Em bici sucata – auf Sperrmüllrädern nach SüdbrasilienEines Abends im Dezember, eine Boeing 747 der Lufthansa mit Kurs auf Buenos Aires. "Wir bereiten uns jetzt auf die Landung vor, bitte Sicherheitsgurte anlegen und die Sitzlehnen senkrecht stellen!" tönt es aus dem Ohrhörer. Drei Millionen Einwohner soll die Capital Federal haben, acht Millionen gar der sie umgebende Großraum. Der Sinkflug ist eingeleitet, aber in weitem Umkreis sieht man nix als flache Pampa, fast als hätte sich die ganze Metropole dematerialisiert. Der "Aeropuerto Internacional Ministro Pistarini" liegt weit außerhalb der Hauptstadt in Ezeiza. Endlich nach 13 Stunden raus aus der Enge des Fliegers, die verbogenen Knochen geradegeschüttelt, Marsch durch verwinkelte Gänge, Imigración, Gepäckband – ha, kaum zu glauben: Da drehen sich bereits unsere Ortlieb-Taschen, und daneben stehen säuberlich und unverbeult unsere zwei Radkartons! Eine völlig neue Erfahrung für uns, sicher eines von Murphys Gesetzen: "Wenn du mit Schrotträdern unterwegs bist, wird nichts kaputtgehen!" Wenn wir da so an unsere früheren Flüge denken... Frohgemut heuern wir ein Großraumtaxi an für die Fahrt ins vorgebuchte Hotel. Buenos Aires ist dann doch noch an gewohnter Stelle, wo wir es vor knapp drei Jahren zurückgelassen haben. Bald fetzt unser Citroën Berlingo auf hell erleuchteten Autobahnen durch die ersten Vororte mit Kurs auf Downtown. "Diese Stadt ist atemberaubend hässlich", schrieb einst Argentiniens nationale Schriftsteller-Legende Jorge Luis Borges, worauf später der Architekt José María Peña erwiderte: "Fakt ist, dass Borges blind war". Fakt für uns jedenfalls: Buenos Aires ist eine der interessantesten Städte der Welt, durchaus zu vergleichen mit Paris, New York oder Hongkong. Breite Alleen, tolle Architektur (Avenida de Mayo!), fantastische Restaurants, Tangokneipen, La Boca, Recoleta, das alles vor der trägen Weitläufigkeit des Río de la Plata – in dieser Stadt, die wir auch immer aufgrund ihrer ganzen Ausstrahlung als ausgesprochen angenehm empfinden, kannst du es zwei Wochen ohne Langeweile aushalten. ![]() ![]() So viel Zeit haben wir diesmal leider nicht. Vier Wochen Urlaub, die uruguayische Küste hoch bis Curitiba / Brasilien, dabei ein Schlenker durch die Serra Gaúcha, dann noch ein Abstecher zu den Cataratas do Iguaçu – knapp 3000 Kilometer insgesamt, das ist per pedales kaum zu schaffen. Deshalb haben wir unsere Rösser für diesen Ritt dem Sperrmüll entrissen und mit Teilen aus der Schrottkiste im Keller aufgepeppt. Die werden wir dann irgendwo stehen lassen oder verschenken und auf einen Mietwagen umsteigen. Und jetzt feiern wir zunächst mal die glückliche und vor allem komplette Ankunft mit einem Mitternachts-Bierchen im Straßencafé an der Plaza de la República, direkt vis à vis vom Obelisk. 15 Grad hat es hier um diese Zeit noch gegenüber minus zwei beim Abflug, schon bestechend, so eine kleine Winterflucht. Und die ganze Stadt brummt und ist voller Leben. Am nächsten Morgen setzen wir die Bikes im Hotel zusammen. Sind zwei fürchterliche Ackerkarren, bleischwer, die Lenkkopflager ausgeleiert, Kettenblätter aus Stahlblech, Pedale und Bremsgriffe aus Plastik, drei von vier Felgen haben einen Schlag – aber selbstverständlich alles daheim noch bestmöglich überholt, Laufräder zentriert, gute Gepäckträger von Pletscher. Mal sehen, wie weit wir damit kommen. Auf jeden Fall läuft alles rund, zwei Blocks weiter an der YPF-Tankstelle haben sie Pressluft zum Reifen Aufpumpen, dann ausgedehnte Probefahrt, aktuelle Straßenkarte kaufen, Tickets für die Uruguay-Fähre vorbuchen (ist absolute Hauptsaison gerade), und zur Feier des guten Starts dieser Tour gibt′s ein gutes Essen drunten am Puerto Madero.
Ciao, Buenos Aires heißt es dann. Wir radeln ein letztes Mal am Obelisk vorbei, dem absoluten Wahrzeichen der Porteños, wie sich die hiesigen Bürger nennen. Ein sehnsüchtiger Blick hinüber – ehrlich, wenn wir hier noch etwas besichtigen wollten, dann wär′s der Obelisk von innen! Das 67 Meter hohe Stahlbetonteil, konstruiert von Alberto Prebisch, wurde am 25. Mai 1936 nach gerade mal 31-tägiger Bauzeit fertig, am argentinischen Unabhängigkeitstag, exakt 400 Jahre nach der Stadtgründung und genau auf dem Platz, wo 1812 zum ersten Mal die argentinische Flagge gehisst wurde. Wie es wohl drinnen aussieht? Gibt es Stockwerke, einen vergitterten Aufzug wie in alten Pariser Hotels, eine Betontreppe oder nur eine Strickleiter? Oben an der Spitze erkennt man eine winzige Tür. Von dort seilen sich immer die Obelisk-Schrubber ab, siehe www.magiart.com/ciudad/pages/1155.htm – Uiuiui, für diesen Berufsstand ist der Rotwein zum Mittagessen wohl gestrichen. Da sind wir doch lieber Tourenradler! Und als solche stehen wir bald drunten am Hafen vor dem Fährterminal. Nur eine Stunde braucht die Buquebus-Schnellbootfähre (www.buquebus.com) über den riesigen und faszinierenden Río de la Plata, den "Silberfluss". Gut 50 km breit ist der hier; seine schlammbraune Farbe ist noch 100 km nach der Mündung draußen im Atlantik zu erkennen (http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:RioDeLaPlata.jpg). Woher sein Name kommt, weiß man nicht genau, aber an hellen, gleißenden Sonnentagen so wie heute wirkt die Oberfläche des Wassers tatsächlich so als wäre sie aus reinem Silber. Der Luftdruckausgleich