www.bikeamerica.de - Reisebericht über unsere Panamericana-Tour 10

Zum Vermächtnis der Inkas

von Nordperu nach Cuzco

Peru, da denkt man unwillkürlich gleich an solche touristischen Highlights wie Titicacasee, Cuzco und Machu Picchu, alle südlich der Hauptstadt Lima gelegen. Dass Peru aber auch noch, von Lima aus gesehen, einen 1300 Kilometer langen Nordteil hat, interessiert die meisten Touristen eher weniger, abgesehen vielleicht von den Schnee- und Eisriesen der Cordillera Blanca rund um das Bergsteigerzentrum Huaraz.

Einen kleinen Eindruck dieses großen Nordens wollten wir eigentlich schon mitnehmen. So hätten wir unsere Peru-Radeletappe ganz gerne in Trujillo begonnen, knapp 600 Kilometer nördlich der Hauptstadt gelegen. Aber mangels touristischer Bedeutung war ein Flug dorthin leider nicht zu kriegen, das heißt, keiner mit Gepäcklimit von über 20 kg. Das bringen unsere Iron Horses schon bald allein auf die Waage, und so ist halt mal wieder eine kleine Mietwagen-Runde angesagt. Unsere Räder und das meiste Gepäck können wir freundlicherweise im Hostal "Home Peru" in Lima-Miraflores deponieren, und bald braust unser kleiner Toyota, der sichtlich schon bessere Tage erlebt hat, leicht ächzend auf der Via Panam nach Norden.

Panamericana Norte

Der peruanische Straßenverkehr, das merken wir gleich, hat seine eigene Qualität. Selbst das rollende Material, das sie in México City und Panama fortschmeißen, würde hier noch als gepflegter, kaum benutzter Gebrauchtwagen durchgehen. Erst nach dreimaligem Hinschauen kann man oft erkennen, was das früher mal für ein Auto war, so oft wurde schon mit Spachtelmasse und Fremdteilen daran herumgebastelt. Es gibt auch das Modell "reines Fahrgestell mit Motor und Küchenstuhl", Reifenprofil ist völliger Luxus und LKWs, egal wie schwächlich sie sind, haben grundsätzlich noch mindestens einen Anhänger, sind fünf Meter hoch beladen und obendrauf sitzen noch zehn Fahrgäste. Trujillo erreichen wir erst nach Einbruch der Dunkelheit, und auf den letzten Kilometern wird's besonders interessant: Alle Laster haben vorne einen wahren Christbaum aus wenigstens zehn Mega-Halogenscheinwerfern, hinten dann ein (1) Rücklicht von der Sorte, wie sie in Alemania Fahrräder der 50er-Jahre zierten. Und im Stadtverkehr, der zu 90% aus leeren Taxis besteht, verschenken sie keinen Zentimeter. Da wird gehupt und draufgehalten, Fußgänger haben sich mit Hechtsprüngen zu retten, und parkende Autos an den Gehsteigrändern sieht man praktisch gar nicht. Langsam wird uns auch klar, warum die Autovermieterin uns dreimal so inständig gebeten hat, ja nur Hotels mit Garage zu nehmen, stets das Radio-Bedienteil abzuziehen, die Alarmanlage scharfzumachen und warum alle Radkappen mit einem Spezialschlüssel abgesichert sind.

Mal abgesehen von seinem Verkehrschaos ist Trujillo eine schöne Stadt mit viel kolonialspanischer Architektur. Die bunten Häuser um die Plaza Central haben interessante Holzbalkone und tolle schmiedeeiserne Gitter, und nahebei liegt die Lehmziegelstadt Chan Chan, gegen 1000 n. Chr. Hauptsitz der Chimu, einer der Vorgängerkulturen des Inkareichs. Trujillo besitzt auch, so entnehmen wir dem Reiseführer, ein warmes, angenehmes Küstenklima. Davon merken wir jedoch nicht viel, denn wir sind hier im September, mithin also im südamerikanischen Winter, und da liegt der Küstenstreifen bis weit südlich von Lima unter der Garúa, einer grauen, tristen Nebelsuppe. Diese ist auf den Humboldtstrom zurückzuführen, dessen kalte Meeresströmung die warme Luft abkühlt und zu Nebel kondensiert. Gemeinerweise reicht die Luftfeuchtigkeit aber nur alle paar Jahre mal für ein paar echte Regentropfen, und so erstreckt sich an der peruanischen Küste entlang eine wirklich extreme Wüste, die als eine der trockensten weltweit gilt. Dabei ist es kalt, entsprechend unserem Novemberwetter, Faserpelz ist angesagt.

Trujillo

Rein optisch wäre die Küstenwüste eigentlich ganz interessant. Da gibt es Abschnitte mit schroffen Bergformationen, in die die Panamericana sich regelrecht hineinwindet, dann wieder riesige Sandflächen mit perfekten Sicheldünen, die auch in der Sahara nicht schöner sein könnten. Alle 50, 60 Kilometer taucht die Straße in eine Flussoase hinab, geschaffen oft von winzigen Wasserläufen, die weit hinten in den Anden entspringen. Und schon ist alles prächtig grün; bereits die Indianer aus frühgeschichtlichen Zeiten wussten das willkommene Nass zu schätzen und legten Bewässerungssysteme an. Hier wächst alles von Obst, Gemüse und Zuckerrohr bis hin zu Baumwolle und weiten Blumenfeldern. Doch selbst die ödesten Wüstenflecken werden manchmal noch genützt: Oft sieht man, weit draußen im grauen Dunst, unendlich lange, gewächshausartige Zeltdächer - das sind Einfachst-Hühnerfarmen, Legebatterien gigantischen Ausmaßes für den ständigen Hunger der Peruaner auf Eier und ein einigermaßen preisgünstiges Fleischgericht. So liegt über dem Küstenstrich häufig ein ätzender Geruch von Hühnermist, gemischt mit dem Gestank der Fischmehlfabriken und der petrochemischen Industrie um die Stadt Chimbote. Und um alle Städte und Dörfer herum gibt es viel Armut, Hütten aus Plastikplanen und Stofffetzen, umgeben von jeder Menge Müll.

Wohl kaum ein Landstrich der gesamten Panamericana schlägt dermaßen aufs Gemüt wie die peruanische Küstenwüste zu Zeiten der Garúa. Doch schon, wenn die Straße sich mal auf fünf- oder sechshundert Höhenmeter hinaufschraubt, wird es besser, die Sonne bricht sich ihre Bahn durch die Nebelsuppe und lässt erahnen, dass Nordperu doch wesentlich Attraktiveres zu bieten hat. Keine Frage, da muss man hinein in die Berge. So nehmen wir ab Pativilca die gute Asphaltstraße über die Cordillera Negra (die erste Andenkette) hinauf zum Conococha-Pass. Innerhalb von nur 120 Kilometern legen wir 4000 Höhenmeter zurück. Oben stellen wir beim Aussteigen fest, dass wir selbst nach wenigen Schritten schnaufen müssen wie ausgemusterte Dampflokomotiven. Doch sicher tragen auch die Sechstausender der Cordillera Blanca (der zweiten und wesentlich höheren Andenkette), die sich wie eine Theaterkulisse plötzlich ins Bild schieben, einiges dazu bei, dass es einem den Atem verschlägt. Und die weiten, sonnigen Hochflächen des Santa-Tals mit ihrer kargen Puna-Vegetation, bestehend aus hartem Gras und Polsterpflanzen, sind einfach bezaubernd anzuschauen. Weit verstreut grast Vieh, hin und wieder sieht man in der Unendlichkeit eine oder zwei Indianer-Lehmhütten, manchmal zweigt eine staubige Piste von der Hauptstraße ab, die ans Ende der Welt zu führen scheint.

Huaraz

Dann senkt sich die Straße hinab nach Huaraz, das nur noch auf gut 3000 Metern liegt. Die Dörfer, die wir unterwegs passieren, gehören einer völlig anderen Welt an als die Küstenregion unten an der Panamericana. Indigeñas in ihren farbenfrohen Trachten bestimmen das Bild, tragen mit Würde ihre fetzigen Bowlerhüte, und manche treiben eine kleine gemischte Herde vor sich her, bestehend meistens aus ein paar Schafen, einem dürren Kühlein und zwei, drei schwarzen Schweinchen. Dazu drehen sie meist mit unendlicher Ruhe ihre Handspindel - Bilder wie aus biblischen Zeiten. Fast glauben wir, aus dem Bett gefallen und plötzlich in einem Kulturfilm aufgewacht zu sein.

Auch in Huaraz, Großstadt immerhin und peruanisches Zentrum aller Kletterer, Trekker, Mountainbiker, Rafter und so weiter, prägen die bunten Indigeñas das Straßenbild. Unbeweglich sitzen sie vom frühen Morgen bis in die Nacht auf einem Wolltuch unter den Arkaden der Avenida Luzuringa oder auf dem Markt, vor sich ein kleines Häufchen mit Kartoffeln, ein paar Wachteleier oder ein Sortiment gestrickter Mützen. Und wir, wir machen nach Bezug unseres Hotelzimmers zuerst mal eine zehnminütige Verschnaufpause. Allein das Hochtragen unserer Taschen in den ersten Stock hat uns in dieser Hochlage völlig geplättet; am Abend plagt uns dann kräftiges Kopfweh und leichtes Nasenbluten. Bevor wir per Rad an die Viertausender-Pässe gehen, brauchen wir erstmal eine langsame Höhenakklimatisation, soviel ist klar. Und in der Zahnpastatube herrscht Überdruck; mit einem vernehmbaren "Plopp" gibt sie beim Öffnen gleich ein Achtel ihrer Füllung ab. Auch der Frühstücksjoghurt verhält sich ähnlich wenig kundenfreundlich, wurde wohl im Flachland hergestellt.

