkehrs-Anteil im Stadtbild. Unser Bed and Breakfast, das Frances Street Bottle Inn, ist von blühenden Flamboyant-Bäumen eingewachsen und verstrahlt den angenehmen Charme längst vergangener Zeiten. Herrlich, hier abends auf der Veranda zu sitzen! Und als Bio-Wecker fungieren die überall in der Stadt frei herumrennenden zahlreichen Göckel, die zwar hervorragend zu Key Wests liberaler Aussteiger-Tradition passen, aber wirklich froh sein können, dass wir kein Luftgewehr dabei haben.



Key Wests für lange Zeit berühmtester Aussteiger war natürlich Ernest Hemingway. Nachdem ich fast alle Bücher von ihm gelesen habe, müssen wir natürlich schon ein wenig auf seinen Spuren wandeln – Pflichtprogramm sind ein Bierchen in seiner Stammbar (Sloppy Joe's) und die Führung durch sein Haus. Alles ziemlich touristisch heute, aber interessant. Nach ein paar Jahren Key West stieg der Schriftsteller aber auch von hier wieder aus – nach Cuba.

Jetzt ist auch das Wetter wieder schön, gerade recht zu unserem letzten Florida Sunset. Dazu trifft man sich in Key West auf dem Mallory Square, schaut den vielen Gauklern und Straßenmusikanten zu, und wenn der feuerrote Ball in den Atlantik hinabtaucht klatschen alle kollektiven Beifall. Echt, der Abschied fällt schwer.


Ein Mietwagen bringt uns dann anderntags nach Miami – Flaglers "Havana Special" fährt ja nicht mehr. Das wäre jetzt der perfekte Tour-Abschluss geworden. Und eins ist sicher: Nach Florida kommen wir ganz bestimmt mal wieder – vielleicht dann mit Start in Miami, dann auf jeden Fall wieder auf die Keys. Seit Barack Obamas genialer Cuba-Politik sollen die Fährverbindungen nach Havanna bereits in den Startlöchern stehen. Das wär' doch was:-)

So long, Sybille & Thomas

* Alle km-Angaben aus Karten und dem Internet ermittelt, überschlagen und bereinigt, d.h. Fahrten zum Supermarkt, Stadt- oder State-Park-Runden ohne Gepäck usw. wurden abgezogen. Die Google Map unten zeigt unsere Route näherungsweise und basiert nicht auf selbst ermittelten GPS-Daten, also ohne Gewähr. Am Ende unserer Tour hatten wir real 3120 km auf dem Tacho. Reisedauer: Sechs Wochen von Ende April bis Anfang Juni 2015.



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