zwischen dem flachen Land ringsum und der immensen Wasserfläche ist auch Ursache der guten Lüfte, die Buenos Aires ihren Namen gegeben haben und ständig mit Vehemenz durch die Stadt streichen. Auch heute bläst es wie verrückt. Eine Segelregatta kommt uns entgegen, alle mit Spinnaker – wie die wohl nachher wieder zurückkommen? Sonst herrscht eine unglaubliche Ruhe hier draußen, kein Land mehr zu sehen von der Flussmitte, nur ein einsamer Frachter zieht am Horizont vorbei. ![]() ![]() Drüben in Uruguay sind wir in einer anderen Welt. Colonia ist immer noch so nett und verschlafen wie eh und je, dabei ein Juwel, das kaum ein europäischer Touri kennt – Platanenalleen, kopfsteingepflasterte Gassen, romantische Laternen, die niedrigen Kolonialhäuser sind eine Augenweide, die Menschen freundlich. Nur die alten Autos aus den 30er- bis 50er-Jahren, die hier immer das Straßenbild bestimmt hatten und alle paar Jahre frisch gestrichen wurden, sind aus unerfindlichen Gründen nahezu verschwunden. Aber im Hotel Royal kennt man uns noch (Ah, los ciclistas alemanes, encantado!). Und im „El Drugstore“ haben sie immer noch die guten Capelletti alla Salsa Rossini, dazu einen erstklassigen Tannat. Bei Uruguay denkt niemand an Weinbau? Das ist ein Fehler:-) (www.wein-uruguay.com). Auf jeden Fall: Wenn man abends unter Laternenschein in einer von Colonias vielen Straßenkneipen sitzt, dann fragt man sich wirklich, ob man am nächsten Tag hier losradeln will. Die Baumwipfel biegen sich kräftig im Wind, als wir am Morgen aufbrechen. Die Chefin verabschiedet uns vor dem Hotel mit fliegenden Haaren. Aus welcher Richtung der Wind denn blase, fragen wir. "Von Montevideo her, wie immer!" Na, Spitze! Dann geben wir unseren Iron Horses die Sporen und sind bald auf der Ruta Nacional 1. Die präsentiert sich ab dem Stadtrand als 10 km langen Palmenallee (!), dann folgt eine ebensolche aus Kiefern. Encantado! Knarf, knarf, knarf machen die abgewetzten Stollenreifen auf dem rauen Asphalt, Gegenwind, dazu ziehen die Capelletti von gestern Abend gut nach hinten. Aber dann lässt wenigstens der Wind etwas nach und wir kommen allmählich ganz gut in die Gänge. Uruguay, etwa halb so groß wie Alemania, wurde von der Natur denkbar einfach ausgestattet. Leicht welliges Hügelland wohin man blickt; die einzigen Erhebungen sind ein paar uralte, längst erodierte Vulkankegel und maximal 500 Metern hohe Karstkuppen, weit entfernt von hier im Landesinneren. Und doch ist das Land ein Paradies, nahezu alles wächst hier, von Wein bis Zuckerrohr und Ananas. Ein Großteil des Hinterlands ist dünn besiedelt und gehört den Estancias, Rinderzucht wird betrieben, die Stadt Fray Bentos drüben am Río Uruguay galt einst als Corned-Beef-Hauptstadt der Welt. Kleine Eukalyptuswäldchen lockern angenehm das Landschaftsbild auf; wir freuen uns immer über ein wenig Schatten. Einen strahlenden Sommertag haben wir heute, das Getreide ist reif; hin und wieder sieht man Mähdrescher ihre Bahnen ziehen. ![]() ![]() Die Siedlungen aber sind winzig und liegen weit auseinander. Fast 50% der gerade mal knapp vier Millionen Uruguayos leben in der Hauptstadt, sodass oft gespottet wird, ganz Uruguay sei nichts weiter als ein ausladender und gut gemähter Vorgarten von Montevideo. Auch der Verkehr ist sehr spärlich auf der Nationalstraße 1, gerade recht zum Radeln. Früher einmal, vor dem Verfall der Rindfleischpreise in den 70er-Jahren, war Uruguay sehr wohlhabend. Dann aber sammelten sich Schulden an, von denen man sich bis heute nicht erholte. Haupt-Einnahmequelle wird zunehmend der Tourismus in so mondänen Seebädern wie Punta del Este; viele müssen zwei oder drei Jobs ausführen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Das ist auch der Grund für das geringe Verkehrsaufkommen – Sprit ist verhältnismäßig teuer, dafür sind die preiswerten Linienbusse gut gefüllt. Als wir dann bei Ecilda Paullier in die Ruta 11 einbiegen, sinkt das Verkehrsaufkommen auf praktisch Null. Gut 10 km weit liefern wir uns ein Wettrennen mit einem alten John-Deere-Traktor, dann laufen wir gegen 17.00 Uhr in San José de Mayo ein, unserem anvisierten Etappenziel. 115 km waren das, ganz gut für unsere Schrottvehikel. Nur Sybilles linke Tretkurbel wackelt etwas, sonst alles unter Kontrolle. Wir schlafen tief und traumlos. Die Ruta 3 bringt uns dann wieder auf die Hauptstraße zurück – mit Rückenwind! So lassen wir es uns gefallen. Verkehrsaufkommen in der ersten Radelstunde: Zwei Laster, vier Busse, zwei PKWs. Und etwa acht bis zehn Gauchos zu Pferd, mit Lasso, Sporen und in ledernen Überhosen; den Sattel ersetzt ein dickes Lammfell. Irgendwie wie bei Karl May ("Am Río de la Plata") – parallel zur Straße gibt es sogar regelrechte Reitpfade, fast wie bei uns Radwege. Und alle Reiter heben freundlich die Hand, wenn wir auf unseren Stahlpferden vorbeireiten. Schon kurz nach Mittag queren wir den breiten Río Santa Lucía auf moderner Betonbrücke. Damit sind wir im Einzugsgebiet von Montevideo; der Verkehr wird etwas dichter, aber kein Problem. Dafür schraubt sich die Nationalstraße 1 jetzt tatsächlich über ein paar größere Hügel und zwingt uns für eine Weile ins mittlere Blatt. Rechts kommt der Cerro in Sicht, gekrönt von seinem Fort und mit 132 Metern nicht nur Hausberg und höchste Erhebung der Hauptstadt, sondern vermutlich