Huascarán   Urheber: Patricio Mena Vásconez
© siehe hier

Der wohl tollste aller peruanischen Anden-Eisriesen ist der Huascarán, ungeheuer beeindruckend mit seinem Doppelgipfel, gleichzeitig mit 6768 Metern Höhe höchster Tropen-Schneeberg der Welt, ein Wahnsinnsberg! Die Gletscherabbrüche zwischen den beiden Gipfeln lassen das Auge fast nicht mehr los. Er ist berechtigterweise von einem Nationalpark umgeben, und dort wollen wir ein bisschen wandern. Von Yungay aus führt eine schlechte Piste hinauf auf 4000 Meter zu den Lagunas Llanganuco, zwei wunderschönen, türkisblauen Bergseen. Wir fahren mit dem Sammeltaxi hinauf, 30 Kilometer sind es von unten. Nach unzähligen Fotos und ausgedehnter Wanderung (im Rahmen unserer Möglichkeiten, das heißt heute bergab) stellt sich das Problem, wie wir wieder hinab nach Yungay kommen. Wenig Verkehr ist auf der Piste, trotzdem probieren wir es mal mit Autostopp. Schon nach kurzer Zeit hält ein Toyota Hiace, Kleinbus, VW-Bus-Größe, in Deutschland für neun Personen zugelassen. Drinnen sitzt ein freundlicher Lehrer mit seinen 35 (!) Schülern, davon zehn auf dem Dachträger. Sie machen heute einen Schulausflug und hätten uns glatt noch mitgenommen. Aber nach reiflichem Überlegen entscheiden wir uns doch für die nächste Gelegenheit. Eine Viertelstunde später erscheint dann ein Touristenbus, wo es wenigstens auf dem Fußboden noch einen Sitzplatz gibt.

Lagunas Llanganuco

Mit bombastischen Ausblicken auf das Bergpanorama geht so ein wunderschöner Tag zu Ende und gleichzeitig unser erstes peruanisches Andenerlebnis. Das macht Appetit auf mehr, doch zunächst müssen wir mal zurück ins graue, triste Lima. In den paar Tagen, die wir dort verbringen, reißt die Garúa nur wenige Male stundenweise auf. Wir setzen unsere Fahrräder zusammen, die den Transport hierher ausnahmsweise fast unbeschädigt überstanden haben, und nutzen einen der seltenen sonnigen Momente für eine kleine Probefahrt durch Miraflores und an der Steilküste entlang. Natürlich darf auch ein Besuch auf der Plaza de Armas nicht fehlen, doch angesichts der grauen Suppe und der Tatsache, dass Limas Innenstadt als sehr gefährliches Pflaster für Touristen gilt, kommt da wenig Freude auf. Im übrigen haben wir hier ständig Kopfweh und heuschnupfenartige Triefnasen, bedingt durch die eklatante Luftverschmutzung. Lima macht einfach keinen Spaß, wird Zeit, dass wir weiterkommen.

Das einzige Highlight Limas ist unser Hostel "Home Peru". Damit haben wir wirklich einen guten Griff getan! Das Hostal ist eine zwar etwas abgewohnte, aber traumhafte Art-Deco-Villa aus den 20er-Jahren, mit neun Schlafzimmern, vielen antiken Möbeln, wunderschönem Innenhof, Garten, Kochgelegenheit und freiem Internetzugang. Wir wohnen dort sehr kommod für nur 24 US$ im Doppelzimmer mit eigenem Bad und gutem Frühstück - billiger kann man in Miraflores nicht unterkommen!

Hostal "Home Peru"

Ein weiteres Feature ist der gigantische Supermarkt nur einen Block weiter mit seinem frischen Brot, leckerem Salatbuffet, einem Sortiment feiner Nudelsoßen und frisch geriebenem Parmesan. Wer bei dieser Konstellation nicht selber kocht, dem ist wirklich nicht zu helfen! Und abends trifft sich die internationale Backpacker-Gemeinde am großen Tisch in der Veranda zum Cerveza Cristal oder zum chilenischen Rotwein. Interessante Typen sind da dabei, die beiden Belgier aus Brüssel beispielsweise, die nach zehn Jahren harter Arbeit und ohne Urlaub ihren Zeitungskiosk verkauft haben und jetzt ein halbes Jahr durch Südamerika touren; Conny aus Holland, die ein paar Monate in einem Kinderhilfsprojekt in Huaraz mitgearbeitet hat; oder Adam aus Miami, der mit seinem Kleinsegelboot auf Kurs nach Chile ist, dabei Cuba mit einem illegal eingeschmuggelten Moped bereist hat und immer wieder jobbt, um Proviant und Hafengebühren zahlen zu können. Home Peru, der Name ist wirklich passend; da bieten Ricardo, Giovanna, Amilcar und Janet einen Ort der Behaglichkeit im hektischen, stinkigen Lima - wir überlegen glatt, ob wir nicht doch vielleicht ein paar Tage anhängen und in einem der zahlreich angebotenen Sprachkurse ("Survival Spanish") unserer doch recht mäßigen Kommunikationsfähigkeit auf die Sprünge helfen sollen. Aber in sechs bis acht Wochen beginnt in den Anden die Regenzeit - also, weiter!

Wir verlassen Lima

Überraschend schnell sind wir dann mit dem Rad aus Lima draußen. Die breite Avenida Benavides bringt uns auf die Panamericana Sur, die sich als Stadtautobahn mit schönem Seitenstreifen polizeikontrolliert und eingezäunt durch die müllübersäten Slums nach Süden schneidet. Industriebetriebe säumen unseren Weg; draußen beim Valle Lurin dann, kaum 30 Kilometer südlich der Stadt, sind wir bereits im Landwirtschaftsgürtel. Hier hat man der Wüste Erdbeerfelder und Tomatenplantagen abgerungen, später fahren wir ewig entlang einer riesigen Düne, rechts in einiger Entfernung das Meer. Zahlreiche Einfach-Badeorte locken mit günstigen Nebensaison-Preisen; jetzt in der Garúa-Zeit sind sie verwaist und wirken fast so trist wie Lima. Erfreulicherweise können wir aber feststellen, dass die motorisierten Verkehrsteilnehmer außerhalb der peruanischen Städte eine durchaus radlerfreundliche Fahrweise haben. Selbst die Laster und Busse lassen genügend Platz, sodass wir den etwas holperigen Seitenstreifen praktisch nicht benutzen müssen. Es sind also nur die Taxi-Piraten, die es zu fürchten gilt - und den Gegenwind! Der bläst ab Mittag kräftig von Süden, und jeder südwärts radelnde Panamericana-Biker tut gut daran, spätestens so gegen zwei an seinem Tagesziel anzukommen.

Am ersten Peru-Radeltag lassen wir es in Mala gut sein; knapp 90 Kilometer reichen für heute. In den nächsten Tagen wird das Angebot an Übernachtungsmöglichkeiten unsere Etappenlängen bestimmen; die offensichtlich weitverbreitete Armut reizt uns nicht zum Zelten, noch nicht mal im Schutz geschlossener Ortschaften.

Kleinstadtszene (San Vicente de Cañete)

Zwar sind die Leute immer freundlich, wenn auch auf wesentlich zurückhaltendere Art als in Costa Rica oder Panama. Aber von ihrer Alltagswelt sind wir beiden Pedal-Gringos doch Lichtjahre entfernt. Das wird besonders deutlich, wenn man sich in einem Restaurant zum Abendessen niederlässt, zum Beispiel in Cañete. Zuerst kommt die Suppe; sie enthält ein paar Gemüsebrocken, dazu ein hautig-knochiges Fleischstück. Dann, nächster Gang: Gebratener Reis mit Paprikastreifen und Bohnen, Fleisch wie gehabt. Die Portion reicht für eine ganze Maurerkolonne. Zwanzig Augenpaare starren ungläubig, wenn man nicht alles aufisst. Jeder Platz ist besetzt hier, im Fernsehen läuft Fußball (Cuzco ist - Sensation! - im Nissan-Südamerika-Cup gegen eine argentinische Spitzenmannschaft im Endspiel). Außer uns isst fast keiner was,  jeweils fünf bis sechs Mann halten sich an einer Flasche Cola fest. Dann werden unsere Reste abgetragen - gleich verkrümeln sich einige diskret in der Küche und kommen mit kleinen Tüten wieder heraus, die sie vorher noch nicht bei sich hatten. Und Bier trinkt hier außer uns fast niemand. Auf unsere Frage nach einem solchen holt die Kellnerin eine Flasche Cuzqueña von oben aus dem Regal, staubt sie sorgfältig ab und legt sie kurz ins Eisfach. Später im Internetcafé (das gibt es auch in Peru mittlerweile fast an jeder Ecke) schauen uns zehn Kinder-Kiebitze über die Schultern und bewundern die bunten Bilder. Und am nächsten Morgen, ich bin gerade im Bäckerladen, bildet sich eine kleine Traube von Schülern um Sybille und die Fahrräder. "Mira", sagt einer sachkundig zu seinem Kumpel, "un bicicleta professional". Was, wenn wir ihm jetzt erklären müssten, dass dieses Bicicleta professional mittlerweile über 100.000 Kilometer drauf hat und dass einige seiner wesentlichen Teile vom Sperrmüll stammen? Peru, so faszinierend dieses Land ist, macht manchmal ein bisschen ratlos und auch verlegen.

