ALEMAN MUERTO!Ich liege am Bahnhof Tolar Grande neben dem Gleis im Dreck. Mein Bauch wehrt sich gegen jede Bewegung, meine Augen tränen vor Schmerz. Immer wieder berührt ein Indiobub mit schwarzbraunen Fingern meinen Kopf und ruft, „aleman muerto“. „Beim Toten Deutschen“ liegt auf 4334 Meter Höhe in den Anden und ist umgeben von einer kalten Wüste. Bis zum Horizont dehnt sich die Landschaft aus Sand und Geröll, aus Salzseen und riesigen Vulkanen. Kein Baum, kein Haus, nur eine grobe Sandpiste, ein Gleis und ein Steinhaufen mit einem Holzkreuz. Aleman Muerto ist ein Grab, verloren in den Weiten der Puna-Hochebene. In den dreißiger Jahren war der Deutsche Karl Wilmer mit dem Tren al las Nubes, „dem Zug in die Wolken“, die Anden hinaufgefahren. Der Matrose hatte in Buenos Aires am Atlantik sein Schiff verpasst und wollte daher, während es Kap Hoorn umrundete, nach Antofagasta am Pazifik, um wieder zuzusteigen. Das Gleis endete damals 80 Kilometer vor der argentinisch-chilenischen Grenze. Karl Wilmer entschloss sich, zu Fuß weiter zu gehen, ortsunkundig auf über 4000 Meter Höhe, bei Temperaturen bis zu 30 Grad unter Null. Er schaffte nur zwei Dutzend Kilometer. Der Ort, an dem man seine Leiche fand, heißt seitdem Aleman Muerto. Eine Windböe bedeckt mich mit Sand, der Indiobub lächelt. Ich liege hilflos am Boden und weiß nicht, wie ich hochkommen soll. Vor zwei Wochen sind wir in Antofagasta am Pazifik gestartet. Acht Biker und Michaela. Sie fährt den Jeep, der mit 400 Litern Trinkwasser, 80 Litern Treibstoff, 13 Litern Kocherbenzin, Zelten, Schlafsäcken, Isomatten und Proviant für drei Wochen beladen ist. Wir haben einen Monat Zeit. Mein Ziel ist das Holzkreuz von Karl Wilmer und die Durchquerung der Puna de Atacama. Das fast menschenleere Hochland mit einer Fläche von rund 60 000 Quadratkilometern erstreckt sich in Argentinien an der Grenze zu Chile zwischen den über 6000 Meter hohen Bergen des Cerro Pular und Nevado Ojos del Salado. Während der Expedition sollen auch zwei Vulkane bestiegen werden. Der Llullaillaco mit den höchsten Inkafundstellen und der Cerro Galan mit der größten Kraterlandschaft. Heute traversiert eine Piste entlang des Gleises des Tren al las Nubes den Andenhauptkamm am Paso Socompa und die Puna de Atacama beim „Toten Deutschen“ in Ost-West-Richtung. Die ersten 170 Kilometer des Camino Internacional de Socompa zum Bergwerk Escondida sind asphaltiert. GPS-gesteuerte Trucks so groß wie ein Einfamilienhaus schürfen hier im Tagebau nach Kupfer. Nach der Mine weicht die öde Wüste farbenprächtigem Andenhochland. Unter gelbbraunen mit roten Erzadern durchzogenen Felsflanken flimmern weiße Salzseen in der Hitze. 3000 Meter über windgepeitschtem Ichugras ragen vom Salz, manchmal auch vom Schnee weiß gezuckerte Vulkankegel in den klarblauen Andenhimmel. Die große Höhe und die enormen Temperaturunterschiede von über 40 Grad jeden Tag zehren an den Kraftreserven. Die Sonnenstrahlung um die Mittagszeit ist unerträglich. Auch die Pisten schenken uns nichts. Während die ebenen Abschnitte oft stark versandet sind, fordert bei den Auf- und Abfahrten oft grobsteiniger und verblockter Bodenbelag einen hohen Einsatz. Alle 70 Kilometer etwa kommt eine Station der Socompa-Eisenbahn. Einzelne verrostete Waggons stehen entgleist unter verrotteten Wassertürmen. Blechschilder scheppern im Wind. Starker Verwesungsgeruch aus einem Brunnenschacht reizt meine Nase. Ich kann es nicht glauben, dass der Zug noch fährt. Erst spät abends am sechsten Tourentag erreichen wir den chilenischen Grenzposten am Paso de Socompa, 3876 Meter hoch. Eine gebrochene Blattfeder am Jeep hat uns viel Zeit gekostet. Der erforderliche Ausreisestempel für die „turisti“ bedarf einer Menge Papierkram. Nach den Formalitäten stellt uns der freundliche Chilene sein Bad zur Verfügung. Anderntags, 100 Meter weiter bei den argentinischen Carabineros, wiederholt sich der Ablauf für die Einreisestempel. 