sogar ihr Namensgeber: "Monte vi eu!" oder so ähnlich soll ein in Magellans Diensten stehender Seemann einst ausgerufen haben, als er selbiges Berglein im Fernrohr erspäht hatte. Legende halt, so genau weiß das keiner. Wir jedenfalls sind schon bald auf der Rambla und erspähen in der Ferne Downtown Montevideo, wie immer ein schönes Bild. ![]() ![]() Wie erwähnt – knapp zwei Millionen Einwohner leben heute in Uruguays Kapitale. Dennoch hat sich Montevideo einen beinahe kleinstädtischen Charakter bewahrt. Die Dynamik von Santiago de Chile, die Weltläufigkeit von Buenos Aires oder den Glanz von Rio spürt man hier nicht, und das ist gut so. Die Uhren gehen ein wenig anders in Montevideo – an vielen Ecken der Stadt fühlt man sich in die 50er-Jahre versetzt; diese Stadt ist praktisch die XXL-Ausgabe von Colonia. Ein morbider Charme zeichnet sie aus, mit teils wunderschönen Architektur-Beispielen von Jugendstil über Art Deco bis Eklektizismus. Doch auch wenn die schönen Fassaden in der Altstadt bröckeln und moderne Betonklötze viele Schmuckstücke von einst überschatten, dem Lebensstil in Montevideo tut das eigentlich keinen Abbruch. Neben Computerläden, Supermärkten und Internetcafés gibt es immer noch kleine Werkstätten, durch deren milchige Fensterscheiben ein weiches Licht fällt. Drinnen wird genäht, getischlert, gedrechselt und gepolstert, wie es in den guten alten Zeiten noch allerorts üblich war. Liebenswert sind die kleinen grünen Plätze überall in der Stadt und die langen Platanenalleen – man flaniert und trifft sich in den Confiterías, diesen Mischungen aus Restaurant, Kneipe und Café, die es in Montevideo an jeder Straßenecke gibt. Und abends geht man Parillada essen, die berühmte Grillplatte, hergestellt auf unzähligen Steinkohlengrills, deren Odeur dann durch die ganze Stadt zieht. Wir kommen jedenfalls immer wieder gerne hierher. Der Garagenmeister im Hotel befestigt gewissenhaft die Tags mit Name und Zimmernummer an unseren Bikes. Dabei qualmt es fast aus seinen Ohren, denn mit so schwierigen Schreibaufgaben ist er sonst nicht befasst. Ob er vielleicht auch eine 13er-Nuss und eine Rätsche hat? Sybilles Tretkurbel wackelt jetzt bald wie ein Lämmerschwanz. Leider nein – wieder hirnt der Señor, jetzt gerät fast sein Toupet in Brand. Da fällt ihm ein, er hat doch einen Kumpel, der zwei Straßen weiter in einer Autoglas-Werkstatt schafft. Dort wird dann tatsächlich der Trebbel kräftig und höchst professionell angezogen. Was wir denn schuldig seien, fragen wir. Nada, nix, meint der Meister, das sei ein Regalito por la Navidad, ein Weihnachtsg′schenkle. ¡Muchismas Gracias! Und dann müssen wir noch viele Fragen über unsere Tour beantworten. Kleinigkeiten vielleicht, aber das sind genau diese Dinge, die uns Uruguay so sympathisch machen, dieses heimelig-stressfreie Feeling, das in Alemania schon seit mindestens 30 Jahren Geschichte ist. Fahrrad repariert – jetzt können auch wir uns unter die Flaneure mischen. Für Fans guter Architektur kein leichtes Unterfangen, jedenfalls befallen uns auf der Avenida 18 de Julio und um die Plaza Independencia immer spätestens nach einer halben Stunde penetrante Nackenschmerzen. Centro Municipal de Exposiciones, Edificio Cine Rex, Palacio Uriarte de Heber, Edificio Lapido, eine Fassade ist schöner als die andere. Absoluter Star und sogar Montevideos Wahrzeichen ist aber der Palacio Salvo. Wenn sich dein Blick mal in den Fassaden-Details dieses Eklektizismus-Klassikers verfangen hat, dann ist die Genickstarre vorprogrammiert. ![]() ![]() Anfangs der 20er-Jahre vergaben die reichen Gebrüder Salvo den Auftrag zum Bau eines Hotels mit Geschäfts- und Kongresszentrum, und zwar an den Star-Architekten Mario Palanti aus Milano. Dieser, seines Zeichens ein absoluter Verehrer von Dantes Göttlicher Komödie, hatte schon ein ähnliches Haus in Buenos Aires gebaut, und jetzt zog er in Montevideo sämtliche kreativen Register. Erker, Türmchen, Säulen und dem Jugendstil entlehnte Fensterfronten vermischen sich hier zu einem wirklich sagenhaften, aber durchaus ästhetischen Gewirr. Als der gewaltige Kasten 1928 fertig war, sorgte er für gehörigen Wirbel – er war damals mit seinen 28 Etagen und 84 (mit Antenne 100) Metern für etliche Jahre das höchste Bauwerk Südamerikas. Und für die Anhänger der puristischen Moderne war der "Zuckerbäckerstil" des Palacio Salvo ein echtes Ärgernis, da alles andere als zeitgemäß. Viele Bewohner der Stadt stimmten diesen Kritikern zu, auch deshalb, weil für den Bau das Café "La Giralda" weichen musste, wo Gérardo Matos Rodriguez anno 1917 seine Tango-Hymne "La Cumparsita" geschrieben hatte. Ein Tango, der ausnahmsweise mal nicht von einem Argentinier komponiert worden war, sondern von einem Musiker aus Uruguay. Heute ist der einst umstrittene Hochhausturm längst kein Hotel mehr, sondern quasi eine kleine private Welt für sich. Der seinerzeit im Keller befindliche Theatersaal wurde zur Tiefgarage umfunktioniert, es gibt eine Vielzahl kleiner Geschäfte und Wohnungen für ein paar hundert Leute, luxuriöse Appartements, aber auch kleine Behausungen ohne jeglichen Komfort. Buchhändler und Friseure, Ärzte und Rechtsanwälte haben sich hier niedergelassen, Akademiker, Künstler, Arbeiter – im Palacio Salvo wohnen sie alle unter demselben Dach. Und immer wieder gibt es Stimmen, die