Panamericana Sur

So arbeiten wir uns langsam vorwärts nach Süden. Teilweise sind auch einige ordentliche Anstiege zu bewältigen, wenn die Panamericana eine Landzunge abschneidet und sich hoch hinauf in die bröseligen, sandigen Hügel schwingt. Am späten Vormittag kommt jetzt öfter die Sonne raus und verdrängt den Nebel, da macht die Fahrt gleich doppelt Spaß. An einigen Tagen können wir gar gleich morgens im kurzen Trikot losradeln; daran wäre in Lima nicht zu denken gewesen. Je weiter südlich wir kommen, je weiter weg von der Küste (und je höher hinauf), desto frühlingshafter wird es. Wie erwähnt: Dass in Trujillo immerwährender Frühling herrsche, können wir aus eigener Erfahrung nicht bestätigen; für uns beginnt der Frühling in Pisco.

Pisco, der Name hat Klang in Peru, in ganz Südamerika (und weltweit). Pisco ist ein Traubenschnaps (ca. 43% Vol.), benannt nach dieser Stadt, in der er kreiert wurde, und vergleichbar etwa mit einem guten Grappa. Und er ist Hauptbestandteil des peruanischen Nationalgetränks Pisco Sour, einem Cocktail, zu dem auch noch Limonensaft, Eiweiß, Angostura, gestoßenes Eis und Zimt gehören.

Bereits im 16. Jahrhundert hatten die Spanier erkannt, dass in den Flussoasen von Perus Küstenwüste ideale Weinanbau-Voraussetzungen herrschen. Die eingeführten Quebranta-Reben von den Kanarischen Inseln entwickelten sich jedenfalls so gut, dass Spanien bereits 1629 ein Embargo über peruanische Weinprodukte verhängen musste, um den eigenen Weinanbau zu schützen. Auch heute noch wird in Pisco und in den umliegenden Oasen Wein angebaut und nach traditionellen Methoden Schnaps produziert. Das angenehm verschlafene Städtchen mit seinem alten kolonialen Viertel und der verträumten Plaza de Armas ist für uns einer der nettesten Orte Perus.

Pisco Vor Ica

Zentrum des peruanischen Weinbaus jedoch ist heute die Stadt Ica, die wir in einer langen, gegenwindträchtigen, zum ersten Mal schon ab frühmorgens völlig nebelfreien und somit entsprechend heißen Etappe am frühen Nachmittag mit hängender Zunge erreichen. Ica liegt einige Kilometer entfernt vom Meer in rund 400 Metern Höhe in einer weiten, sandigen Senke, wo dank Bewässerung auch Oliven, Spargel, Artischocken und andere leckere Dinge wachsen. Wunderschön ist es, in die Oase Ica einzutauchen; plötzlich säumen turmhohe, uralte Benjaminbäume die Straße und bilden mit ihrem satten Dunkelgrün einen fantastischen Kontrast zur gleißenden Härte der Wüste. Links und rechts sieht man bald die Weingüter liegen, Bodegas genannt, die man oft auch besichtigen kann. Wir schauen mal bei Vista Alegre hinein, das als älteste noch existierende Bodega Perus gilt, und kriegen gleich eine sachkundige Exklusiv-2-Personen-Führung arrangiert.

Es ist schon beeindruckend, die ehrwürdigen Hallen einer Kellerei und Branntweinfabrik zu besichtigen! 1847 wurde Vista Alegre von der italienischen Familie Picasso gegründet und ist auch heute noch in Familienbesitz. Sämtliche Gerätschaften mussten damals zerlegt von Europa hierhergeschafft werden, per Großsegler um Kap Hoorn. Die bis zu 18.000 Liter fassenden Eichenfässer stammen aus Kroatien, die Brennkessel und Maischebehälter aus Piemont und aus der Schweiz und die Pressen aus Modena. Hergestellt wird hier heute Perus meistgetrunkener Pisco, dazu eine Art Cognac, Vermouth und eine Menge unterschiedlicher Weinsorten von Muskateller über Sauvignon bis Merlot, die für unseren Geschmack aber alle zu süß oder zu schwer sind. Und so gibt es heute Abend, Vista Alegre mag's uns verzeihen, zu den im behaglichen Hotelzimmer auf dem Gaskocher selbstgekochten Tomaten-Thunfisch-Rigatoni den guten Billig-Rotwein aus Chile Marke Gato Negro ("Schwarze Katz"). Der hält zwar keinen Vergleich aus zu einem Besigheimer Felsengarten Trollinger mit Lemberger, ist aber von Bukett, Aroma und Preis-Leistungs-Verhältnis her durchaus etwa so gut wie der doch ganz passable Rioja von ALDI.

Wenn man schon in Ica ist, muss man auch nach Huacachina hinausfahren. Die nur sieben Kilometer entfernte Oase mit ihrer geheimnisvoll-gründunklen Lagune inmitten riesiger Wanderdünen soll laut Reiseführer einer der nettesten Orte Perus zum Entspannen sein, und das stimmt. Hohe Dattelpalmen säumen den See und erzeugen eine Stimmung wie in einem arabischen Märchen, gepaart mit einem morbiden Charme, weil eigentlich fast sicher ist, dass der Sand das kleine Idyll irgendwann mal verschlucken wird. Wir steigen auf eine der Dünen hinauf (danach haben wir noch gut zehn Tage puderfeinen Sand in jeder Ritze unserer Wanderschuhe), dann trinken wir noch ein Bierchen auf der Terrasse des altehrwürdigen Grand Hotels Mossone.

Huacachina

Doch fast noch beeindruckender als ganz Huacachina ist auf der Rückfahrt nach Ica das Gespräch mit dem Taxifahrer, der uns an der Zufahrtsstraße aufgeklaubt hat. Der hält uns nämlich einen aufschlussreichen Vortrag über die Schwierigkeit seines Berufsstands: Rund 7.000 Tuktuks soll es in Ica geben - das sind die dreirädrigen Motorradtaxis, die überall herumfetzen, meistens Fabrikat Bajaj, made in India, alle mit klangvollen Namen versehen. Dazu gibt es noch ca. 2.000 andere Taxis, kleine Daewoos in der Regel. Damit kommt im Schnitt auf knapp 20 Einwohner ein Taxi. Kein Wunder, dass man als promenierender Gringo auf der Straße immer gleich einen Effekt auslöst, als werfe man einen einzigen Brotbrocken in einen Teich mit 1000 Karpfen. Totales Verkehrschaos ist die Folge, Cristo es mi amor kämpft gegen die "legendäre Antilope" und gegen "Tod meinen Feinden", um ja das Geschäft zu machen. Einer hat sogar treuherzig "4WD" auf seine Dreiradkutsche geschrieben.

Da ist doch oft jeder Nebenverdienst recht. Aber es stehen uns schon leicht die Haare zu Berge, als uns der Taxista auf der Rückfahrt nach Ica fragt, ob wir, da schließlich kinderlos (die Frage nach der Familiengröße ist in Lateinamerika fast immer der Beginn jeder Unterhaltung), nicht ein Kleinkind kaufen wollten, Geschlecht frei wählbar, lieferbar in spätestens 8 Tagen. Das ist ein bemerkenswertes Angebot von einem, dessen ganzes Auto mit selbstgeschriebenen Bibelsprüchen und Madonnenbildchen vollhängt, wo doch in der christlichen Kirche die Familie über alles zählt. Auf jeden Fall radeln wir am nächsten Morgen gerne weiter, ganz zufrieden auch weiterhin zu zweit. In Peru braucht man mitunter gute Nerven!

Baumwollfelder und kleine Siedlungen säumen auf den nächsten 30 Kilometern unseren Weg, dann haben wir die Oase Ica hinter uns; die Panamericana führt bei Ocucaje über ein paar Kurven auf eine höhere Mesa und wieder in die Wüste hinaus. Fast 50 Kilometer geht es dann durch menschenleeres Land geradeaus, aber wir kommen gut vorwärts, sogar mit leichtem Rückenwind. Und je spärlicher die Besiedlung wird, desto mehr sind wir in jedem der winzigen Pueblos die Attraktion des Jahres.

Im Dorfladen

Nach fetziger, serpentinenreicher Abfahrt durch beeindruckende Bergformationen erreichen wir zum Beispiel am frühen Nachmittag Rio Grande. Vor dem kleinen Laden lassen wir uns ein Bier und ein paar Cracker schmecken, dabei werden wir von der ganzen Dorfjugend umlagert. Mindestens 20 Jungs zwischen zwei und sechzehn studieren mit zoologischem Interesse jedwede unserer Handbewegungen. Alle sind sehr freundlich, nett und überhaupt nicht aufdringlich, wie früher immer befürchtet. Natürlich wollen alle wissen, wo wir herkommen, wie spät es gerade in Deutschland sei und was das für seltsame Vorrichtungen an unseren Fahrrädern sind (Tacho und Bimmel). Letztere wird gleich einem ausführlichen Dauertest unterzogen, wir geben eine Runde Cracker aus, ein tolles Foto wird noch gemacht. Der Jüngste will testen, ob mein Bart auch echt ist, die Obsthändlerin nebenan muss herzlich lachen, als wir vier Mandarinen kaufen wollen, wo doch das Kilo gerade 20 Eurocent kostet. Dann geht es unter frohem Winken (Goodbye, Mister, Suerte) in die nächste Steigung.