2004 sind wir die ersten, die hier über die Anden wollen. Die Eintragungen für die vier vorhergehenden Jahre füllen nicht einmal eine Seite in dem dicken Buch. Die Biker dürfen weiter, der Jeep nicht. Es fehlt ein Zollpapier. Der chilenische Zoll befindet sich aber am Socompa nicht wie sonst üblich neben den Carabineros, sondern 300 Kilometer entfernt in Antofagasta. Langsam bereue ich, dass uns ein Auto begleitet. Doch ohne hat man in der Puna kaum eine Chance. Zumindest, wenn ein hoher Berg bestiegen werden soll. Das Wasser der wenigen Quellen an den Salzseen ist stark alkalisch und mit Arsen belastet. Endlich, die schneebedeckte Spitze des Llullaillaco lugt hinter einem Punarücken hervor. Kurze Zeit später füllt ein riesiger schwarzer Steinhaufen das gesamte Blickfeld aus und überragt alles. Da wollen wir hoch? 370 Kilometer vom Pazifik entfernt, auf 4700 Metern, beschreiben 8 Farbkleckse in der wüsten Öde unter dem Vulkan unser Basislager. Die darauffolgende Nacht im Hochlager, drei Zelte in drei Mulden unter einer Lavarippe 5900 Meter hoch, ist brutal. Immer, wenn ich glaube einzudösen, schreckt der Körper hoch. Ich schnappe zweimal nach Luft, reiße die Augen auf und sage mir, „das kann nicht sein, hier oben kannst du noch nicht ersticken“. Zwölf Stunden lang. Wie gerädert, um Jahre gealtert fühle ich mich als die Morgensonne aus den Bergen wächst. Minutenschnell verwandelt sich der weiche, rote Überzug der Puna in eine rissige, ockerfarbene Schotterwüste. In meinem Kopf nur ein Gedanke. Zusammenpacken und nichts wie runter. Langsam krabbeln auch die anderen aus den Schlafsäcken. Ihre Bewegungen sagen mir, dass es ihnen nicht viel besser geht. Wir sprechen kaum. Irgendetwas zieht mich nach oben. Es ist komisch. Der Körper kann nicht. Der Kopf will nicht. „Du hast keine Chance, aber nutze sie“, schrie Reinhard Karl in den fauchenden Wind am Cerro Torre in Patagonien. Er war einer der besten deutschen Bergsteiger. Ich gehe los, bergauf. An einem aufgestellten Steinquader 6739 Meter über dem Pazifik hat die Schinderei vorerst ein Ende. Die zwei vor 500 Jahren am Gipfelgrat erbauten Rundhütten nehme ich kaum wahr. 1999 fand ein Bergsteiger darin drei mumifizierte Inkakinder. Dem Sonnengott zum Opfer gebracht. Beim Abstieg vom heiligsten Berg der Inkas muss ich mehr geben, als ich habe. Jeder will weiter, weg von diesem Berg, raus aus dieser Landschaft, die durch ihre grenzenlose Weite wie ein Gefängnis wirkt. Keiner spricht mehr von unserem Plan, vom Cerro Galan, von der Laguna Verde am Nevado Ojos del Salado – alle sind schon unterwegs nach Hause. Ein Weg dorthin führt zum Aleman Muerto und über den Paso Sico nach San Pedro. Der Jeep springt nicht an. Der Anlasser macht keinen Mucks. Das Wasser in den Kanistern ist gefroren. Abladen, Anschieben auf 4700 Meter Meereshöhe. Erster Versuch fehlgeschlagen, wir schieben den Toyota im Geröllsand auf eine kleine Kuppe. Zweiter Versuch fehlgeschlagen, ein letzter gelingt. Die Piste zur Salina de Llullaillaco ist sehr schlecht. Manchmal erkennt man gerade zwei Reifenspuren auf dem Puna-Boden. Die Abfahrt gleicht einer Bergfahrt beim Alpencross. Nur habe ich für die 1000 Höhenmeter bergab doppelt so lange gebraucht. Die zurückgelegte Strecke hat auf dem Display meines GPS-Geräts gerade mal 5 Millimeter ausgemacht. 