behaupten, dass in den Kellergeschossen Treffen ominöser Geheimbünde stattfänden. Wie dem auch sei – dieses Monstrum von einem Hochhaus finden wir einfach endgeil. In der Lobby studieren wir die aushängenden Tafeln mit der Baugeschichte, dabei schielen wir immer auf die Aufzugtüren. Liebend gerne wären wir mal hinauf zu einem der von unten so verlockend aussehenden Balkone gefahren. Was sich wohl heute hinter den riesigen Panoramafenstern im neunten Stock verbirgt, wo früher vermutlich das Restaurant war? Gerümpel und Spinnweben, oder das Loft eines Parvenüs? Fast hätten wir es in den Aufzug geschafft, aber der Gorilla an der Reception pfeift uns zurück – alles bewohnt, muy privado, leider, und tschüss... Jammerschade, da kann man nix machen. Ha, wenn wir im Lotto gewinnen kaufen wir den Schuppen! Dann machen wir ein Casa de Ciclistas draus, eine Unterkunft für Radler. Doch ob wir je damit glücklich würden? Vom Palacio Barolo in Buenos Aires jedenfalls soll Palanti damals alle Baupläne wieder mit nach Italien und bei seinem Ableben 1979 mit ins Grab genommen haben. Ob das beim Palacio Salvo genauso ist wissen wir nicht, aber dann könnte man hier bei jedem geplatzten Heizungsrohr gleich Dantes Inferno live aufführen. ![]() ![]() Tja, Palacio Salvo, Parillada, Confiterías, morbider Charme – Montevideos Legende hat viele Facetten. Eine aber fehlt nie und wird fast immer zuerst genannt: Graf Spee. Genährt durch das ungewöhnliche Ende dieses Hightech-Panzerschiffs anno 1939, durch die kulante Haltung seines Kapitäns Langsdorff gegenüber Kriegsgefangenen, aber auch durch ständig aufflackernde Bergungs-Gerüchte bietet sie wohl Stoff für noch viele Sommerlöcher. Ob die Hebung jemals klappen wird? Interessante Sache, ohne Frage – siehe z. B. www.abendblatt.de/daten/2004/01/17/252187.html?s=1. Immerhin, den Anker haben sie schon. Er liegt neben der Marineverwaltung im Hafen, inmitten eines kürzlich frisch gemähten Rasenstücks. Als wir ein Foto machen, steigen aus dem Heu so circa 3000 Moskitos auf und beginnen freudig zu schwirren. So hat jeder was von der Episode, wir das Foto und die lieben Tierlein ein reichhaltiges Mittagessen. Wir stellen fest: Immer noch scharf bewacht, die Schlachtschiff-Relikte. Wird Zeit, dass wir weiterkommen. Wir verlassen Montevideo wieder auf der Rambla, Kurs Nordost. Rechts feinsandiger Strand, links ansprechende Apartment-Häuser und Hotelbauten, fast wie an der Promenade des Anglais in Nizza. Von hier bis Punta del Este und noch weiter erstreckt sich jetzt das absolute Urlaubsparadies aller Uruguayos, aber auch vieler Argentinier. Und vor dem Strand erstreckt sich nicht das Meer, sondern immer noch dieser faszinierende Río de la Plata, unendlich wie ein Ozean. Die Badeorte hier an der Costa de Oro sind schon regelrecht zusammengewachsen; fast meinen wir, von Los Angeles nach San Diego oder an der Riviera entlang zu pedalieren. Nach rund 30 km hört die Küstenstraße auf und mündet in die autobahnähnliche Interbalnearia. Diese ist mit hässlichen Radverbotsschildern dekoriert, doch sind hier ganze Rennradgruppen unterwegs, Mountainbiker, Transportfahrräder. Und die Polizei grüßt freundlich aus ihrem schon etwas gemolken wirkenden Chevrolet, während unsere Altmetall-Mulis dank frisch reguliertem Reifendruck flott dahinrollen. Eukalyptusbäume, Pinien, Mimosen säumen die Strecke, wir passieren die Randgebiete von Salinas und Atlántida, das Terrain wird welliger, sogar ein paar Berge sind jetzt zu sehen, die entfernt an den provençalischen Karst oder an den Schweizer Jura erinnern. Wir nehmen die Geländewellen mit Schmackes und kommen gut vorwärts. In Solís beginnt dann die Uferstraße wieder, gesäumt jetzt nicht mehr von Hotelpalästen, sondern von mehr oder minder geschmackvollen Ferienhäusern. Dann Piriápolis, old fashioned mit Strandpromenade, Grand Hotel von 1930 und nettem Aussichtsberg mit Sesselbahn. Ein bisschen wie Bad Liebenzell am Meer. Mittelstands-Familienferien, flanierende Rentner, Straßencafés mit Kuchenbuffet, Bootstouren, Motorroller-Verleih und eine Werkstatt mit 13er-Nuss. Alles bestens also. ![]() ![]() Das jetzt folgende Stück der kleinen Küstenstraße ist sicher der bislang schönste Teil unserer Tour. Mit ständig wechselndem Panorama geht es hügelig und kurvig durch kleinere Felsformationen, Sumpfgebiete, Wäldchen mit exotischen Pflanzen, vorbei an einer Vogelwarte und an ein paar hölzernen Aussichtsplattformen. Hier wiederholt sich jedes Jahr zwischen Juli und November ein besonderes Spektakel, wenn Wale sich in den ruhigen Gewässern zur Paarung einfinden, ihre Jungen zur Welt bringen und aufziehen. Schade, im Dezember kreuzen sie in den planktonreichen Gewässern vor der Küste Patagoniens, definitiv kein Wildlife zu sehen jetzt. Nur ein paar grüne Schlangen liegen überfahren auf der Straße; sie sehen immer noch ganz gefährlich aus. Wir sind froh, dass wir bislang immer ein Dach über dem Kopf gefunden haben und nicht in der Wildnis zelten mussten. Wenn man sich schon im Einzugsgebiet von Punta del Este wähnt, muss man kurz vor dem Ziel noch die Punta Ballena überqueren, das "Walfisch-Kap". Von dieser Anhöhe, die angeblich die Gestalt eines Wals hat (vielleicht ist sie aber auch nur ein guter Punkt zur Wal-Beobachtung), hat man einen fantastischen Blick auf die Skyline von Punta, aber auch