Spätnachmittags finden wir in Palpa dank einem deutschen und einem Schweizer Archäologen, die wir zufällig auf der Straße treffen, eine rustikale, aber durchaus pittoreske Unterkunft auf einer Orangen-Finca. Dann kaufen wir im Dorf sämtlichen Pfirsichsaft und Sprudel auf, während Hunderte unserem Shopping mit offenem Mund beiwohnen. Den Abend dann verbringen wir angenehm bei Bisteck apanada im Stammrestaurant der Archäologen (übrigens zum Teil aus Göppingen, Heidelberg und anderen vertrauten Gefilden), die hier, zusammen mit einigen Geologen, im früheren Siedlungsgebiet der Paracas- und Nazca-Kultur forschen. Sie sollen unter anderem im Auftrag der peruanischen Regierung in Palpa ein Museum einrichten, das kurz vor der Eröffnung steht. Und so werden wir sanft, aber nachdrücklich daran erinnert, dass wir uns langsam einem der größten und geheimnisvollsten Mysterien der Menschheitsgeschichte  nähern: den berühmten Geoglyphen von Nazca.

Vor Nazca

Weltbekannt wurden die Nazca-Linien in den 70er-Jahren durch einen gewissen Erich von Däniken, der hier einen gigantischen Flugplatz für Außerirdische vermutete. Tatsächlich zeigt eine der älteren figürlichen Darstellungen mit ihrem kugelförmigen Kopf und zwei riesigen Glubschaugen gewisse Ähnlichkeiten mit einem Marsmensch von der Sorte, mit der sich schon Donald Duck und Daniel Düsentrieb in ihren Disney-Comics auseinandersetzen mussten. Zudem deutet dieser "Astronaut" mit einer Hand gen Himmel und mit der anderen zur Erde, als wolle er ein UFO zur Landung einweisen.

Die Figuren selbst waren zunächst wegen der Verwitterung überhaupt nicht sichtbar, als Piloten der peruanischen Pionier-Fluggesellschaft Faucett in den 20er-Jahren von kilometerlangen Linien, Dreiecken und Trapezen berichteten. Diese hielt man zunächst für Bewässerungssysteme oder Inkastraßen, was die Neugier von Dr. Paul Kosok, Professor an der Long Island University in New York, erweckte. Kosok, seines Zeichens Spezialist für Inka-Wasserleitungen und -kanäle, machte sich 1939 zu genaueren Erkundungen per Flugzeug auf und erkannte schnell, dass es mit den geometrischen Formen eine andere Bewandtnis haben müsse; zudem fand er bei genauerem Hinsehen in dieses Liniensystem Tier-, Menschen- und Pflanzenbilder eingebettet von so enormer Größe, dass sie vom Boden aus als solche überhaupt nicht erkennbar waren.

Daraufhin wurden die Nazca-Linien das Lebenswerk von Maria Reiche. Diese, 1903 in Dresden geboren, war 1932 nach Peru gekommen, als Geographin und Übersetzerin tätig und 1946 Paul Kosok begegnet. Fortan war sie von dessen aufgezeichneten Liniensystemen derart fasziniert, dass sie in der Hacienda San Pablo Quartier bezog und die restlichen 52 Jahre ihres Lebens (Reiche starb 1998 in Lima) ausschließlich der Erforschung der Nazca-Linien widmete.

Der Astronaut Maria Reiche

Zuerst hielten die Peruaner Maria Reiche für verrückt. Sie war oft tagelang mit Maßband, Bockleiter und Kehrbesen in der Wüste unterwegs und befreite die Furchen, die in der Regel nur daumentief sind, von dem oxydierten grauen Deckgestein. Dabei entdeckte sie auch den Großteil der faszinierenden Tierfiguren, die meistens aus einer einzigen, viele Kilometer langen Linie bestehen und kunstsinnig sowie mit hoher Maßgenauigkeit konstruiert wurden. Exakt dieselben Figuren finden sich auch auf den Keramikgefäßen der Nazca-Kultur, entstanden zwischen 200 v. und 800 n. Christi. Wie und warum wurden diese Figuren dermaßen groß ins Wüstengestein übertragen? Allein der Wal ist 63 Meter lang, der Schnabel des sogenannten Guanovogels misst gar 300 Meter.

Längst waren sich Reiche und Kosok sicher, dass die Nazca-Geoglyphen ein gigantisches Astronomiebuch darstellen. Man fand etliche Linien, die kalendertechnisch nutzbar sind, sodass beispielsweise die Sonne an bestimmten Tagen im Jahr an deren einem Ende auf- und am anderen Ende untergeht. Andere scheinen mit dem Beginn der Regenzeit zusammenzuhängen, die das lebensspendende Wasser nur für wenige Wochen aus den Anden heranführt. Und die 70 Meter große Figur des Affen ist derart gekonnt in ein geometrisches Liniensystem eingebettet, dass dessen Konstruktion ohne Kenntnis eines hochentwickelten Messsystems schlicht nicht möglich gewesen wäre.

Der Colibri

Unweit von Palpa kommen wir durch San Pablo und sehen plötzlich linker Hand das Maria-Reiche-Museum direkt an der Panamericana liegen. Keine Frage, das müssen wir uns anschauen - eigentlich hätten wir dieses Museum erst 25 Kilometer weiter in Nazca vermutet. Die Fahrräder können wir sicher in der Pergola der früheren Orangen-Finca parken, in der die Forscherin nur einen einzigen, kleinen Raum mit nacktem Erdboden bewohnte, der ihr als Schlafquartier, Arbeitszimmer, Archiv und Kochstelle diente. Überall an den Wänden hängen aufgerollte Planzeichnungen, und im Garten steht noch der Original-VW-Bus von ca.1960, den Reiche aus Alemania kommen ließ und in dem eine von ihr privat finanzierte Wachmannschaft patroullierte, um die Nazca-Linien vor Beschädigung durch Vandalen und Ignoranten auf Motorrädern und in Geländewagen zu schützen, die sich oft einen Spaß daraus machten, die Tierfiguren nachzufahren. Der VW-Bus läuft heute nicht mehr, aber in ihm pennt noch jede Nacht der Museumswächter auf einer durchgelegenen Matratze. Über 40 Jahre Dauereinsatz in unterschiedlichster Form - schon ein Wertprodukt, so ein VW-Bulli!

Maria-Reiche-Museum

Dann pedalen wir weiter; es geht hinauf zu einer Wüsten-Hochfläche, tischeben und weitläufig, und dort sind sie, die berühmten Nazca-Linien. Als Radler, Fußgänger oder Autofahrer wäre man darauf aber nie gekommen, denn von der Straße aus sieht man absolut überhaupt nichts. Von dem kleinen eisernen Aussichtsturm, den Reiche 1976 errichten ließ und den wir nach drei Kilometern erreichen, kann man immerhin zwei kleinere Figuren erkennen, den Huarango-Baum und die Hände, aber auch dazu braucht es Fantasie. Keine Frage also, da muss man in die Luft und einen Platz in einer der Cessnas buchen, die bald wie Fliegen über dem Gelände kreisen. Wir setzen das mal auf morgen an, dann geht es zügig weiter, hinab in die Oase Nazca. Schnell ist ein preiswertes Hotelzimmer gefunden und der Rundflug gebucht - und abends finden wir uns im Maria-Reiche-Planetarium wieder, wo ein findiger Astronom mittels selbstgeätzter Glaszylinder die Sternbilder der südlichen Hemisphäre mit den Nazca-Linien in Deckung bringt, zum Teil mit verblüffender Genauigkeit. Diese Linien faszinieren uns immer mehr.

Der nächste Morgen sieht mich schon bald im Fliegerlein sitzen, zusammen mit zwei Brasilianern und dem dicken Pilot Luis (Sybille bleibt mit Rücksicht auf ihre zarten Magennerven lieber erdverbunden und begnügt sich mit einem Nazca-Video). Der Propeller läuft an, wir rumpeln über das holperige Rollfeld, dann zieht Luis die Kiste mit kühnem Schwung über die Wüste hinaus. Und da liegen sie alle unter uns, die Figuren, Hund, Spinne, Affe, Condor, Colibri, harpunierter Wal, Hände, Astronaut und so weiter, toller, als man sich das je vorstellen könnte. Luis bringt noch die Theorie aufs Tapet, dass die Bilder rituelle Pfade darstellten, deren Konstruktionslinien zu bestimmten Anlässen von Schamanen, gefolgt von einer riesigen Menschenmenge, abgegangen wurden. "Warum sonst sind die meisten Figuren nicht in sich geschlossen und haben einen Ein- und einen Ausgang?" fragt Luis. "Willst du's nochmal sehen?" Klar, jederzeit - brrruumm, Kurve links, Affe von Norden, Colibri rechts oben, fehlt nur noch ein Looping. Die Brasilianer im Fond entledigen sich bereits stöhnend ihres Frühstücks, aber ich könnte mir das stundenlang ansehen. Für die Theorie mit den rituellen Pfaden spricht auch, dass beispielsweise der spiralenförmige Affenschwanz längst nicht so sauber konstruiert zu sein scheint wie etwa der Condor, fast, als wäre er von vielen Füßen ausgelatscht. Und dann gibt es noch die Theorie, dass die Nazcas bei der Erstellung ihrer riesigen Wüstenzeichnungen nur deshalb so genau arbeiten konnten, weil sie die Fähigkeit zum Fliegen besaßen. Warmluftballonähnliche Darstellungen finden sich auch auf manchen Keramiken. Der Forscher Jim Woodman baute dazu 1975 eigens den Ballon nach, den ein brasilianischer Jesuitenpater 1709 gezeichnet hatte, und erreichte damit eine Steighöhe von 130 Metern über der Wüste von Nazca.

Pilot Luis

Tja, Nazca ist ein Weltwunder, ein absolutes Highlight für jeden Panamericanafahrer. Und einen Warmluftballon könnten auch wir jetzt brauchen, denn hier verlassen wir für einige Zeit unsere Leitlinie, die eigentliche Panamericana - Kurs Cuzco, hinein in die Anden. Innerhalb von knapp 100 Kilometern steigt die Carretera Peru 3 S von 600 auf 4300 Höhenmeter empor, praktisch ohne einmal abzusetzen. Dann geht es, nach kurzem Downhill in die Kleinstadt Puquio, gleich wieder hinauf und mehr als 100 Kilometer sehr hügelig in über 4000 Metern weiter durch nahezu unbesiedeltes Gebiet. Auf den 600 Kilometern von Nazca nach Cuzco sind gut und gerne 11.000 Höhenmeter zu überwinden.

Wir überlegen lange, wie wir diese Herausforderung angehen sollen. Zu gut erinnern wir uns noch an Kopfweh, Nasenbluten und nächtliche Atemnot in Huaraz, bedingt durch fehlende Höhenakklimatisation. Mit Soroche, der Höhenkrankheit, ist nicht zu spaßen: In schweren Fällen kann sie zu Bewusstlosigkeit, Lungenembolie oder Herzinfarkt führen; auch Menschen mit robuster Gesundheit und guter körperlicher Fitness sind dagegen nicht gefeit. Wir wissen auch, dass selbst der Extremradler Tilmann Waldthaler und seine Frau Renate genau auf dieser Strecke zwischen Negro Mayo und Abancay nach einer harten Nacht einen vorbeikommenden Laster anhalten mussten, um schwerere Gesundheitsschäden zu vermeiden. Ähnliches wollen wir lieber nicht riskieren - hier auf dieser Route ginge eine Höhengewöhnung praktisch nur, wenn wir so auf ca. 2500 Metern zwei Tage unser Zelt aufschlagen würden, nahezu abseits jeglicher Zivilisation und ohne gesicherte Wasser-Nachschubmöglichkeit.

So fällt uns die Entscheidung leicht, für die Überwindung der ersten 4000er-Hochebene motorisierte Hilfe anzuheuern. Dann können wir uns in Chalhuanca und Abancay zwischen 2500 und 2900 Metern langsam an die dünne Luft gewöhnen - von dort bis Cuzco und weiter zum Titicacasee wird es noch genügend Pässe mit Scheitelhöhen von bis zu 4300 Metern geben, an denen wir unsere Pedalkräfte messen können. Wir wenden uns also an eine der in Nazca zahlreichen Tourismus-Agenturen und vereinbaren dort mit dem sympatischen Fahrer Juan und seiner Frau Consuelo, dass sie uns für einen fairen Preis in ihrem robusten Toyota über die erste lange Scheitelstrecke transportieren.

Carretera Peru 3 S

Am nächsten Morgen werden unsere Drahtesel auf den Dachträger gehievt und mit einem endlos langen Seil verzurrt. Dann schraubt sich der Toyota auf guter Asphaltstraße in die wunderschöne, wüstenhafte Bergwelt hinein, vorbei am Cerro Blanco, der mit über 1000 Metern seine Umgebung überragt und als höchste Sanddüne der Welt gilt. Hier, so erzählt uns Juan, kann man mit seiner Agentur einen Sandboard-Kurs belegen, ähnlich wie Snowboarding in unseren heimischen Gefilden. Die Straße hat übrigens einen durchaus angenehmen Steigungsverlauf, geschätzte 4-5% meistens, gerade recht zum Radeln - schade, müssen wir unwillkürlich denken, aber das Sauerstoffproblem relativiert die Sache natürlich.

Sind wir anfangs nur durch Sand und Geröll aufgestiegen, so wird es oberhalb von 3000 Metern langsam immer grüner. Zunächst säumen vereinzelte schöne Kakteen unseren Weg, die uns angenehm an die Baja California erinnern; oben breitet sich dann eine spärliche Pflanzendecke aus dürrem Gestrüpp und büscheligem Ichu-Gras aus. Bald sehen wir zu unserer Freude die ersten Guanacos, eine zierliche, fast an Antilopen erinnernde Lamaart, und auf 4000 Metern Höhe erstreckt sich das Naturreservat Pampa Galeras, wo die lange Zeit vom Aussterben bedrohten Vicunas verbreitet sind. Wunderschön ist es hier oben, ähnlich wie oberhalb von Huaraz, nur die verschneiten 6000er fehlen. Die Passhöhe des 4390 Metern hohen Abra Condorcena übrigens ist, wie bei so vielen Andenpässen, praktisch überhaupt nicht zu bemerken - erst, als die Straße sich langsam wieder zu senken beginnt, registrieren wir, dass wir soeben den bislang höchsten Geländepunkt unseres Lebens überschritten haben. Und die Höhe macht, wie wir feststellen, selbst den beiden Peruanern zu schaffen. Consuelo nickt ständig ein; Juan muss gegen sein Kopfweh Tabletten nehmen.

Puquio, gelegen in einem ca. 3300 Metern hohen Tal, ist der einzige nennenswerte Ort zwischen Nazca und Abancay. Hier ist dank Bewässerung der Anbau von Gemüse möglich, das die hier lebenden Indigeñas auf beschwerlichen LKW-Fahrten hinab zum Markt nach Nazca schaffen. Das Städtchen wirkt sehr urtümlich und zivilisationsvergessen mit seinen staubigen Straßen und Adobehäusern - hier essen wir recht angenehm zu Mittag (Reis, Forelle, Cola und Sprudel), 9 US$ kostet es für vier Personen. Und über dem Tisch hängt ein gerahmtes Kalenderbild von der Brennerautobahn. Wie es das wohl ins hinterste Hinterperu verschlagen hat?

Lamas

Auf den nächsten 120 Kilometern über die ständig zwischen 4000 und 4300 Metern pendelnde Hochebene muss der Toyota alles geben. Er scheint, obwohl noch relativ neu, plötzlich keine Wurst mehr vom Teller zu ziehen, dazu qualmt und nagelt er wie ein Diesel. Die Landschaft aber ist von atemberaubender Schönheit. Lamas kreuzen die Straße, weit verstreut liegen tiefblaue Lagunen in der Pampa, in denen vereinzelt rosarote Flamingos stehen. Fast kein Verkehr ist auf der Straße, die immerhin die Hauptstrecke und kürzeste Verbindung zwischen Lima und Cuzco darstellt. Doch einmal kommen uns vier belgische Motorradfahrer entgegen - und, im Abstand von vielleicht 50 Kilometern, doch tatsächlich zwei Gepäckradler, davon ein Deutscher. Beide wirken völlig geplättet und bewegen sich nur im Zeitlupentempo vorwärts. Tja, unsere Entscheidung mit diesem "Lift" bereuen wir nicht.

Nach etlichen Stunden Fahrt senkt sich die Straße am Nachmittag über den Abra Huashuccasa in die spektakulären Schluchten des Rio Pachachaca hinab. Ab hier packen wir es wieder allein. Die Räder werden vom Dach gebunden, dann Abschied von Juan und Consuelo, die heute noch den ganzen Weg nach Nazca zurück fahren müssen. Wir jedoch mieten uns im etwas größeren Dorf Chalhuanca (2900 Meter) im "Hostal Plaza" ein (con bano privado, agua caliente las 24 horas), befreien uns gerade noch rechtzeitig unter der Dusche vom Shampoo, bevor das Wasser ausfällt, und gehen im einzigen einigermaßen Vertrauen erweckenden Restaurant etwas essen.

Hier im Hochland sind wir wieder, wie wir schon in Huaraz gemerkt haben, in einer völlig anderen Welt als drunten an der Küste. Es überwiegen rundum die indianischen Trachten, der Wirt jedoch trägt mit stolzgeschwellter Brust ein Trikot von Bayern München. Schon beim Einlaufen in dieser völlig untouristischen Gemeinde haben wir einen mittleren Bevölkerungsauflauf verursacht. "Hola, Gringo!" tönt es jetzt häufig vom Straßenrand, aber was eigentlich ein abwertendes Schimpfwort ist, wirkt hier durchaus nicht unfreundlich, die Leute lachen und winken dabei, und wenn man stehen bleibt, kommen sie her, möchten alles mögliche wissen und wünschen "Suerte" für die Weiterfahrt.

Am nächsten Morgen geht der Downhill weiter, 100 Kilometer folgen wir noch dem Lauf des Rio Pachachaca. Die Straße ist astrein asphaltiert, übrigens auf diesem Abschnitt erst seit etwa einem Jahr fertig - vorher gab es keine Allwetter-Direktverbindung zwischen Lima und Cuzco, Perus beiden wichtigsten Städten. "Wir danken Präsident Dr. Alejandro Toledo für diese schöne neue Straße" steht oft in großen Lettern an den Felsen und seitlichen Straßenbefestigungsmauern, Ausdruck der Freude der hiesigen Bevölkerung, die auf den Asphalt der schon lange trassierten Straße gut dreißig Jahre warten musste. Übrigens ist es auch noch gar nicht so lange her, dass hier die Terrororganisation "Leuchtender Pfad" ihr Unwesen trieb und Überfälle auf Reisende, selbst auf Linienbusse, an der Tagesordnung waren. Erst seit 1992 der Anführer und Gründer des Sendero luminoso, Abimael Guzman, und einige Jahre später sein Nachfolger verhaftet wurden und die Regierung Fujimori den Sendero luminoso zerschlagen konnte, gilt das Reisen durch die peruanischen Hochtäler wieder als sicher. Wir hatten unterwegs auch einige interessante Gespräche mit Menschen, die zu Zeiten des Terrors nach Lima geflüchtet waren und erst in den letzten drei, vier Jahren sich wieder in ihren Heimatdörfern anzusiedeln trauten. Kein Wunder, dass die Provinzen Ayacucho und Apurimac heute als die rückständigsten ganz Perus gelten.

Im Tal des Rio Pachachaca

Auf dem schönen Asphalt kommen wir recht gut vorwärts, 70 Kilometer haben wir bis Mittag schon zurückgelegt. Da leisten wir uns in einem einfachen Restaurant in Casinchihua eine gute Suppe und ein kühles Bier, wobei letzteres in den kleinen Hinterland-Dörfern schon fast einen Michelin-Stern verdient hätte. Meistens ist das Bier nämlich auf gut schwäbisch seichwarm, der oft vorhandene Kühlschrank wird wohl nur am Nationalfeiertag eingesteckt, sonst wird Strom gespart. Für die Qualität dieses Gasthauses spricht auch, dass die örtliche Polizei hier speist, und es ergibt sich ein ganz interessantes Gespräch über Peru, Alemania, den Sendero luminoso und die Bundesliga.

Kaum sind wir wieder auf der Straße, setzt ein kräftiger Talwind ein. Unglaublich, vorhin hatten wir in drei Stunden 70 Kilometer gepackt, und für die nächsten 30 Kilometer brauchen wir nochmals drei, in den kleinsten Gängen, obwohl bergab. Fast scheint es, als wolle der Wind uns wieder rückwärts auf den Abra Huashuccasa hinaufblasen. Endlich unten an der Brücke und damit an der tiefsten Stelle zeigt der Höhenmesser gerade noch 1900 Meter an. Oben waren wir schnatternd losgeradelt in nahezu allen Klamotten, die wir dabeihaben, hier stehen wir jetzt im Sommer-Outfit, die Vegetation ist (mitten in den Anden) als tropisch zu bezeichnen, Papageienschwärme fliegen kreischend aus den Bäumen auf. Kleine, fast wie Fruchtfliegen aussehende Stechmücken verpassen uns innerhalb von fünf Minuten mehr als 100 Stiche p/pax, an denen jeweils ein kleiner Blutstropfen hängt und die wir noch Wochen später spüren werden. Und auf der anderen Talseite geht es jetzt wieder 2100 Höhenmeter hinauf.

Der von links einmündende schlechte Feldweg ist, wie wir aus unserer Karte ersehen, die Hauptstraße von Ayacucho und Andahuaylas her. Er macht eindrucksvoll deutlich, wie auch unsere Straße noch vor zwei Jahren ausgesehen hat. Gott sei Dank dürfen wir auf Asphalt weiterradeln, 15 Kilometer und 600 Höhenmeter zunächst nach Abancay. Und dort, in der Hauptstadt der Provinz Apurimac, 2500 Meter über dem Meer, holen wir jetzt unsere nötige Höhenakklimatisation nach. Dazu checken wir für zwei Nächte im Hotel "Turistas" ein, dem besten Haus am Platze, 17 US$ pro Nacht. Es ist ein schönes, älteres Gebäude, aber der Betrieb ist doch schon ziemlich der rückständigsten Region Perus angemessen. Beim Schieben der Räder durch den Hotelflur hätte ich mir an einem vorstehenden Teppichnagel beinahe den einzigen Platten seit San Miguel / Mexico zugezogen, es gibt kein warmes Wasser, keinen Stadtplan und der Kellner bringt beim Abendessen, als wir mit einem 100-Soles-Schein (= ca. 30 US$) zahlen, nach einer halben Stunde und völlig verschwitzt das Wechselgeld in lauter Ein- und Zwei-Soles-Münzen zurück. Und im Supermarkt läuft der Regalauffüller durch den ganzen Laden hinter uns her, damit wir ja nix klauen.

Hotel "Turistas" Hotel "Turistas"

Dann gehen wir unseren ersten selbst erradelten Andenpass an, den Abra Socllaccasa. Steil führt die Straße aus der Stadt hinaus, anfangs müssen wir unser Bestes geben; anfeuernde Rufe ertönen wieder vom Straßenrand (Suerte, Gringito), und manche Kids machen sich einen Spaß daraus, ein Stückchen neben unseren bepackten Fuhrwerken herzurennen und ein bisschen anzuschieben. Dann geht die Steigung wesentlich zurück und wir gewinnen an Fahrt. Nach der Höhengewöhnung macht uns die dünne Luft jetzt nichts mehr aus. Zwar müssen wir kräftig schnaufen, aber wir kurbeln uns zügig nach oben, fast wie ein Diesel. Sehr nett ist es anzuschauen, wie alle Vegetationszonen der Anden an uns vorbeiziehen. Ganz unten auf 1900 Metern war der tropische Bewuchs, dann kommen wir in eine Region, die uns an die Landwirtschaft zu Hause erinnert: Bis auf über 3000 Meter sieht man kleine Getreidefelder, auf Steilterrassen wächst Gemüse, vor allem Erbsen und Kartoffeln, oft sieht man an den Hängen die bunt gekleideten Indigenas bei der Feldarbeit, ein zauberhaftes Bild. Dann kommt die Almregion, wo vor allem Viehzucht betrieben wird und kleine Kuh- und Ziegenherden grasen. Bei 3900 Metern bleibt der Höhenmesser stehen, selbst hier gibt es noch Kiefern und Eukalyptusbäume, dafür natürlich wieder kein Passschild. Dass wir am bisher höchsten Punkt unserer Radelkarriere angekommen sind, merken wir erst, als die Straße sich wieder nach unten senkt. Klapperkalt ist es jetzt wieder, das Winter-Outfit muss zum Einsatz kommen, dafür entschädigt aber der atemberaubende Blick auf den 6271 m hohen Nevado Salcantay, den ersten Schneeberg seit Huaraz.

Andenpässe ziehen sich

Wieder geht es hinab, mehr als 2000 Höhenmeter werden verheizt auf dem 50-Kilometer-Downhill ins Tal des Rio Apurimac. Fast wie eine Sisyphusarbeit kommt uns das Radeln in den Anden vor. Übrigens folgen wir hier fast exakt der alten Inkastraße, die sich von Cuzco bis Kolumbien und südlich bis Chile erstreckte. Diese Haupt-Andenstraße war seinerzeit 5200 Kilometer lang und sechs Meter breit und hatte unzählige Verzweigungen; das Straßensystem der Inkas übertraf das der Römer bei weitem. Flüsse wurden mittels Hängebrücken überquert, Bergrücken und Pässe per Treppe (die Inkas kannten ja bekanntlich das Rad nicht), und auf dieser Straße übermittelten Stafettenläufer, die so genannten Chasqui, wichtige Botschaften an einem Tag bis zu 250 Kilometer weit. Wir hingegen, unterwegs per Bicicleta professional, sind froh, wenn wir in diesem Gelände 70 Kilometer am Tag packen, und genauso froh sind wir, wenn wir in einem der seltenen Dörfer ein hinreichend sauberes Gasthaus finden, selbst wenn das Bett durchgelegen und das Bad auf der anderen Seite des Hofes ist.

In einem ebensolchen Gasthaus in Curahuasi sitzen wir abends und warten auf das wohlverdiente Abendessen, da holt uns ein weiterer Reiseradler ein. Wir erkennen ihn gleich als denjenigen, den wir kürzlich mit Juans Toyota auf der Hochfläche zwischen Puquio und Chalhuanca überholt haben. Das ist Stephen aus Kapstadt, wie wir auf Panamericana-Tour. Er legt ein Wahnsinns-Tempo vor, hat aber auch deutlich weniger Gepäck als wir. Tja, meint Stephen, das stimme schon, aber erst, seit ihn ein paar Straßenräuber bei Sullana in Nordperu um einige wesentliche Ausrüstungsgegenstände erleichtert hätten. Stephen ist ein cooler Bursche, jobbt immer wieder eine Weile als Tennislehrer in London, dann macht er sich wieder für ein paar Monate auf den Weg. Er hat selbst Kolumbien nicht ausgelassen, dafür die USA, Canada und Panama, weil sie ihn dort als Südafrikaner nur gegen horrende Visagebühren hineingelassen hätten und er zudem wochenlang auf die Visa hätte warten müssen. So hat er seinen Trip in México City begonnen - er bereist also auch die Panamericana in Teilstücken, wobei es bei ihm völlig andere Teilstücke sind als bei uns. Und er hat von den bereisten Ländern keine Ahnung, hat beispielsweise, obwohl er durch México geradelt ist, noch nie etwas von Teotihuacan gehört, weiß kaum etwas von den Mayas und den Inkas, kann praktisch kein Wort Spanisch und ist total happy, als wir ihm die Speisekarte übersetzen. Bisher hat er sich mangels besseren Wissens fast ausschließlich von Steaks und Kuchen ernährt - trotzdem ist er immer guter Dinge und schlägt sich überall durch. Interessanter Typ, tja, Reiseradler sind halt immer Individualisten. Auf jeden Fall wird es ein netter Abend bei gutem Lomo Saltado und ein paar Fläschchen Pilsen Callao.

Stephen ist am nächsten Morgen schon fort, als wir uns gegen acht in den Sattel schwingen. Der letzte Pass vor Cuzco, der Abra Huillque, ist nochmal ein harter Brocken mit wesentlich knackigerer Steigung als sein Vorgänger. Erst am frühen Nachmittag sind wir oben und gleiten dann auf sanft fallender Straße hinein in das fruchtbare Antatal. Puro plano, topfeben, sei es jetzt bis Cuzco, haben wir uns sagen lassen, aber als wir uns schon fast am Ziel wähnen, geht es nochmals 300 kräftezährende Höhenmeter bergauf. Doch plötzlich, wir umkeuchen den letzten Bergzacken, breitet sich Cuzco wunderbar zu unseren Füßen aus, fast wie eine Fata Morgana.

Blick auf Cuzco

Wir können den Blick kaum losreißen von diesem Bild, ein halber Film schießt durch die Kamera, dann rollen wir zügig hinunter in die alte Inkametropole, direkt auf die Plaza de Armas.

Cuzco, der Name stammt aus der Quechua-Sprache und heißt "Zentrum" oder "Nabel". Bevor der ehemalige spanische Schweinehirt Pizarro 1533 kampflos in die Stadt einritt (er hatte schon bei seiner Ankunft in Nordperu unheimliches Glück, dass er die Inkas auf dem falschen Fuß erwischte - die Söhne des großen Huayna Capac waren in einen schweren Bruderkrieg um dessen Nachfolge verwickelt), war Cuzco tatsächlich der Nabel der (südamerikanischen) Welt, bis vor kurzem ebenso mächtig und auf jeden Fall wesentlich reicher als das alte Rom. Die Plaza de Armas hieß damals Huacaypata (= Platz der Freude) und war von Tempeln, Heiligtümern und Palästen umgeben, die mit Platten aus schierem Gold belegt waren und den phantastischen Glanz einer Märchenstadt  verbreitet haben müssen.

Plaza de Armas

Auf der Plaza liefen die Straßen aus den vier Teilen des Inkareichs zusammen, und auf ebendieser Plaza ließ Pizarro alles Gold und Silber zusammentragen, dessen er habhaft werden konnte. Die Inkas, in ihr streng hierarchisch gegliedertes Staatssystem eingebunden, schauten tatenlos zu - Pizarro hatte ihren letzten Herrscher Atahualpa, der als stark geschwächter Sieger aus dem Bruderkrieg hervorgegangen war, schon vorher in Cajamarca hinrichten lassen, und jetzt waren sie führerlos und handlungsunfähig. Unermessliche Inkaschätze wurden dabei eingeschmolzen und so zerstört - und doch soll das nur ein kleiner Teil des Inkagolds gewesen sein; den Rest suchen Archäologen, Forscher, Abenteurer und auch Beauftragte des peruanischen Staats bis heute.

Auf jeden Fall: Etwas Geheimnisvolles, ungeheuer Faszinierendes und auch Fremdartiges umgibt Cuzco immer noch, wie schon zu Zeiten der spanischen Eroberer. Ein leises Kribbeln unter der Kopfhaut verspürt wohl jeder, der diese Stadt betritt - so geht es auch uns (obwohl wir nicht zum ersten Mal hier sind) spätestens in der Calle Hatunrumiyoc, als wir unsere bepackten Räder an den fugenlos verblockten Riesensteinen vorbeischieben, die einstmals die Mauer des Palacio Inca Roca darstellten. Keine Rasierklinge passt zwischen die gigantischen Blöcke; einer davon hat sage und schreibe zwölf Ecken. Eine unwahrscheinliche Ästhetik geht von diesen Mauern aus. Sie stehen trotz der hier zahlreichen Erdbeben immer noch wie eine Eins, während die darauf errichteten spanischen Kolonialgebäude mehrfach schwere Beschädigungen erlitten.

In der Calle Hatunrumiyoc

"Cuzco", so steht in unserem Reiseführer, "ist nicht nur die schönste und abwechslungsreichste Stadt Perus, sondern wohl die interessanteste Stadt ganz Südamerikas." Kann schon sein - bloß, leider wissen das zu viele. Sicher hat jede Gruppenreise à la "Südamerikas Highlights in zwei Wochen" mindestens drei Tage Cuzco und Umgebung auf dem Programm - für uns heißt das, wir klopfen vergeblich an unzählige Hotelpforten in einigermaßen sozialverträglicher Preiskategorie. Schnaufend (Cuzco liegt auf gut 3400 Metern) und schwitzend stemmen wir unsere Pedal-Transporter durch die steilen Kopfsteinpflastergassen des Viertels San Blas, manchmal mit kleiner Treppen-Einlage, bis wir nach einer guten Stunde im Hotel "El Arqueologo" fündig werden. Mit wirklich letzter Kraft schleppen wir unsere Taschen in den zweiten Stock des alten Kolonialgebäudes mit seinen dicken Inka-Grundmauern - und fallen vor lauter Panorama fast aus dem Fenster: Wie ein Glitzerteppich breitet sich unter uns und an den umgebenden Berghängen die mittlerweile hell erleuchtete Inkastadt aus, die Sakralbauten sind wunderschön angestrahlt, Kirchenglocken bimmeln, Autos hupen, Musik von einer Peña schallt herauf. Und spätestens jetzt sind auch wir sicher, dass Cuzco trotz allem Kommerz und Touristenrummel eine der tollsten Städte ist, die wir je gesehen haben. Eine schöne heiße Dusche entspannt die verkrampften Muskeln, dann machen wir uns auf nach Downtown, um das glückliche Finale einer weiteren hochinteressanten Panamericana-Etappe mit einer guten Pizza gebührend zu feiern.

"Hi, Sybille - hi, Thomas!" tönt es über die Plaza, und freudestrahlend kommt da Stephen angerannt. Ha, am Nabel der Welt trifft man wirklich alle - Stephen ist schon heute Vormittag hier eingelaufen und wirkt gut ausgeruht. Der fährt wirklich, als säße er auf einem Motorrad! Heute Nachmittag hat er, wie er sagt, bereits ganz Cuzco besichtigt und außerdem erfolglos nach einer neuen Hinterradfelge gesucht; seine kriegt langsam Risse und macht es nicht mehr lange. Für morgen hat er einen Trip nach Machu Picchu gebucht, dann geht's weiter - eigentlich wollte er ja nach La Paz und zum Salar de Uyuni, aber in Arequipa soll es einen besseren Bike Shop geben. "What to do now? We'll see that tomorrow - take it easy!" Fast beneiden wir Stephen ein bisschen zwecks seiner Spontaneität. Wir haben für Cuzco und Umgebung eine gute Woche vorgesehen, und auch das erscheint uns eher wenig. Auf jeden Fall wird es ein fröhlicher Abend bei guter Live-Musik, die Pizza fällt gigantisch aus, fast so groß wie Stephens neues Hinterrad in spe, was er als gutes Omen auffasst - Good luck, my friend, see you! - Aber, bis wir in Feuerland eintrudeln, sitzt der schon wieder in London und schafft seit einem Monat.

Ankunftspizza mit Stephen

Leider müssen wir am nächsten Morgen umziehen; im "Arqueologo" hatten sie nur Platz für eine Nacht. Aber unser neues Quartier im Hostal "Amaru" ist auch nicht übel, riesiges Zimmer mit gutem Bett, zu erreichen über eine Art Hühnerleiter im obersten Stock, Aussicht fast noch besser, 25 US$ pro Nacht, nur einen Block vom Zwölfeckenstein und zwei Blocks von der Plaza - also, wir hätten's schlechter treffen können. Und von hier entdecken wir jetzt die Welt der Inkas - den Sonnentempel Qoricancha; das Regionalmuseum im Haus des wichtigsten Inka-Chronisten, Garcilaso de la Vega; den Kult- und Festplatz Q'enqo; das Wasserheiligtum Tambomachay. Wir machen eine dreitägige Radtour ins Valle Sagrado zu den Ruinen von Pisac und zu den Salzterrassen von Pichingote, wo heute noch wie zu Zeiten der Inkas Salz gewonnen wird, ein beeindruckender Anblick.

Natürlich steigen wir auch zur Festung Sacsayhuaman hoch über Cuzco hinauf, deren Mauern aus bis zu 40 (!) Tonnen schweren Quadern bestehen, die selbstverständlich auch passgenau verzahnt sind. Hier findet jedes Jahr zur Feier der Sonnenwende am 24. Juni das farbenprächtige Inti-Raymi-Fest statt, das ein urtümliches Riesenspektakel mit Zehntausenden von Zuschauern und Hunderten von Akteuren sein muss. Allerdings haben wir Ende September - und trotzdem Glück: Gerade ist peruanischer Schulausflugstag, und da ist es im Department Cuzco üblich, dass man nach Sacsayhuaman pilgert. Unzählige Schulklassen sind da, von sechsjährigen Pimpfen bis zu den Vierzehn-, Fünfzehnjährigen, alle in den Trachten ihrer Dörfer, oft begleitet von ihren Eltern, ebenfalls in Tracht. Viel beeindruckender kann das Inti-Raymi-Spektakel auch nicht sein!

Sacsayhuaman

Überhaupt, die Indigeñas sind uns ungeheuer sympathisch. Auch wenn kein Fest oder eine andere Veranstaltung ist, bestimmen sie Cuzcos Straßenbild, verkaufen Webwaren, Tonflöten, Strickmützen. "Hola, Gringito, comprame", kauf was bei mir, tönt es hundertfach den ganzen Tag über. Berückend schön sind die Sachen oft, vor allem die bunten Stoffe, doch wo sollen wir armen Radler das alles hinpacken? Dabei sind die Indigeñas nie aufdringlich; sie haben einen angenehmen Stolz, glauben trotz Christianisierung auch weiterhin an Pachamama, an Mutter Erde, und unterhalten sich auf Quechua, in der Sprache der Inkas. Einige können wir bereits nach Herkunft an den Hüten unterscheiden, die mit den braunen Rosetten am Rundhut beispielsweise stammen aus Chinchero, die mit den weißen, zylinderartigen Kopfbedeckungen aus Pisac. Einige lassen sich auch für ein paar Soles mit ihrem Lama knipsen, mit ihrem Webrahmen oder mit der Handspindel. Gestellte Fotos vielleicht, aber wir geben gerne - uns gefällt auch, dass sich die peruanischen Hochlandindianer nie gehen lassen wie z.B. einige ihrer nordamerikanischen Vettern - die Tradition und ihr Naturglaube machen sie selbstbewusst. Eigentlich könnte so mancher Mitteleuropäer oder Ami von diesen "Unzivilisierten" eine ganze Menge lernen, etwa hinsichtlich ihrer heiteren Gelassenheit, ihrer Verantwortung der Natur gegenüber oder in Richtung indianischem Sozialverhalten.

Die Einstellung, die Tradition, das Erbe der südamerikanischen Indianer und natürlich die geheimnisvollen Inka-Relikte haben die Menschheit schon immer fasziniert - nicht erst seit Karl May. Doch die Attraktion des ganzen Kontinents ist natürlich: Machu Picchu. Da die Inkas außer ihren Knotenschnüren, den Quipus (die eine Art Buchhaltungssystem waren), nichts Schriftliches hinterlassen haben, gibt es nur wenig historisch Belegbares über dieses mystische Felsennest im unteren Urubambatal. Und genau darin liegt Machu Picchus Reiz. War die lange Zeit im Dschungel verborgene Stadt ein heiliger Ort? War sie aufgrund ihrer vielen Terrassen ein Coca-Anbauzentrum? Lebten hier zum Opfer für die Götter bestimmte Sonnenjungfrauen (man fand wesentlich mehr weibliche als männliche Mumien)? Oder lagert gar hier das vermisste Inkagold? Unter Machu Picchus Grundmauern vermutet man Stollen und Geheimgänge, die gemäß einer alten Überlieferung mit giftigen Gasen gefüllt sein sollen. Doch keiner hat sie je gefunden.

Machu Picchu

Sicher ist nur, dass sich etliche Mitglieder der Inka-Herrscherfamilien nach der Zerstörung Cuzcos mit nicht unerheblichen Schätzen in entfernte Bergländer verkrümelt haben. Neben Machu Picchu kommt hier auch immer wieder der Name Vilcabamba ins Spiel, das noch tiefer im Dschungel liegt und erst 1964 wiederentdeckt wurde. Von diesen Zufluchtsorten führten die Inkas häufig empfindliche Blitzangriffe gegen die Spanier und konnten sich stets wieder verstecken. Erst 1572 fassten die Kolonialherrscher Tupac Amaru, den letzten Organisator des Widerstands, und ließen in hinrichten. Die letzten versprengten Inkas setzen sich dann vermutlich ins Amazonasgebiet ab, worauf der Dschungel Machu Picchu und Vilcabamba verschlang.

Als Entdecker Machu Picchus gilt gemeinhin der US-Amerikaner Hiram Bingham (24. Juli 1911). Doch interessanterweise war die verborgene Stadt den Indigeñas immer bekannt und sogar bis gegen 1700 ständig bewohnt. Bingham, der nicht nur Forscher, sondern auch ein geriebener Geschäftsmann war, förderte dann - vermutlich ganz bewusst - die Legende um die "verlorene Stadt der Inkas". Bingham soll auch, so wird gemunkelt, bereits 1909 auf dem Rückweg von einer Expedition ins Urubambatal Peru mit 60 goldbeladenen Mulis heimlich in Richtung Bolivien verlassen haben. Und warum konnte der italienische Forscher Raimondi bereits 1865 eine Landkarte veröffentlichen, in der Machu Picchu namentlich eingezeichnet war? Und spätestens 1904 bebaute ein Indianer namens Anacleto Alvarez einen Teil von Machu Picchus Terrassen. Er war der legale Pächter des Gebiets; als Eigentümer war im Katasteramt in Cuzco ein gewisser Don Martin de Concha eingetragen.

Machu Picchu

Diese Stadt mit ihrer spannenden, nur teilweise gesicherten und sich bis in die Neuzeit hinziehenden Geschichte reizt natürlich auch uns besonders stark. Wir werden deshalb mal beim Bahnhof vorstellig zwecks Erwerb einer Hin- und Rückfahrkarte (nur mit der Bahn oder zu Fuß mit Führer auf dem Inka-Trail kann man Machu Picchu erreichen). Für das Ticket nimmt Perurail doch glatt 59,50 US$ p/pax, dazu kommt noch ein Bustransfer von Aguas Calientes hinauf zu den Ruinen, einfach 5 US$, und der Eintritt, 25 US$. Wir setzen uns fast hin, als wir das hören: Ein Tag Ruinenerlebnis zu zweit für schlappe 180 Dollar, dabei noch nix gegessen. Heißen wir Onassis? Jetzt wissen wir definitiv, wo der Goldschatz der Inkas lagert: in den Kassen von Perurail!

Vollends als Frechheit empfinden wir diese gezielte Abzockung der Touristen - der einfache Peruaner zahlt nur 30 Soles Round Trip, 9 US$, aber mit dem Lokalzug dürfen Etranjeros unter Androhung hoher Geldstrafen nicht fahren. Da verzichten wir dankend - und begnügen uns mit der Erinnerung: Schließlich haben wir vor sieben Jahren schon mal zwei unvergessliche Tage in Machu Picchu verbracht, damals sogar mit Übernachtung im Hotel Turistas, und diesen mystischen Ort auch abends praktisch als einzige Touristen erlebt. Das war auch für uns das absolute Highlight sämtlicher Amerika-Besuche, dazu noch die kleine Wanderung auf dem Inka-Trail hinauf zum Sonnentor, dann am Morgen der Sonnenaufgang durch wabernde Nebelfetzen.... Das Hotel Turistas heißt heute "Machu Picchu Sanctuary Lodge", gehört wie die Mehrheit von Perurail der "Orient-Express-Gesellschaft", und eine Nacht im Doppelzimmer ist dort heute schon für ca. 400 US$ zu haben. Wir hätten also für unser damaliges Zwei-Tage-Arrangement (ca. 250,- DM) heute rund 600 US$ bezahlt. Vielleicht sind die Inkas ausgestorben, weil ihnen Machu Picchu zu teuer wurde? Wir wären bei diesen Preisen jedenfalls auch in die undurchdringlichen Amazonas-Urwälder abgehauen.

Spätzle in Cuzco!

Da legen wir unsere Flocken doch besser im Restaurant Granja Heidi an: Und zwar in Lomo fino de res al vino con tallarin aleman, zu Deutsch: Rinderschmorbraten in Rotweinsoße mit Spätzle. Der Wirt Carlos alias Karl-Heinz Horner, gebürtig aus dem Raum Ulm, ist vor 25 Jahren als landwirtschaftlicher Entwicklungshelfer nach Cuzco gekommen - heute betreibt er vor den Toren der Stadt einen Bio-Bauernhof, dessen Produkte alle hier lebenden Europäer zu schätzen wissen. Aah, diese Salatplatte, endlich mal ohne Angst vor "Montezumas Rache"! Keine Frage, das wird in Cuzco unsere Stammkneipe! Mit Carlos unterhalten wir uns lange und angenehm - ihm gefällt unsere Radtour, und uns gefällt das, was er hier auf die Beine gestellt hat, respektive natürlich sein gutes Futter. Zum Abschied schüttelt Carlos uns herzlich die Hand: Wir sollen vorsichtig sein, meint er, in Peru gebe es viele Banditen, er wisse das - si, claro, wir auch! Doch sind wir sicher, die schaffen fast alle bei Perurail. Hasta luego!

 

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