2 bis 3 Zentimeter wollte ich heute schaffen. 50 Kilometer vor dem Grabkreuz des Deutschen sind meine Akkus leer, mein Bauch rumort. Es geht nicht mehr. Karl Wilmer hatte damals keine Chance. Ich fahre im Jeep weiter – trotzdem eine schwere Minute in meinem Leben. Die anderen kämpfen weiter. Ich gehöre nicht mehr dazu. Einmal weichen sie auf den Schienenstrang der Socompa-Eisenbahn aus, weil die Piste so gnadenlos schlecht ist. Die Glut und Kälte der Puna zehren an der Moral, saugen Lebenssäfte. Das achte Lager in Folge über 3800 Meter schlagen wir direkt neben der Socompa-Piste im Steilhang zum Salar de Arizaro auf. 80 Kilometer lang ist der größte Salzsee der Puna, mit einer Tiefe bis zu 600 Meter. Die Welt reduziert sich auf drei Farbtöne: Blau der Himmel, weiß der See und dazwischen ein brauner Streifen Berge. Es gibt nichts, woran sich das Auge heften kann. Ein Donnern weckt mich in der Nacht. Plötzlich schießt ein Lichtstrahl hinauf in den Sternenhimmel. Und dann bricht der Scheinwerfer einer Lokomotive hinter einem Berg hervor. Der Tren a las Nubes schiebt sich rückwärts gen Socompa. Der Camino Internacional führt schnurgerade über den Salar de Arizaro. Das Wellblech aus betonhartem Salz kann keine Federgabel schlucken. Rinderschädel und Rippenbögen ragen aus der weißen Kruste. In den dreißiger Jahren wurden entlang der Trasse große Herden Rinder über die Anden zum Pazifik getrieben. Nach 70 Kilometer endet die Schüttelei in Tolar Grande, das erste bewohnte Dorf auf unserer Tour. Es gibt sogar eine Hosteria. Trotz eines Ruhetages hat sich mein Zustand nicht gebessert. Der Indiobub stochert mit einer Stange an meinen Füßen herum. Er grinst. Durch seine Zahnlücken zischen zwei Worte, „aleman muerto“. Nur mit einem Schmerzmittel komme ich wieder hoch. Für die nächsten Tage befindet sich mein Platz auf dem Dach des Jeeps. Die Piste schlängelt sich durch die Siete Curvas, einer grandiosen Canonlandschaft aus reinem Vulkangestein. Bis zum Paso de Sico weist die Landkarte noch eine Distanz von 180 Kilometern aus. Dafür brauchen wir drei Tage. Alle haben damit gerechnet, dass es nach dem Sico nur noch bergab geht zur Oase San Pedro in der Atacama-Wüste. Jeder hat gemeint, dass der Pistenzustand besser werden würde. Doch Hoffnungen werden vom Anden-Hochland nicht genährt, werden in der Strahlungshitze verbrannt, vom Wind verblasen oder vom Wellblech aus den Köpfen gehämmert. Der in den Landkarten verzeichnete Pass ist meistens nicht der höchste Punkt des Übergangs. Die Anstiege davor oder danach verschweigt die Karte. So führt der Camino Internacional nach der Sico-Passhöhe, 4092 Meter, auf der chilenischen Seite über einen 4450 Meter hohen Kamm zum Salar Laco, 4250 Meter. Nach der Bergfahrt auf einen unbenannten Pass mit 4550 Metern erreicht die Route bei der Ebene von Talar, 3950 Meter, einen vorläufigen Tiefpunkt. Bevor dann die lange Abfahrt nach San Pedro beginnt, geht es an der Laguna Meniques nochmals über einen schwach ausgeprägten Rücken mit zwei Buckeln um die 4100 Meter hoch. Erst am letzten Tourentag bin ich wieder richtig fit, endlich „on the road again“. Die Flamingos in den Wasserlöchern des Salar de Atacama klatschen nicht, als wir nach drei Wochen und über 900 Kilometern wieder in die Zivilisation zurück finden. Leider kommen die acht Biker nicht gemeinsam ins Ziel. Aber eine Expedition, wo logistisch und menschlich alles glatt läuft, gibt es nicht – es ist dann nämlich keine Expedition mehr. Das hat schon Reinhard Karl gesagt. |