zurück auf Piriápolis. Doch das Highlight an der Punta Ballena sieht man von der Straße aus nicht – das Casa Pueblo. Das findet man definitiv nur, wenn man danach sucht Das Casa Pueblo (http://carlospaezvilaro.com.uy/nuevo/) ist das Werk von Carlos Páez Vilaró. Der heute 84-jährige, sicher einer der wichtigsten modernen Künstler ganz Lateinamerikas, hat über 40 Jahre an seinem Traumhaus, Denkmal, und Museum gebaut und bauen lassen. Er wohnt und arbeitet sogar selbst in diesem Haus und sei, wie wir gelesen haben, zumeist gerne bereit, Gästen und Besuchern Rede und Antwort zu stehen. Das Casa Pueblo fungiert nämlich auch als Hotel, nicht ganz billig, aber wenn wir schon einmal im Leben hier sind... Das ist es uns wert; im 20-Dollar-Schuppen nächtigen können wir dann morgen wieder. Vorsorglich haben wir von Montevideo aus telefonisch reservieren lassen. ![]() ![]() Keuchend schnaufen wir im Granny Gear auf das Kap hinauf, biegen um eine Kurve, dann sehen wir plötzlich etwas, das von weitem an ein schneeweißes, maurisches Bergdorf erinnert, atemberaubend in das Kliff geschachtelt. Das muss es sein! Wir klopfen schüchtern an die Pforte – tatsächlich, unsere Reservierung ist da. Bestimmt sind wir die einzigen radelnden Gäste in diesem Etablissement; also, nach einer 13er-Nuss fragen wir hier besser nicht. Tja, man übernachtet ja nicht so oft im Fünf-Sterne-Resort, aber das hier ist schon etwas ganz Besonderes. Carlos Páez Vilaró, der lange Jahre in Afrika gelebt und sich dort inspirieren lassen hat, hat hier in Anlehnung an ein Lehmhütten-Bergdorf oder auch an ein indianisches Pueblo seinen Traum verwirklicht, ein unwahrscheinlich tolles Haus, fast ohne jeden rechten Winkel, das uns gleichzeitig an Hundertwasser, Picasso, Le Corbusier und das Palais Idéal des französischen Landbriefträgers Ferdinand Cheval erinnert. Der Koffer- bzw. Packtaschenträger führt uns durch unendliche, verschlungene Gänge, alles weiß getüncht, immer wieder geht ein Lämpchen an, um den Weg auszuleuchten. Dann kriegen wir ein schönes Zimmer, auch ganz in Weiß, mit tollem Blick auf den Garten und den Río de la Plata. Wirklich – ein echter Traum! Später durchstreifen wir das ganze Pueblo, drehen eine Runde im Pool und lassen uns dann auf einem Liegestuhl die angenehme Atlantik-Brise um die Nase wehen. In Carlos′ Museum sehen wir eine Menge bunte Bilder, auch stark von den Farben Afrikas beeinflusst, Skulpturen, Plastiken und historische Fotos, die den Künstler mit Picasso, Dalí, Calder und Albert Schweitzer zeigen. Der Mann ist wirklich viel herumgekommen, hat überall etwas mitgenommen, aber noch mehr hinterlassen, und ist schon seiner farbenfrohen Kunstwerke wegen ein gutes Aushängeschild für Uruguay, was in Guaraní, der Sprache der indianischen Ureinwohner, das "Land am Fluss der bunten Vögel" heißt. Leider ist die Werkstatttür verschlossen, der Meister sei auf Reisen, hören wir. Schade, na denn. ![]() ![]() Am Abend zieht sich der Himmel zu, aber die nahezu porös wirkenden Wolken verursachen dafür einen auf seine Art besonders beeindruckenden Sonnenuntergang, den wir beim Abendessen von der Terrasse aus ausführlich genießen. Später zucken Blitze aus den Wolken, und nachts bläst ein kräftiger Sturm ums Haus, der aber irgendwie sehr gut zu diesem urwüchsigen Ort hier passt. Wir schlafen tief und traumlos. Unsere Rösser stehen am nächsten Morgen noch an derselben Stelle im Hof, wo wir sie gestern gelassen haben, und scharren freudig mit den Reifen. Vielleicht ganz gut, dass Carlos gerade auswärts weilt – er arbeitet auch gerne mit Alteisen, wie wir im Museum feststellen konnten. Knarf, quietsch, zurück über den Berg, noch ein kurzes Stück Schnellstraße, und dann liegt Punta del Este vor uns. Hier endlich vermischt sich jetzt das Wasser des Río de la Plata mit dem Atlantik, aber das ist für uns auch das einzig Bemerkenswerte an diesem wohl berühmtesten Seebad Südamerikas, das zwar sehr gepflegt ist, mit seinen Hochhauskästen aber stark an eine Kreuzung zwischen Miami Beach, Acapulco und Torremolinos erinnert. Wir belassen es bei einer kleinen Ehrenrunde, dann geben wir Gas, weiter Kurs Nordost, kommen in die Stadtrandgebiete, doch halt – was sehen wir da? Plötzlich erblicken wir hinter einem Maschendrahtzaun die ganzen im Dienst ergrauten Oldtimer, die den Urus lange Jahre treu als tägliches Transportmittel gedient haben und noch vor vier, fünf Jahren aus dem Stadtbild von Colonia oder Montevideo nicht wegzudenken waren. Etliche Händler haben wohl zwischenzeitlich gemerkt, dass sich mit den alten Vehikeln ganz gut Kohle machen lässt. Hier werden sie restauriert und dann exportiert oder an die Hautevolee von Punta verkloppt. Schade irgendwie, der Durchschnittsbürger fährt jetzt Fiat Uno oder Chevy Corsa statt Ford V8, Ponton-Daimler oder 55er Opel Rekord. The times, they are a-changin′! ![]() ![]() Von Punta gibt es zwei Wege in Richtung brasilianische Grenze: Entweder auf der Küstenstrecke, durch etliche weitere Strandorte, teilweise aber nicht asphaltiert, später Sandpiste und Fußweg. Sicher schön und romantisch, aber die Wolken und das Wetterleuchten gestern Abend bei Carlos waren die Vorboten eines von Süden heranziehenden Schlechtwettergebiets. Und außerdem haben wir uns ob so vieler spannender Eindrücke total verbummelt – wenn wir nicht ganz aus unserem Zeitlimit fallen wollen, müssen wir jetzt ein wenig Meilen machen. Wir radeln also nach San Carlos hoch und gehen auf die Ruta 9, Fortsetzung der Interbalnearia. Und die zieht sich jetzt, ab hier nur noch zweispurig, wieder in sanften Wellen durch die hügelige, parkartige Landschaft, die uns in Uruguay so gefällt. Kaum Verkehr jetzt noch, schöner Seitenstreifen, Gegenwind mal wieder, aber wir kommen gut vorwärts. Nur zwei kleine Städtchen liegen am Weg, Rocha und Castillos, sonst bloß alle 40 bis 60 km eine Tankstelle oder eine Gauchokneipe. Die Kühe grasen zum Teil in ausladenden Palmenhainen, ein schönes Bild. Weihnachten verbringen wir in einer Strandhütte in Punta del Diablo – ein absoluter Glücksgriff! (www.puntadeldiablo.com.uy). Eine Stichstraße führt von der Ruta 9 in das sympathische Dorf mit seinen sandigen Straßen, krummen Fischerhütten und ein paar Ferienwohnungen. Es herrscht eine relaxte Atmosphäre, zehnmal schöner ist es hier als in Punta, der Atlantik donnert an den Sandstrand und hat die wenigen Felsen glatt und rund poliert. Wir kommen gegen Mittag an, schnell ins Meer gesprungen, Strandspaziergang, doch dann holt uns endlich das Wetter ein, und nach fast zehn Tagen Sonne kriegen wir jetzt den eindrucksvollen Beweis dafür, dass wir eigentlich in der Regenzeit hier zugange sind. Beim Heiligabend-Candlelight-Dinner fegt ein kräftiger Sturm um unsere Hütte, die auf Stelzen steht und leicht zu schwanken beginnt. Graue statt weiße Weihnachten, aber saugemütlich – wir wollten jetzt absolut mit niemand auf der Welt tauschen. ![]() ![]() Zwei Tage tobt der Sturm. Von unserer gemütlichen Sofaecke blicken wir hinaus auf die Naturgewalten. Kaum einer würde jetzt freiwillig auch nur einen Fuß hinaussetzen – trotzdem sind auf dem Meer ein paar tollkühne Kitesurfer zu sehen, ein atemberaubender Anblick! Die Brecher gehen meterhoch, immer wieder werden die Jungs überspült, doch der Drachen zieht sie stets wieder aus dem Blanken Hans heraus. Da sind wir wirklich Weicheier dagegen, ist besser als Fernsehen hier! Aber vielleicht ganz gut, dass kein so rechtes Badewetter herrscht – in allen Restaurants hier steht Haifischsteak auf der Karte, fangfrisch aus heimischen Gewässern. Beim ersten Sonnenstrahl packen wir es und gehen die letzten 50 Uruguay-Kilometer an. Schnell sind wir zurück auf der Ruta 9, schönstes Wetter jetzt wieder, sogar der Wind kommt aus der richtigen Richtung und schiebt uns an. Schnell sind wir im Grenzort Chuy, und ehrlich, jetzt kommt doch ein wenig Wehmut auf. Dieses kleine Uruguay ist uns mittlerweile ans Herz gewachsen mit seinen freundlichen Menschen und seinem unprätentiös-nostalgischen Charme, ein Land, wo man leben könnte. Schon kommt die Grenze, zack, der Stempel sitzt im Pass. Zum ersten Mal im Leben in Brasilien! Immerhin, die Einreise gestaltet sich genauso einfach wie die Ausreise aus Uruguay. Auch ist die BR 471 ähnlich gut wie drüben die Ruta 9 bei den Urus, nur wird der Seitenstreifen schmerzlich vermisst. Aber der Verkehr nimmt plötzlich zu! Chuy ist Zollfrei-Zone, dazu scheint uns der Motorisierungsgrad pro Kopf in Brasilien um einiges höher zu sein als im gemütlichen Nachbarland. Auf jeden Fall donnern die Schnäppchenjäger hier entlang als wären sie der Geist von Ayrton Senna. Auf den 20 Kilometern nach Santa Vitória do Palmar sind wir jedenfalls froh über unsere Rückspiegel und beschließen, den seitenstreifen- und unterkunftslosen Stretch bis Pelotas mit dem Bus zurückzulegen. In Santa Vitória checken wir ein im Hotel Brasil – einfach, aber sauber und freundlich. Gottseidank kann der Gérente Spanisch, denn Brasilianisch bzw. Portugiesisch ist uns gänzlich fremd; wir verstehen nicht ein Wort, fast als wären wir in China. Gar nicht so leicht dann die Bestellung des Abendessens im Restaurant gegenüber – unser Hotelmensch scheint der einzige diesseits der Grenze zu sein, der auch noch etwas anderes als Portugiesisch spricht, unglaublich! Wir nehmen mal das erste und das zweite Gericht auf der Karte und erhalten zwei nahezu identisch aussehende Fleischstücke, nur dass eines von beiden durch ein Spiegelei gekrönt wird. Schmeckt aber gut, dazu gibt es eiskaltes Bier Marke "Brahma". Der Kühlschrank hat das Format eines Kleiderschranks für eine dreiköpfige Familie und zeigt mittels Leuchtdioden-Anzeige an, wie kalt es drinnen ist (-5,6 Grad). Das Restaurant ist bis auf den letzten Platz belegt, das gute Essen kostet keine 15 Euro, und eine fetzige Musik untermalt das kulinarische Ereignis. Dazu scheinen alle Brasis immer gut drauf zu sein – Daumen nach oben und freundlich gestrahlt heißt "tudo bem", alles bestens, das haben wir schon mal begriffen. Ohne Zweifel, dieses Land führt sich gut ein. ![]() ![]() Selbst im Busbahnhof (Rodoviário) kann kein Mensch auch nur ein Wort Spanisch. Eine halbe Stunde brauchen wir am nächsten Morgen für den Ticketkauf und um den Angestellten beizubiegen, dass wir zwei Fahrräder mitzuführen wünschen, und zwar unzerlegt und unverpackt. Dabei bringen wir das ganze Terminal durcheinander, aber schließlich schaukelt uns dann doch ein großer, schöner Bus der Gesellschaft "Embaixador" recht kommod über die folgenden 250 einsamen Kilometer, in seinem Bauch unsere Räder, sorgfältig verstaut im separaten Gepäckabteil. Wir blicken vom bequemen Sitz auf Rindviecher, Reisfelder, Eukalyptuswäldchen und auf die Lagoa Mirim, die mit dem umgebenden Sumpfland ein riesiges Vogelparadies ist. Wir sehen Reiher, Enten, rosarote Löffelschnäbler, Wasserschweine. Eine gute Entscheidung, diese Busfahrt! Selbst zelten hätten wir hier nur schlecht können, wo es kaum einmal eine trockene Wiese und schon gleich gar keinen Sichtschutz gibt, höchstens bei den sehr seltenen Estancias. Und erst kurz vor Pelotas setzt der Seitenstreifen wieder ein. Pelotas eine schöne Stadt zu nennen wäre sicher vermessen, Verkehrsknotenpunkt, kaum historische Bauwerke, das beste Feature sind die guten Pralinen in der Confeitaria Otto. Aber fast alle Häuser sind hübsch bunt gestrichen, auf den Straßen herrscht das pralle Leben. Und laut ist es! Kaum ein Laden, der nicht mittels Mega-Lautsprecher anpreist, was es drinnen preiswert zu erwerben gäbe. Von allen Seiten werden wir was gefragt, vermutlich, wo die Reise hingeht. Wenn wir′s nur verstehen würden! Aber die Fröhlichkeit steckt an, irgendwie fühlen wir uns gleich willkommen in diesem Land. Tja, beim nächsten Mal wohl doch besser vorher den Portugiesisch-Crashkurs bei der Volkshochschule! Eigentlich hatten wir gedacht, mit Spanisch kannst du dich hier wenigstens verständlich machen. Am nächsten Morgen, Hotel Curi, es beginnt die schwierige Checkout-Prozedur. Die Receptionistin hält einen kurzen Monolog, ich grinse freundlich und sage "Oi!" Dann schiebt sie mir ein Rechnungsformular hin, ich will gerade danach schnappen und "Obrigado!" sagen, da wird es mit einer abwehrenden Handbewegung wieder zurückgezogen. Auf meinen fragenden Blick mischt sich ein Gast in gebrochenem Englisch ein, das sei jetzt nur die Frage gewesen, ob wir denn auch so eine schöne Rechnung haben wollten. "Si, claro!" sage ich in der Hoffnung, dass das auch in Brasilien ähnlich heißt, und mache die Bewegung des Getränke-Hinunterkippens, weil ich gestern Abend ein Bier aus der Minibar getrunken habe. Da weisen alle auf die Aufzugtür und halten zwei Finger hoch, denn oben im zweiten Stock ist das Restaurant. "No, Cerveza, Brahma, Skol, Pilsen!" rufe ich, mittlerweile leicht verzweifelt, da müssen alle in der Halle lauthals lachen. Ein Anruf bei der Maid zur Untersuchung dieses mysteriösen Vorfalls schafft dann Klarheit. Alle recken den Daumen nach oben, wir erhalten unsere Rechnung und sogar noch einen anständigen Rabatt (für Radler?). Die nächste Frage gilt vermutlich wieder unserer Radtour. Mit der Antwort "Buenos Aires, Montevideo, Porto Alegre" sind alle einverstanden. Es entsteht ein freudiger Aufschrei, als hätte der FC Santos ein Tor geschossen, mittlerweile 20 Daumen zeigen jetzt nach oben und wir sind in Ehren entlassen. Jetzt weiter, Supermarkt. Ein Baguette wegnehmen geht ja gerade noch, ist international, aber wie kauft man 150 Gramm Schinken? Ich lange mal über die Theke und zeige auf das gewünschte Produkt. Der Hilfsmetzger säbelt wie verrückt, legt dann alles auf die Waage – ein knappes Pfund. Ich zeige mit dem Daumen nach unten (ob sie diese Bewegung in Brasilien überhaupt kennen?), da werden zögerlich ein paar einzelne Scheiben wieder heruntergepackt. Bei 160 Gramm lasse ich meinen Daumen nach oben schnellen – zack, schon sind wieder ein paar Scheiben drauf. Fixluja, da ist Radeln ja direkt was Leichtes dagegen! ![]() ![]() Mit kräftig nach hinten ziehendem Schinkenvorrat können wir dann endlich in die Pedale treten und uns aus Pelotas hinausarbeiten. Ab jetzt (BR 116) haben wir sogar einen durchgehenden, wenn auch manchmal recht rumpeligen Seitenstreifen bis ganz nach Porto Alegre, ein echter Segen. Und heiß wird es langsam! Auch hügelig, aber wir kommen gut vorwärts. Zum Leitplanken-Lunch (recht üppig belegte Schinkenbrote) brauchen wir eine ganze Flasche Wasser. Und den kurz darauf einsetzenden Regenschauer nehmen wir als willkommene Erfrischung. Zum Glück gibt es immer wieder Tankstellen, wo man Wasser nachfassen und eine Cola oder ein Bierchen zischen kann. Nächste Etappe: Camaquã, inmitten ausladender Reisfelder, der Himmel hat sich jetzt dramatisch zugezogen. Beim Abendessen geht ein Unwetter nieder wie kürzlich in Punta del Diablo. Am Morgen dann starten wir in eine heiß-schwüle Waschküche. Noch 120 km bis Porto Alegre, der Himmel ist eine riesige Bühne hochaufgetürmter Quellwolken und durchziehender Gewitterfronten. Doch heute wartet der Regen nicht, bis wir unser Tagesziel erreicht haben. Kurz vor Guaíba zieht Petrus den Stöpsel, und das jetzt einsetzende Gewitter stellt alles in den Schatten, was wir bislang erlebt haben. Wir können uns gerade noch unter das Blechdach einer Straßenkneipe flüchten, dann öffnet der Himmel dermaßen seine Schleusen, dass man nicht mal mehr auf die andere Straßenseite sieht. Wir beobachten das Ganze mit einer Coladose in der Hand und mit gerunzelter Stirn; es trommelt wie blöd auf das Dach und unter unserem Tisch ergießt sich ein schlammbraunes Bächlein über die Terrasse. Innen in der Kneipe stellt der Wirt an diversen Stellen Eimer auf, die für solche Fälle schon bereitstehen. Unglaublich! Der Regen will und will nicht aufhören, doch irgendwann müssen wir einfach weiter. Da hilft nur eins: Regenjacke drüber, Badeschlappen an, Kopf unter den Lenker und durch! Fünf Kilometer, zehn Kilometer, es schifft und schifft. Da nehmen wir doch gerne das erste beste Dach über dem Kopf, das wir finden können: Motel Castelinho, aberto 24 horas, Zimmer auch stundenweise – egal, Hauptsache aus dem Regen raus! Ein Blechtor öffnet sich elektrisch, drinnen alles sehr diskret, für jedes Zimmer eine extra Garage (könnte ja einer das Auto seines Nachbarn erblicken). Der Zimmerservice empfiehlt: Diverse Sorten Schampus, dazu ein reiches Sortiment an Hygieneartikeln, geliefert bei Bedarf durch eine Art doppelte Katzenklappe (wenn Rotlicht an, herausnehmen). Tja, der Alltag des Südamerika-Radlers hat so seine Schwankungen: Vom Fünf-Sterne-Resort über die Stelzenhütte ins Stundenmotel. Aber die heiße Dusche erfreut sehr heute, und im nahen Tankstellenrestaurant gibt es sogar ein ganz gutes Essen vom Buffet. Auf jeden Fall, wir sind′s zufrieden, auch wenn der Bier-Kühlschrank hier nur -2,4 Grad anzeigt. ![]() ![]() Da traditionell im Stundenmotel kein Frühstück serviert wird, sind wir am nächsten Morgen schon recht früh auf der Straße. Knarf, raspel, quietsch, also, diese Kurzetappe nach Porto Alegre muss jetzt leider die letzte sein für unsere Sperrmüll-Pferdchen, das haben wir gestern beim Abendessen beschlossen. Nach den Regenwettern der letzten Tage haben wir in keinem einzigen Lager auch nur noch ein Gramm Fett, mein ausgeschlagenes Lenkkopflager vermittelt mit dem Schlag in der vorderen Felge beim Bremsen ein echtes ABS-Feeling, Sybille hat schon seit vorgestern einen schleichenden Platten, den wir nicht in den Griff kriegen, und zu allem Überfluss haben wir keine Ahnung, was 13er-Nuss auf Portugiesisch heißt. Dazu nur noch elf Tage Zeit für knapp 2000 Kilometer. Wie der Gaucho seinem waidwunden Gaul den Sattel abnimmt schrauben wir Tacho und Rückspiegel ab und verschenken unsere Räder an die Receptionistin und den Liftboy des Porto Alegre City Hotels. Haben sich wacker geschlagen, die Teile, unbedingt – 940 km waren das immerhin bis hier! Wir hoffen, in Brasilien ist ihnen noch ein längeres Leben beschieden. Und dann feiern wir den erfolgreichen Abschluss unserer Radtour mit einem Riesen-Churrasco im Galpão Crioulo (www.churrascariagalpaocrioulo.com.br). Einfach gigantisch gut schmeckt das brasilianische Fleisch, kann man sich in Alemania überhaupt nicht vorstellen! War vielleicht doch etwas vorschnell, die Räder wegzugeben – also, um dieses Quasi-Siegesmahl wieder abzuarbeiten hätten wir noch mindestens eine weitere Woche radeln müssen:-) ![]() ![]() Anderntags übernehmen wir am Flughafen draußen ein nettes Miet-Autolein (Fiat Palio), und dieses ist in zweifacher Weise höchst bemerkenswert: Erstens schluckt es auf 100 km neun Liter reinen Alkohol, also auf jeden Fall erheblich mehr als wir beide zusammen. Wir sind immer ganz gespannt, wenn wir in unserem Portugiesisch an der Tanke "Alkohol" sagen, was wir dann kriegen. Und zweitens gibt es in unserem Carro keinerlei Heizung, noch nicht mal den Platz für einen vorgesehenen Schalter. Glückliches Land, wo Autoheizungen noch nicht mal als Sonderzubehör angeboten werden! Mit unserem kleinen, nicht heizbaren Schluckspecht erkunden wir jetzt die Serra Gaúcha mit ihren tollen Schluchten und weiten Ausblicken, die brasilianische Weinstraße und Gramado, für die Brasis dasselbe wie für uns St. Moritz. Wir erfahren, dass in Südbrasilien doch noch eine andere Sprache gesprochen wird als Portugiesisch – Deutsch! Sowohl Blumenau (www.guiadeblumenau.com.br) als auch Pomerode (www.pomerodeonline.com.br) behaupten von sich, die deutscheste Stadt Brasiliens zu sein und überbieten sich mit nachgemachten Fachwerkhäusern, Eisbein-, Sauerkraut- und Blasmusikromantik. Ist aber ganz lustig; im Restaurante "Frohsinn" haben sie einen Gulasch wie bei Muttern und in Joinville das Fachwerk-Hochhaus-Hotel "Tannenhof". ![]() ![]() Dann weiter, Curitiba, eine Ausnahmestadt, anno ′97 Gewinnerin des Umweltpreises der UNO. Von dort fahren wir mit dem Serra Verde Express zur Küste hinab, sicher eine der tollsten Bahnlinien Amerikas. Und zum Schluss dann die Cataratas do Iguaçu, die anerkannt schönsten Wasserfälle der Welt. Nachstehend ein paar Bilder, die sagen mehr als tausend Worte. Auf jeden Fall – war ein super Trip mal wieder, durch drei wunderschöne und höchst angenehme Reiseländer. Dem Winter ein Schnippchen geschlagen, ein bisschen mit der Seele gebaumelt, dazu tolle Landschaften, Welterbe Iguaçu, ein wenig Kultur und stets gut gegessen, was will man mehr! An Leib und Seele erquickt steigen wir in Foz do Iguaçu in den Flieger nach Hause, um viele Eindrücke, Erlebnisse, Erfahrungen und am Kessel um einen Jahresring reicher, den wir möglichst schnell daheim wieder per pedales abzuarbeiten gedenken. Und ehrlich, obwohl wir erst zum Schluss und em carro zu den Premium-Sehenswürdigkeiten vorgedrungen sind, wollten wir den ersten Teil unserer Reise, em bici, auf gar keinen Fall missen – er war halt, wie immer, mal wieder der unbedingt schönere. Einfach was Tolles, so ein Fahrrad! Es ermöglicht ein menschgemäßes Tempo, du kannst Meilen machen oder bummeln, du kannst deinen Lenker drehen, wohin du willst – und du kannst ihn sogar jederzeit abgeben, wenn du das richtige Equipment dabei hast. Até logo! Anmerkung: Diese Tour entspricht Tour PC 4 im Lateinamerika BikeBuch. Siehe auch unter LABB Update / Seite 367 ff. ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |