www.bikeamerica.de - Reisebericht über unsere Panamericana-Tour 2

Go South!

Auf dem Pacific Coast Highway

Seattle gilt als "Rain Capital of the USA". Wie könnte es anders sein – wir erreichen die Stadt an einem wolkenverhangenen Abend unter kräftigen Schauern, beziehen schlotternd unser vorgebuchtes Motelzimmer draußen in der Peripherie und stellen einen neuen Rekord im Heißduschen auf. Die Schauer sind mittlerweile zum Dauerregen mutiert, und zum Fußmarsch zur Pizza Hut (zwei Blocks weiter) müssen wir jeden Fetzen Regenbekleidung einsetzen.

Trocken ist gleich schönes Wetter, heißt es im Nordwesten, und den Regen nennen sie hier "Liquid Sunshine". Doch am nächsten Morgen haben wir Glück: Der flüssige Sonnenschein hört genau beim Frühstück auf, und bald strampeln wir frohgemut in Richtung Downtown, das sich schon mit seinen Hochhäusern in der Ferne abzeichnet.

Seattle - Kurs auf Downtown

Seattle ist weniger eines der Top-Touristenziele wie New York, San Francisco oder Las Vegas. Bekannt ist die Stadt eher durch ihre lange Handelstradition und als Logistik- und Industriezentrum. UPS wurde hier gegründet, beispielsweise, und Bill Gates’ Microsoft hat hier ihren Sitz. Und Seattle ist vor allem eins: BOEING. Der Welt größter Flugzeugbauer beschäftigt hier gut 100.000 Mitarbeiter. Endlos pedalieren wir am Werksgelände vorbei; sie haben sogar mitten in der Stadt einen Werksflughafen (und nicht den kleinsten), wo man seinem Jumbo Jet zur Inspektion herfliegen kann. Logisch, dass wir zunächst einmal das werkseigene Museum of Flight besichtigen.

Im Museum of Flight kann man wirklich die Zeit vergessen; wir sehen alles, was früher am Himmel Rang und Namen hatte, vom Segelflugzeug der Gebrüder Wright über das Schwestermodell von Lindberghs Atlantikflieger und eine schöne DC 3 bis zur US Airforce Number One, dem Dienstflieger der früheren US-Präsidenten. Besonders heftig ist der Aerocar, ein innerhalb von 10 Min. zum Flugzeug umbaubares Auto. Dann gibt es noch einen pedalgetriebenen Segelflieger, der schon über den Ärmelkanal getrebbelt ist, und einen Segelflieger Marke Cessna, den man 1930 für 398,– US$ im Versandhaus bestellen konnte und mit dem Clyde Cessna die Weltwirtschaftskrise überbrücken wollte. Dazu kommt ein komplett eingerichteter Tower, alles natürlich aufs beste erklärt, und das gemütliche, original erhaltene Firmengebäude aus Holz aus den Zwanziger Jahren, in dem durch Bilder und interessante Details die Geschichte des Fliegens sowie der Boeing Flugzeugwerke dokumentiert ist. Nicht nur Cessna hatte übrigens in der Wirtschaftskrise Probleme; Boeing musste sich in dieser Zeit sogar auf die Möbelproduktion verlegen, und so mancher Bauer hatte seinerzeit ein Küchenbuffett von Boeing in seinem Farmhaus stehen.

Museum of Flight

Leider ist es immer noch trüb und bedeckt, als wir uns wieder in den Sattel schwingen. Bald erreichen wir die Altstadt. Nett ist es in den Gassen, viele Backsteinhäuser, Kneipen und Straßencafés, die meistens zu einem der zahlreichen Brauereipubs gehören. Lustigerweise sind alle Straßencafés eingezäunt; wenn man sein Bier auf der falschen Seite des Zauns trinkt, wird man bestenfalls vom Sheriff verseggelt oder man muss gar einige Bucks als Strafe abdrücken.

Das schönste Obst, den besten Lachs und andere Delikatessen gab es schon immer im Pike Place Market – klar, dass wir auch ausführlich durch die ehrwürdigen Hallen schlendern, wo sich schon 1897 die Goldgräber verproviantierten, bevor sie zum Goldrausch am Klondike aufbrachen. By the way, genau in dieser Zeit profilierte sich Seattle erstmals als Handels- und Bankenzentrum, und hier hat so mancher mehr am Goldrausch verdient als 99,9 % der Claim-Inhaber.

Wir verlassen die Markthallen, treten hinaus auf die Straße und – Zack – ist die Sonne da! Wie durch Zauberhand sind die Wolken fast gänzlich verschwunden, und plötzlich ist das vorher eher verschlafen wirkende Seattle eine lebensfrohe Flaniermeile mit fast mediterranem Feeling.

beim Pike Place Market

Vielleicht merkt man es erst auf den zweiten Blick, aber diese Stadt hat schon ihre Qualitäten, die reizvolle Lage am Wasser zum Beispiel, dazu etliches an doch recht ansprechender Architektur und in nächster Umgebung jede Menge Freizeitmöglichkeiten in unberührter Natur. Kein Wunder, dass die Einwohnerzahl ständig wächst. Und: Jeder, der aus dem einsamen Norden kommt, wird Seattle lieben – garantiert! Ein bisschen Großstadtatmosphäre und Night Life tut schon gut zuweilen, zumal es hier sogar eine recht agile Rockszene gibt, die sich immerhin auf keinen Geringeren als auf Jimi Hendrix beruft.

Am nächsten Tag, an einem fantastischen, klaren Sommermorgen, starten wir durch Richtung San Diego. Kaum zu glauben, aber der nasse Willkommensgruß vor zwei Tagen war jetzt echt der letzte Regen für die nächsten fünf Wochen, bis fast zur mexikanischen Grenze. Ha, Glück muss man haben – Kaiserwetter bestimmt ab sofort die Szenerie, abgesehen von einigen Tagen mit Küstennebel in Northern California, und das, obwohl wir wochenlang durch die feuchtesten Region der Lower 49 pedalieren. Und Rückenwind! So lassen wir’s uns gefallen.

Fauntleroy Ferry Pier

Eine Fähre bringt uns über den idyllischen Puget Sound hinüber zur Kitsap Peninsula. Dort radeln wir durch eine wunderschöne, an Skandinavien erinnernde Harmonie aus Wald, Wasser und Holzhäusern zunächst am Hood Canal entlang, dann quer über den Ansatz der Halbinsel in Richtung Küste. Doch ist die Harmonie relativ – die scheinbar endlosen Wälder sind im Prinzip nichts anderes als Plantagen für die Bauholz- und Papierindustrie, und oft sieht man Schilder am Straßenrand mit dem Datum der Pflanzung und des nächsten Clearcuts. Shelton, wo wir die nächste Nacht verbringen, nennt sich gar Christmas Tree City Number One. Nicht selten donnern Holzlaster vorbei, mit sagen wir mal, recht flüssigem Fahrstil. Die Trucker scheinen jedenfalls nur zwei Motoren-Betriebszustände zu kennen: Vollgas und Aus. Zum Glück gibt es meistens einen schönen Seitenstreifen.

Holzplantagen

In McCleary lassen wir uns an den Picknicktischen im hübschen Stadtpark zum Lunch nieder. Sybille belegt gerade leckere Onion Rolls mit Paprikasalami, Tomaten und Zwiebeln, das alkoholfreie Bierlein zischt angenehm in der Dose, da kommt plötzlich der Rasenmäh-Traktor angeschossen, ein älterer Mann steigt ab und begutachtet fachmännisch unsere Räder. "Ah, geman bikes" erkennt er gleich, testet die Spannung der Speichen und staunt über unseren Steigungsmesser. Er schenkt uns eine Visitenkarte, aus der wir entnehmen, daß es sich hier um Jerry handelt, den Inhaber des örtlichen Bikeshops. Viel Umsatz macht er hier in der Kleinstadt natürlich nicht, und so muss er nebenher als Parkpfleger arbeiten. Darüber ist er aber sehr froh, denn es gibt nicht viele Jobs hier draußen, alles muss von der Holzindustrie leben, die aber weitgehend automatisiert ist. Wir kriegen noch etliche Tipps und eine Beschreibung von Weg und Gelände für die Weiterfahrt. "Mostly flat" meint Jerry zur Topographie. Und an den Logging Trucks sollen wir uns nicht stören, das seien die besten Fahrer der Welt. Schlimmer sind da schon die übergroßen Rentner-Wohnmobile, deren Besitzer mit dem Handling meist überfordert seien. Und wenn Opa den Adventure Kick sucht, dann fährt er ohne Brille. "Be careful und have a good trip" verabschiedet sich Jerry, gibt uns eine schwielige Hand und schwingt sich wieder auf seinen Rasenmäher, der die ganze Zeit mit laufendem Motor vor sich hingeblubbert hat. Dann weiter, durch schönes Waldland, ständig auf und ab, wir brauchen alle Gänge. Mostly flat? Jerry war wohl schon seit 50 Jahren nicht mehr out of town, und wenn, dann saß er sicher in einem Holzlaster. Trotzdem wunderschöne Fahrt; ab und zu bimmeln wir – auch hier soll es Bären geben.

In Raymond, einem verschlafenen Holzfällerstädtchen, überqueren wir den Willapa River, früher ein wichtiges Floßwasser mit weitem Einzugsgebiet. Und ab sofort sind wir auf der US 101, auf amerikanisch One-O-One, die uns jetzt bis Northern California begleiten wird.

Der Willapa River ist für uns die Leitlinie zur Küste. Er weitet sich fast unmerklich zur sumpfigen Willapa Bay, die durch eine sandige Nehrung vom offenen Pazifik abgetrennt wird. Entlang der Willapa Bay radeln wir zügig und mit gutem Rückenwind nach Fort Canby. Dort gibt es einen idyllischen Campground, direkt zwischen Wald und Wasser. Zum ersten Mal seit Seattle schlagen wir unser Zelt auf. Fast allein gehört uns eine riesige Wiese, und so beginnt der erste einer Serie von fantastisch schönen Westcoast-Campingabenden. Schlicht genial sind die Hiker Biker Sites, die man bis zur mexikanischen Grenze fast an jeder Ecke findet.

Hiker Biker Site

Sie sind ausschließlich Radlern und Wanderern vorbehalten; niemand wird weggeschickt, selbst wenn (wie häufig) das "Campground full"-Schild draußen hängt. Drei bis fünf Bucks kostet es pro Zelt – Traum-Sonnenuntergang fast immer inklusive. Wer da nicht campt ist selber schuld!

In Fort Canby stehen wir zum ersten Mal auf unserer Tour direkt am Rand der offenen See. Das ist schon etwas anderes als die beschauliche Idylle am Puget Sound! Riesige, ausgebleichte Treibholzstämme liegen wild durcheinandergewirbelt am Strand und demonstrieren die geballte Kraft des sogenannten "Stillen Ozeans", von dem keiner weiß, wie er zu seinem Namen gekommen ist. Still ist er nämlich selten, vor allem hier an der Mündung des riesigen Columbia River, dem zweit-wasserreichsten Fluss der USA nach dem Mississippi.

Im letzten Abendlicht wandern wir hinüber zum Cape Disappointment. Dort steht bereits seit 1856 der älteste Leuchtturm der gesamten amerikanischen Westküste, und das mit gutem Grund. Die gefährliche Brandung und einige tückische Sandbänke ließen hier nämlich nahezu 2.000 Schiffe zerschellen; viele verschwanden mit Mann und Maus und wurden nie gefunden. Die Columbia-River-Mündung gilt als eines der schwierigsten Gewässer der Welt, doch immer noch ist der Fluss eine sehr wichtige Wasserstraße, über die Seeschiffe bis hinauf nach Portland fahren können.

Am nächsten Morgen überqueren wir den Columbia River auf einer Wahnsinns-Brückenkonstruktion.

Astoria Bridge

Mehr als sechs Kilometer lang ist dieses gigantische Teil mit seinen zugehörigen Dämmen. Mit leichten Beklemmungen fühlen wir uns fast wie über den Wolken.Am anderen Ufer dann sind wir in Astoria und damit im Staat Oregon. Fast wie bei einer Passabfahrt sausen wir die Brückenrampe hinunter in die kleine Stadt, die 1811 von dem berühmten Einwanderer und Geschäftsmann Johann Jakob Astor aus Walldorf in Baden als Pelzhandelsstation gegründet wurde. Und vor den Toren des Städtchens, draußen in Fort Stevens, kann man sich tatsächlich auch heute noch davon überzeugen, warum man diese Ecke hier den Schiffsfriedhof des Pazifik nennt. In Fort Stevens liegt nämlich das Wrack des Seglers "Peter Iredale" auf dem Strand, festgefahren an einem nebligen Herbstabend des Jahres 1906.

Die "Peter Iredale" war ein stolzer Viermaster der nordamerikanischen Weizenflotte. Auf ihrer letzten Fahrt kam sie gerade leer aus Australien zurück. Trotz dichtem Neben ließ der Captain alle Segel setzen, denn es gab eine Prämie, wenn man die festgesetzte Fahrtzeit unterschritt. So kam das Schiff in eine tückische ufernahe Strömung; der starke Südoststurm tat ein Übriges, und schon setzte die "Peter Iredale" mit einem harten Ruck auf dem Strand auf. Zum Glück waren keine Menschenleben zu beklagen, aber der stolze Segler war dahin.

Peter Iredale

Er sandete immer weiter ein, weil schlechtes Wetter die sofortige Bergung verhinderte. Das Wrack verkaufte man an einen Schrotthändler aus Chicago, der es komplett zerlegen und einschmelzen ließ. Nur den Bug ließ man stehen, als dramatisches Mahnmal gegen den Leichtsinn und zum Gedenken an die vielen Opfer, die sich der Blanke Hans in der Mündung des Columbia River schon geholt hat und auch in Zukunft mit Sicherheit noch holen wird.

Die Küste von Oregon hat uns schon zu Hause im Atlas fasziniert. Felsige Bergzüge brechen schroff ab ins Meer, dazwischen stille Buchten und Strände. Wie eine Kreuzung aus Strandpromenade und Achterbahn verläuft die US 101; manchmal muss man durch einen Tunnel, wo man einen Button pressen und damit ein Blinklicht aktivieren kann, das Autofahrern anzeigt, wenn Radler im Tunnel sind. Der gute Rückenwind, der uns fast bis México begleitet, hilft zwar, aber aufgrund der Topographie sind wir jeden Abend total platt. Schnell das Zelt aufgebaut, dann Sonnenuntergang am Strand – und den Abend beschließt regelmäßig unser traditionelles Vier-Gänge-Camping-Candlelight-Dinner: z.B. Chili con Carne (hot und spicy), dazu Nudeln, Sybilles geniale Outdoor-Salatplatte (Lettuce, Onion and Tomato), ein kühles Bier und zum Nachtisch Obst, Schokoladenkekse und Kaffee.

Hiker Biker Dinner

Kann das Leben schöner sein? Ein solcher Tagesablauf würde uns zwanzig Jahre nicht langweilen. Und hätten wir einen Walkman, dann hätten wir täglich Bachman Turner Overdrive im Ohr mit "Down the Highway", aufgenommen in Seattle, 1974.

Einfach sagenhaft, was wir für ein Glück mit dem Wetter haben! Normalerweise wabert auch im Sommer häufig zäher Nebel vom Meer herein und packt innerhalb von Minuten alles in Watte. Einmal erleben wir das nahe Depoe Bay – Sichtweite Null innerhalb von drei Minuten. Kein Wunder, Cape Foulweather liegt nahebei, das seinen Namen 1778 von James Cook erhielt, der damals die Küste hinaufsegelte und wahrscheinlich ganz schön fauliges Wetter hatte. Nebelfrei ist es hier selten; dazu kommen Windgeschwindigkeiten von bis zu 170 km/h.

Fast alle Kaps, die wie felsige Finger weit hinaus in den Pazifik ragen, sind deshalb mit einem hübschen Leuchtturm bestückt. Manche davon kann man besichtigen, z.B. den auf der Halbinsel Yaquina Head.

Yaquina Head Lighthouse 1 Yaquina Head Lighthouse 2 Yaquina Head Lighthouse 3

Der gilt unter Kennern als einer der schönsten in den USA. Seit gut 130 Jahren steht er da, blütenweiß, komplett mit roter Mütze, Galerie und kleinem Häuschen für den Wärter. Hätte er noch rote Querstreifen, dann wäre das der Prototyp eines Leuchtturms überhaupt, so wie wohl jedes Kind ihn malen würde, wenn es ein Bild vom Meer zeichnen sollte.

Durch das Wärterhäuschen mit der Zahl 1872 über der Tür betreten wir das historische Gemäuer. Innen führt eine Wendeltreppe mit 104 gusseisernen Stufen hinauf auf die Galerie. Oben gibt es einen Ranger, der verkauft T-Shirts mit der Aufschrift "I suvived 104 steps". Und dann gibt es noch die Leuchtanlage, eine wahrhaft gigantische Konstruktion, die seit dem Bau des Leuchtturms unverändert und zuverlässig ihren Dienst versieht.

Kernstück des Leuchtfeuers ist die Fresnel-Linse, die lamellenartig um die Leuchtquelle angeordnet ist, auf Yaquina Head noch Original von Fresnel in Paris stammt und seinerzeit um Kap Hoorn herum hierher geschippert wurde. Sie bündelt das Licht zu einem Strahl, der noch 19 Seemeilen weit auf dem Pazifik draußen zu sehen ist. Anhand der Blinkintervalle können die Seeleute erkennen, um welches Leuchtfeuer es sich handelt. Der Leuchtturmwärter hatte übrigens früher die Linse täglich aufs Feinste zu polieren.

Manche Leuchttürme sind skurrile Konstruktionen und erinnern eher an ein Wohnhaus, bei den meisten hingegen war ein normales kleines Wohngebäude angegliedert. Auf jeden Fall jedoch hatte der Leuchtturmwärter hier ständig zu wohnen. Er hatte auch einen Gehilfen, und einer von beiden musste rund um die Uhr on duty sein.

Leuchtturmwärter, der Job war nicht immer das reine Zuckerschlecken.

Sturm bei Tillamook Rock   © siehe hier

Dieses historische Bild des 1881 errichteten und 1957 deaktivierten Leuchtturms Tillamook Rock zeigt recht gut, was an der Oregon Coast wettermäßig manchmal abgeht. Vor Jahren wuchtete hier die Brandung einen zentnerschweren Felsbrocken vierzig Meter hoch direkt in die Linse und zerlegte diese in einen Scherbenhaufen. Aber manche Leuchttürme haben einfach eine himmlische Lage, so wie der in Heceta Head zum Beispiel.

Heceta Head Lighthouse

Hier Leuchtturmwärter zu sein, das wäre wohl ein Traumjob. Morgens Fresnellinse polieren, mittags Rad fahren und abends Chili und ein kühles Bier auf der Galerie — oh man, das wärs!

Doch längst sind alle Leuchttürme automatisiert, Störungen werden per Computer an die Küstenwache weitergemeldet und der Linsenpolierer kommt nur noch einmal wöchentlich mit seinem Kleinlaster und führt die Wartung durch. Einfach schade, irgendwie. Und so sind wir halt bald wieder on the road again.

Im südlichen Oregon läuft die schroffe Felsküste langsam aus. Sanddünen treten ins Bild, zum Teil von beträchtlicher Höhe und schon wieder teilweise überwachsen. Eher unspektakulär empfinden wir diesen Teil der Strecke; vom Aussichtspunkt in der Oregon Dunes Nat’l. Recreation Area machen wir genau ein Foto, leeren unsere Turnschuhe aus und schwingen uns wieder in den Sattel. Dann folgt eine fast zwanzig Kilometer lange Baustelle mit frischem Teer. Hinter uns drängeln die Autos, während unsere Reifen ein Fahrgeräusch produzieren als ziehe man Tesakrepp von der Rolle.

In Gardiner, das fast wie eine Ghost Town wirkt, dominiert eine stinkende Papierfabrik des Großkonzerns Weyerhaeuser das Städtchen sowie das ganze Umland. Natürlich ist die Papierproduktion voll automatisiert. Es gibt nur wenige Arbeitsplätze, die aber trotz minimalster Löhne heiß begehrt sind. Im südlichen Oregon sind viele Menschen arbeitslos, und über Gardiner liegt ein Hauch von Tristesse.

Gardiner Super Market

Im halbverfallenen Laden, der sich stolz Supermarkt nennt, sind die Dosen und Nudelpakete immer mit 10 cm Abstand ins Regal drapiert, damit es nicht so leer wirkt. Dazu gibt es alte Poster, Schellackplatten und gebrauchte Arbeitskleidung. Hinter der Kasse taucht wie ein Kastenteufel eine Oma auf mit Zähnen wie elfenbeinerne Klaviertasten. "What d’ye want, Mac?" Erstaunlicherweise gibt es sogar Orangensaft, absolut nötiger Vitaminschub jetzt. Doch angesichts des Staubs auf der Flasche ist das letzte Vitamin dieser Gottesgabe bestimmt so ca. im Dezember 1986 entwichen. Auch wir entweichen und setzen uns nach Süden ab, Richtung California.

California, das ist der südlichste und letzte amerikanische Bundesstaat auf unserem Trip. Und California ist ein riesiges Land, um einiges größer als Deutschland beispielsweise. Fast 1700 Kilometer sind es noch bis runter nach San Diego, das ist rund doppelt so viel wie die ganze Wegstrecke, die wir seit Seattle zurückgelegt haben.

Die Einreise nach California gestaltet sich fast als käme man aus einem feindlichen Ausland. Es gibt tatsächlich eine Grenze mit Wärterhäuschen und Schranke. Doch wir kennen die Prozedur von der Route 66; das ist hier die Fruit Inspection, die verhindern will, dass die gemeine Fruchtfliege und ähnlicher Unbill in den Sunshine State einwandert. Doch nur eine einsame Zwiebel findet sich in den Tiefen unserer Packtaschen, und die wird gnädig durchgewunken. Die Fruchtfliege sitzt derweil bestimmt auf dem Dach des Grenzgebäudes und lacht dabei. Nicht lachen tun aber die zwei Franzosen, die neben ihrem Mietwagen stehen und sich gerade anschicken, einen größeren Obstkorb leerzufuttern.

Gleich nach der Landesgrenze nimmt uns wieder der Wald auf. Die One-O-One wendet sich jetzt von der Küste ab, die in Californias nördlichstem Zipfel sehr steil und unzugänglich ist. Erst nach gut 300 Kilometern wird der Ozean wieder unseren Ritt bestimmen. Die Wälder werden immer dichter, und der Anteil der Laubgehölze geht nach und nach zurück. Douglasien und Hemlocktannen schwingen sich zu imposanter Höhe auf, und bald sehen wir auch die ersten Redwoods, zu deutsch Mammutbäume, für die Californias Norden berühmt ist.

Redwood Biking

Sowas von Bäumen haben wir noch nicht gesehen! Wie gigantische Elefantenfüße stehen die Redwoods direkt neben der Straße. Sie können Höhen von gut 100 Metern erreichen und die ältesten Exemplare sind über 2000 Jahre alt. Damit sind sie die größten und ältesten Lebewesen der Erde überhaupt. Archaisch und unverändert stehen die Redwoods da, wie schon zu Zeiten der Dinosaurier. Die erst in 80 Metern Höhe einsetzenden Wipfel lassen fast kein Licht auf den Boden dringen. Selbst das Fotografieren wird zum Problem, manchmal knipsen wir mit 1/8 Sekunde. Eigentlich bräuchte man hier ein Stativ.

Ein ausgewachsener Mammutbaum erreicht locker eine Dicke von sechs bis sieben Metern, und zwölf Männer müssten eine Kette bilden, um den Stamm zu umfassen. Hier wird der Mensch zum Winzling, zur unbedeutenden Laus im Garten der Welt. Alle diese Redwoods sind höher als die Freiheitsstatue und das Capitol in Washington, dabei entstanden aus einem Samen von der Größe eines Tomatenkernchens.

2000 Jahre Differenz

Etwa 2000 Jahre Zeitdifferenz liegen zwischen dem kleinen Sprößling hier (1) und dem gefallenen Riesen im Hintergrund, und aus dem totem Holz wachsen bereits wieder neue Bäumchen heraus (2). Die Natur nimmt und gibt und recycelt sich selbst. Nirgends auf der Welt empfanden wir jemals die Ewigkeit so nah wie hier.

Früher einmal erstreckte sich ein zusammenhängender Redwoodwald über ganz Nordcalifornien, und heute sind gerade mal fünf Prozent davon noch übrig. Glücklicherweise hat der Staat California hier im Humboldt County eine Reihe von Parks eingerichtet, um den Rest dieses faszinierenden Ökosystems für die Nachwelt zu erhalten. Das Info-Center im Redwood National Park verteilt einen recht informativen Prospekt über Flora und Fauna der Wälder, mit dem die Parkbesucher für die Natur sensibilisiert werden sollen. Und uns sensibilisiert vor allem der ausgestopfte Bär, der in einer Ecke herumsteht und in nicht ausgestopftem Zustand recht häufig im Park vorkommen soll. Ehrlich gesagt, Muffe haben wir immer noch! Zu unserer Schande müssen wir gestehen: Heute mieten wir uns für die Nacht eine hübsche Holzhütte mit stabilen Fensterläden. Und während die Wipfel dieses urtümlichen Walds geheimnisvoll rauschen endet der erste hochinteressante Tag im Redwood Country mit einem guten Chili, einem kühlen Bierchen vom Campingladen und einer angenehmen, gänzlich bärenfreien Nachtruhe in einem fantastischen, weichen Kingsizebett.

Auch in Nordcalifornien wird natürlich kräftig Forstwirtschaft betrieben. Ganz in der Nähe, im Städtchen Scotia, steht das größte Redwood-Sägewerk der Welt. Man kann es besichtigen und, trotz aller Vorbehalte, das lassen wir uns natürlich nicht entgehen. Zügig rollen wir deshalb am nächsten Morgen weiter auf der US 101 nach Süden und stehen schon bald vor den riesigen Hallen der Pacific Lumber Company, kurz PALCO.

PALCO

Der Eintritt ist kostenlos, das läuft unter Public Relations. Redwood-Holz ist in den USA ein beliebter Artikel, und es gibt immer noch etliche Waldbestände, die keinem staatlichen Schutz unterliegen.

Jeder Besucher erhält zunächst eine hübsche Redwood-Schindel mit aufgedruckter Betriebsordnung. Dann darf man sich allein auf den Weg machen entlang einer auf den Boden gemalten gelben Linie. Und ein Faltblatt erklärt, was es an den einzelnen Points of Interest zu sehen gibt.

Der erste Verarbeitungsvorgang ist das Entrinden. In einer gigantischen Anlage werden die Stämme, die vorher in verarbeitungsgerechte Stücke geschnitten wurden, mittels eines Hochdruck-Wasserstrahls von ihrer Borke befreit. Schade, dass man das nicht knipsen kann! Es ist wirklich hammerhart, wie die Riesenstämme in diesem sogenannten Debarker umeinandergebeutelt werden.

PALCO - nach 3 Sekunden entrindet

Da wackelt die Wand, und nach drei Sekunden ist kein Fitzel Rinde mehr dran. Dann werden die Stämme auf einem künstlichen Fluss zu den jeweiligen Sägehallen geflößt. Im Hintergrund sehen wir das Kraftwerk, das mit Holzabfall betrieben wird und ganz Scotia mit Strom versorgt. Das sei sehr umweltfreundlich, heißt es, denn schließlich würde der Holzabfall sonst fortgeschmissen und man müsste wertvolles Rohöl nehmen.

In der Werkstatt kann man ein riesiges Sägeblatt bestaunen, das auf seine Nachschleifung wartet. Solche Blätter zerlegen in haushohen Bandsägemaschinen innerhalb von wenigen Sekunden zu Kleinholz, was mehr als tausend Jahre zum Wachsen brauchte. Jedes Brett, jedes Kantholz ist ein einziger, gemeiner Naturfrevel! Unterbezahlte Akkordarbeiter sortieren am Fließband Latten oder stellen Leimholz her. Es gibt eine Menge mieser Jobs bei PALCO, aber die Alternative heißt Arbeitslosigkeit, und wer fragt da schon nach beruflicher Erfüllung oder gar nach Bedenken zwecks Ausverkauf der Natur?

Bis zu 100.000 US$ beträgt der wirtschaftliche Wert eines einzigen Mammutbaums. Aus seinem Stamm kann man mehrere Einfamilienhäuser bauen. Besseres Holz gibt es auf der ganzen Welt nicht. Es ist schädlingsresistent und schwer entflammbar, da haben die Umweltschützer schlechte Karten. Zwar formiert sich immer mehr Widerstand gegen die Abholzung, manchmal verirren sich sogar Informationen über den großen Teich bis in unsere Zeitungen. Aber die PALCO-Eigner sitzen weit ab vom Schuss in Texas und lassen sich nicht groß stören. Im Gegenteil, sie starten eine PR-Gegenoffensive und spielen sich selbst als Naturschützer auf. Die Bosse kommen charakterlich gleich nach dem Weihnachtsmann, kümmern sich um bedrohte Tierarten wie die gepünktelte Waldohreule und pflanzen außerdem für jeden abgeholzten Baum fünf neue. Dass die dann aber auch wieder wenigstens 1.000 Jahre zum Wachsen brauchen, das sagt man lieber nicht.

Die californischen Redwoods - ein Trauerspiel! Wir ziehen Leine, bevor es uns die Tränen in die Augen treibt. Bald sind wir wieder auf der One-O-One und kurbeln zügig gen Süden. Die sogenannte "Straße der Giganten" bringt uns in den Humboldt State Park und damit wieder in die beeindruckenden Wälder zurück. Eine Wand aus Bäumen verschluckt den Highway wie ein schwarzes Loch. Wunderbare Kühle und Zeitlosigkeit empfängt uns drinnen, und noch ein halber Tag traumhaftes Redwood-Biking steht uns bevor. Doch auch die geschützten Humboldt Redwoods sind nicht ganz vor dem Kommerz gefeit.

Avenue of the Giants Immortal Tree Drive Thru Tree

So kann man beispielsweise den "Immortal Tree" besichtigen, den unsterblichen Baum also. Er heißt so, weil er mehrere Blitzschläge, das Jahrhundert-Hochwasser 1964 und eine Beinahe-Fällung im Jahre 1908 überlebt hat. Selbstverständlich gibt es gleich daneben einen Andenkenladen, der offensichtlich ganz gut Kohle macht. Ein weiteres Redwood wurde ausgehöhlt und enthält ein kleines Haus (believe it or not!), und dann gibt es noch den "Drive Thru Tree", in dessen Stamm ein Tunnel hineingeschnitzt wurde, durch den man mit dem Auto hindurchfahren kann. Einen Dollar 50 kostet das Vergnügen, das Bäumchen ist eine Goldgrube, es gibt sogar einen kleinen Verkehrsstau.

Auch wir zahlen brav unseren Obolus, denn einen Baum hatten wir bislang noch nie durchradelt. Die Begeisterungsfähigkeit der Amis für Fun und Kitsch steckt auch uns manchmal ein wenig an, wie wir zu unserer Schande gestehen müssen. Irgendwie scheint der Zivilisationsbürger mit diesen Redwoodwäldern überfordert zu sein. Er hat sich an seiner Kultur überfressen und ist nur noch durch Superlative wie den größten, den dicksten Baum der Welt oder eben den einzigen Tunnelbaum Amerikas von seinem Computer und seinem Fernseher wegzulocken.

Bei Leggett verlassen wir die gute alte US 101 und biegen ein in den Highway One, die California Nummer Eins. Den berühmten Wegweiser, an dem sich die US 101 und die CA 1 teilen, können wir leider nicht knipsen, weil jemand das CA 1-Schild geklaut hat. Nur noch ein müder grüner Pfeil hängt traurig an einem Nagel nach schräg rechts unten. Und dann kommt er, der bei allen Radlern gefürchtete Leggett Hill.

Anfahrt zum Leggett Hill

Bestimmt gibt es kein Lagerfeuer zwischen Seattle und San Diego, an dem nicht das Thema auf den Leggett Hill kommt. Die, die ihn schon hinter sich haben, verkünden ihre Großtat mit stolzgeschwellter Brust, als hätten sie den Nanga Parbat ohne Sauerstoffgerät bezwungen. Wer den Ritt noch vor sich hat, bekreuzigt sich dreimal und senkt ehrfürchtig das Haupt; es kursieren auch alle möglichen Schlagworte vom Muscle Cracker bis Killer Hill. Wer sich wohl solche Latrinenparolen ausdenkt? Der knapp sechs Kilometer lange Anstieg entpuppt sich als zahnloser Tiger, die Steigung liegt nur kurzfristig bei 9 %, sonst sind es meistens weit unter 7 %. Jede Schwarzwaldstraße ist da anspruchsvoller. Mit rundem Tritt gehen wir es an; wir haben die schattige Waldstraße fast für uns alleine. Sie ist nagelneu asphaltiert, beeindruckend rauschen rundum die Tannen. In den guten Harzgeruch mischt sich hin und wieder der Gestank der überforderten Bremsbeläge des Gegenverkehrs, denn die Amerikaner mit ihren Automatikschlitten pflegen bergab nicht herunterzuschalten und bewältigen solche Abfahrten mit dem Fuß auf dem Bremspedal.

Auf der Passhöhe verläuft die Straße ein kurzes Stück lang eben, und eine Waldlichtung gibt den Blick frei auf ein unendliches Meer aus Baumwipfeln. Irgendwo da hinten im Morgendunst muss der Pazifik sein. Lost Coast, die verlorene Küste, heißt dieser Abschnitt wegen seiner Unzugänglichkeit, nur wenige unbefestigte Waldstraßen führen durch das nahezu unbesiedelte Gebiet rechter Hand. Verloren ist dieses Areal wohl auch ein wenig für den Einfluss des Sheriffs; in den Wäldern ringsum soll es etliche Marihuanapflanzungen geben, die schon zu Flower-Power-Zeiten ganz Northern California mit Pot versorgten. Ab und zu, so haben wir uns sagen lassen, sorgen die Marines mit Fallschirmeinsätzen für Recht und Ordnung, im unübersichtlichen Terrain jedoch sicher mit nur mäßigem Erfolg.

Die Südrampe des Leggett Hill beschert uns herrliche Downhill-Passagen, immer wieder unterbrochen durch Flachstücke und sogar ein paar kurze Gegenanstiege. Wir rollen ohne Eile und etwas wehmütig dahin, wohl wissend, dass wir unser letztes größeres zusammenhängendes Waldgebiet vor San Diego durchqueren. Diese Ecke ist wirklich fast menschenleer, vereinzelt sieht man Briefkästen an einmündenden Waldwegen; die zugehörigen Häuser sind bestimmt meilenweit entfernt. Und irgendwann hat uns die schroffe Küste wieder. Da kommt Freude auf, denn der Highway One ist für uns vor allem eins: die Zielgerade nach San Francisco, direkt über die Golden Gate Bridge.

Faszinierend, wie schnell sich ein Landschaftsbild auf wenige Meilen total verändern kann! Die schönen Wälder des Hinterlands machen hier an der Küste weiten Grasflächen Platz, auf denen Rinderzucht und vereinzelt auch Ackerbau betrieben wird. Hin und wieder radelt man durch kleine Eukalyptuswäldchen, in denen es angenehm nach Hustenbonbons riecht. Der nicht sonderlich fruchtbare Boden hier verhindert eine intensivere landwirtschaftliche Nutzung. Entsprechend dünn ist auch die Siedlungsdichte. Manchmal vergehen 50 Kilometer bis zum nächsten Handelsposten, meist in Form eines urigen Dorfladens, in dem es aber alles gibt, von Konservendosen über Leihvideos, Sprit, Angelruten, Ameisenfallen, Bier und Gebisshaftcreme, selten jedoch frisches Obst.

Arch Richardson - General Merchandise since 1868

Nicht nur die Versorgungsmöglichkeiten machen sich rar in Nordcalifornien, sonder leider auch die Sonne. Die Küste hier bis weit südlich von San Francisco ist bekannt für ihre zähen Nebelfelder, die meist als hochnebelartige Bewölkung auftreten. Es ist kühl, nieselt zuweilen, und oft wird es später Nachmittag, bis mal ein paar Sonnenstrahlen bis auf den Boden dringen und der Reiseradler Herz erfreuen. So biken wir zügig, auf dass es uns warm werde. Doch irgendwie passt das Wetter zu diesem schroffen, siedlungsfeindlichen Küstenabschnitt und verleiht der herben Landschaft einen eigentümlichen Reiz so irgendwo zwischen einem Gemälde von Caspar David Friedrich und einem Roman von Edgar Allan Poe. Und fast beiläufig passieren wir auch das Städtchen Bodega Bay, wo Alfred Hitchcock einst seinen berühmten Film "Die Vögel" drehte. Passt auch ganz gut zu dieser Stimmung, irgendwie.

Highway One bei Fort Ross

Oft verläuft die Straße wie ein Sims an der Küste entlang. 200 Meter tiefer nagt der Pazifik mit Vehemenz an den Klippen, die hauptsächlich aus verfestigtem Dünnensand bestehen. Oft ist ein Stück Straße hinuntergebröselt und musste durch einen Bypass ersetzt werden. Selbst Wohnhäuser bleiben nicht verschont; in Northern California ist nicht nur Geld und Glück, sondern auch Haus und Grund vergänglich. For sale by Owner hat noch einer treuherzig an seine noble Villa geschrieben, dieweil die Terrasse des Anwesens schon drunten auf dem Sandstrand liegt.

Ein weiteres hochinteressantes Feature für die Vergänglichkeit des Californian Dream ist die schmale, langgestreckte Tomales Bay, die wir bald erreichen. Hier, mitten durch den Nationalpark Point Reyes National Seashore verläuft nämlich der San-Andreas-Graben, die berühmte geotektonische Verwerfungszone. Im San-Andreas-Graben, so lehrt die Wegner’sche Plattentektonik, driftet die Pazifische Platte an der Nordamerikanischen Platte entlang jährlich ca. fünf Zentimeter nach Norden. Normalerweise ist das kein Problem, aber wenn sich die Platten aneinander verhaken und wieder losreißen, dann gibt es eines der berüchtigten Erdbeben in San Francisco.

Im Nationalpark gibt es den Earthquake Trail, den wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Er führt über eine eigentlich völlig belanglos aussehende Hangwiese, aber die war am 18. April 1906 Schauplatz eines Dramas.

San Andreas Faultline

An diesem Tag bewegte sich nämlich die Pazifische Platte auf einen Schlag um sechs Meter nach Norden. Es entstand ein Graben von einem Meter Breite, heute angezeigt durch eine Reihe blauer Pfosten. Der Spalt ging genau durch die Scheune der Shaffer-Farm, wo neben diversen Gebäudeschäden auch noch der Tod der armen Kuh Matilda zu beklagen war. Diese stürzte nämlich in den Graben und brach sich dabei das Genick.

Schlimmer als Shaffers Farm erwischte es aber die Stadt San Francisco. Dort gab es über tausend Tote; mehr als 50 % der Häuser waren zerstört. Ein Großfeuer verschlimmerte die Sache, weil es aufgrund geborstener Wasserrohre nicht gelöscht werden konnte.

San Francisco Earthquake 1906

Seither lebt San Francisco auf dem Pulverfass. Irgendwann wird er kommen, der Big Bang, der finale Schlag, ein Erdbeben in noch nie gekannter Größe, da sind sich alle Geologen einig. Am 17. Oktober 1989 gab es schon mal einen Vorgeschmack. Außer zahlreichen Häusern stürzte auch eine doppelstöckige Autobahn ein und begrub mehr als 250 Autos unter sich. San Francisco gilt vielen als die schönste Stadt der Welt, aber es bleibt ein Traum mit Macken. Hoffentlich findet der Big Bang nicht statt, wenn wir gerade über die Golden Gate Bridge rollen!

"If you’re going to San Francisco" sang Scott McKenzie einst. Zwar nicht ganz stilecht mit Blumen im Haar, dafür aber mit Helm und mit gemischten Gefühlen starten wir im Morgendunst zur Königsetappe. Der Highway One führt wie eine Achterbahn entlang einem weiteren atemberaubenden Küstenstrich hinunter nach Sausalito, direkt vorbei an den berühmten Hausbootsiedlungen.

Nachmittag, 16.30 Uhr: Mit trockenem Antritt geht es die Alexander Avenue hinauf – geschafft! Von einer Kuppe sehen wir plötzlich den nördlichen Pfeiler der Golden Gate Bridge herausragen, fast wie eine überirdische Erscheinung! Weiß und zerbrechlich zeichnet sich dahinter San Francisco ab, wie ein von Nebeln getragenes Luftschloss. Einfach gigantisch, wie diese Stadt sich in Szene setzt, praktisch von einem Pedaltritt zum nächsten.

Superspan

In keine Stadt, die wir kennen, kann man schöner hineinfahren als nach San Francisco! Die Golden Gate Bridge ist einfach bezaubernd schön, filigran und mit Art-Deco-Elementen, für uns neben dem Eiffelturm die absolut tollste Stahlkonstruktion der Welt! 25 Jahre wurde geplant und gebaut, bis dieses Wahnsinnsprojekt vollendet war. Der Kampf gegen Nebel, Wind und den an dieser Stelle sehr starken Gezeitenstrom war extrem hart. Der Bau kostete 100.000 Tonnen Stahl, 520.000 Kubikmeter Beton und elf Arbeiter das Leben. Manchmal bläst es so am Golden Gate, dass die Brücke für den gesamten Verkehr gesperrt werden muss. Hier hat es schon beladene Trucks um eine ganze Fahrspur versetzt.

Unsere Hotelreservierung in Downtown San Francisco gilt leider erst ab morgen. Wir vertagen damit das Top Event dieser Etappe und verbringen die Nacht auf einem kleinen Campground oben in den Marin Headlands. Von dort präsentiert sich die Brücke interessant im Abenddunst. Morgen packen wir’s – vor lauter Vorfreude können wir kaum schlafen.

Früh schon sitzen wir anderntags im Sattel. Bei schönstem Sonnenschein rollen wir den Berg hinunter und biegen ein zur Brückenauffahrt. Und da kriegen wir mal wieder kurz eine Lektion in pazifischer Wetterkunde verpasst, die sich gewaschen hat. Von jetzt auf nachher zieht nämlich ein unglaublich dichter Nebel auf und wabert binnen Sekunden alles zu.

Golden Gate - wo ist die Bridge?

Und so überqueren wir das Golden Gate in einer solchen Suppe, dass wir kaum die Brückenpfeiler sehen können, obwohl wir drunter durchfahren. Das Ganze wird untermalt vom sonoren Klang diverser Nebelhörner. Auch das Wasser und die Schiffe sind nicht zu erkennen.

Doch seltsamerweise sind wir nicht enttäuscht. Stattdessen fühlen wir uns wie in den Weiten des Weltalls, intergalaktisch, irgendwie. Auf jeden Fall: Dieser Extremritt wird uns wohl ewig im Gedächtnis bleiben! Und kaum verlassen wir den südlichen Brückenkopf, da stehen wir wieder in der prallen Sonne. San Francisco ist eben immer für eine Überraschung gut.

Bald rollen wir zügig die Columbus Avenue entlang, unserem vorgebuchten kleinen Hotel entgegen. Dort richten wir uns für die nächsten drei Tage häuslich ein und die Fahrräder haben für eine Weile Pause. San Francisco erkundet man am besten zu Fuß oder mit der Cable Car, und die bringt uns gleich hinaus zur Fisherman’s Wharf. Hier pulsiert das Leben, und das tut mal wieder so richtig gut nach den vielen einsamen Etappen.

San Francisco! Wie soll man in kurzer Zeit einer Stadt gerecht werden, die ein solch’ unvergleichliches Feeling hat? Ähnlich wie beispielsweise Paris ist San Francisco ein Gesamtkunstwerk, und dafür gibt es viele Gründe. Zum Beispiel findet man hier noch sehr viel alte, liebevoll restaurierte Bausubstanz, auch nach den großen Erdbeben. Dazu ist das Gelände, auf dem San Francisco steht, eigentlich gar nicht großstadttauglich.

Downtown San Francisco

Über 40 Hügel zählt das Stadtgebiet, ein Zehntel aller Straßen weist knackige Steigungen von 20 % und mehr auf. Und weil San Francisco auf drei Seiten vom Wasser umgeben ist, konnte es auch nicht ungezügelt expandieren. Kein Wunder, dass, was die Wirtschaftskraft betrifft, San Francisco irgendwann von Los Angeles der Rang abgelaufen wurde. Aber das ist gut so. Ein amerikanisches Sprichwort sagt: "Die Macht sitzt in Washington, das Geld sitzt in Los Angeles und die Freiheit sitzt mit einem Cappuccino in der Hand in San Francisco im Straßencafé".

Wohl in keiner anderen Stadt der Welt leben so viele Subkulturen friedlich zusammen wie hier. Chinatown beispielsweise ist die größte chinesische Ansiedlung außerhalb von China. Minderheiten aller Art haben sich in San Francisco nicht anzupassen, sondern sie werden voll akzeptiert. Auf jeden Fall: San Francisco ist eine einfach fantastische Mischung und ständig in Bewegung. Und wir, wir schlendern stundenlang durch die Gassen von Chinatown und futtern uns rund im Gasthaus zum Goldenen Drachen oder in einer der vielen Kneipen von Little Italy, das gleich um die Ecke liegt.

Cable Car Museum

Absolut faszinierend finden wir auch die Cable Car, die vor einigen Jahren sogar in den Rang eines National Monuments erhoben wurde und damit Amerikas einziges Monument auf Rädern ist. In einem tollen, historischen Backsteingebäude ist die Cable-Car-Zentrale, wo alle Kabel der heute noch verbleibenden drei Linien zusammen laufen. Riesige Rollen schicken leise surrend mit konstant 15 km/h das Drahtseil auf seine lange Reise unter den Straßen von San Francisco. Man sieht auch die chaotische Betriebswerkstatt und im ersten Stock ein kleines Museum, das für uns zu den interessantesten Museen der Stadt zählt.

Natürlich fahren wir auch nach Haight-Ashbury hinaus, wo 1967 die Hippie-Kultur entstand. Wo anders als in San Francisco hätte das auch sein können? Uns locken dort aber vor allem die wirklich abgedrehten Bike Shops, die auch für europäische Räder nahezu jedes Ersatzteil führen, und ein paar Teile brauchen wir jetzt dringend.

Bike Shop in Haight-Ashbury

Sybilles Rad schüttelt immer seine Schutzblech-Schrauben ab und bei meinem teuren Brooks-Ledersattel sind jetzt schon zum dritten Mal beide Sattelfedern gebrochen. Böse Zungen behaupten, das komme von meinem gesunden Kampfgewicht, aber 87 kg muss ein Sattel schon packen. Ist einfach miese Murks-Qualität! Beim Verchromen der Federn ist Chrom in die Poren des Federstahls eingedrungen – jeder Ingenieur weiß normalerweise, dass man Federstahl nicht verchromt. Es ist übrigens selbst in Haight-Ashbury unmöglich, Sattel-Ersatzfedern aufzutreiben – die Amis fahren Full Suspension oder Rennrad; Feder-Sättel sind mega-out. Wir kaufen deshalb einen gebrauchten indischen Ledersattel Marke "Cycle Right". Der ist so hart, dass sich bestimmt jeder Fakir darauf in Extase gesessen hätte, aber zum Schluss mausert er sich doch noch zum guten Kumpel, und ich habe ihn noch heute.

Keine Frage, langweilig wird es uns in San Francisco nicht! Ruckzuck sind die drei Tage um, ohne dass wir der Vielfalt dieser Stadt auch nur im Ansatz gerecht geworden wären. Drei tage bei allerschönstem Wetter übrigens, und erfreulicherweise ohne auch nur das geringste Erdbeben. Doch pünktlich zur Weiterfahrt ist dann die graue Suppe wieder da – Nebel und Nieselregen bestimmen die nächsten 250 Kilometer. Wir verlegen uns aufs Meilen Machen, treten in die Pedale und lassen es rollen, der Sonne Südcaliforniens entgegen.

Als das Wetter langsam besser wird, sind wir schon hoch über den Felsstürzen von Big Sur. Schroff ist dieser Abschnitt der californischen Küste, grün und schluchtenreich. Die folgenden 120 Kilometer sind wohl das berühmteste Stück des Highway One überhaupt. Erst 1937 wurde hier die Straße nach endlos langer Bauzeit fertig. Die Ingenieure und Arbeiter hatten vor allem mit dem sehr krümeligen Gestein zu kämpfen. Für die gefährlichsten Arbeiten rekrutierte man Freiwillige aus dem Knast von San Quentin, denen man dafür Straffreiheit versprach. Wie viele von ihnen damals verschüttet wurden, das weiß heute keiner mehr genau. Oft ist die Straße auch heute noch wegen Erdrutschen gesperrt und es kommt zu weiträumigen Umleitungen.

Big Sur

Für Pacific Coast Biker ist Big Sur mit Sicherheit die schönste Etappe südlich von San Francisco. Euphorisch kurbeln wir um enge Kurven; ein fantastischer Aussichtspunkt jagt den nächsten, von drunten klingt Brandungsrauschen und Seelöwengebell herauf. Kaum Siedlungen gibt es an diesem Küstenstrich, lediglich ein paar großstadtmüde Aussteiger haben sich an besonders unzugänglichen Ecken niedergelassen.

Einer dieser Stadtflüchtlinge war William Randolph Hearst. In San Simeon, wo die Berge von Big Sur nach Süden hin bereits wieder abflachen, liegt hoch auf einem Hügel sein bescheidenes Heim, das Hearst Castle, inmitten eines Grundstücks, das größer ist als die ganze Stadt Stuttgart mit sämtlichen Vororten.

William Randolph Hearst besaß 26 Zeitungen, 13 Magazine und 8 Radiosender. Er produzierte Wochenschauen, Hollywoodfilme und war, als er 1951 starb, einer der reichsten Männer der Welt. Im Stil des neureichen Onkels aus Amerika wollte Hearst eigentlich Windsor Castle vom englischen Königshaus kaufen, zerlegen und in San Simeon wieder aufbauen lassen. Diesen Projekt konnte er jedoch nicht realisieren, und so ließ er sich von der Stararchitektin Julia Morgan sein ganz persönliches Neuschwanstein bauen, zur Präsentation seiner auf der ganzen Welt zusammengekauften Kunstschätze und zum Angeben vor seinen illustren Partygästen. Im Morgengrauen schaukelt uns ein Bus über eine gut 15 Kilometer lange Privatstraße hinauf zum Hearst Castle, das heute dem Staat California gehört und gegen Eintritt besichtigt werden kann.

Hearst Castle, das ist ein ganzer Komplex von Einzelgebäuden mit zusammen mehr als 150 Zimmern. 1919 wurde mit dem Bau begonnen, und bei Hearsts Tod 1951 war es immer noch nicht fertig. Jedes Jahr soll der Mann mehrere Millionen Dollar in seinen Schuppen gesteckt haben, und heraus kam so eine Art gigantisches Kultur-Disneyland mit einem Schuss Banausentum, das auf der Welt wohl seinesgleichen sucht.

Wir erklimmen die Stufen und wenden uns nach links. Bestimmt haben wir schon einiges auf der Welt gesehen, aber jetzt präsentiert sich uns im milden Morgenlicht ein Bild, da bleibt selbst uns die Spucke weg: Hinter einer Säulenkolonade spiegelt sich nämlich ein griechischer Tempel im Wasser, und zwar im absolut schönsten Pool, den wir je gesehen haben.

William R. Hearst's bescheidenes Bad

Unheimlich einladend kräuselt sich das klare Wasser über türkisblauen Fliesen und Mäander-Mosaik. Inständig hoffen wir, dass gleich Neptun aus den Fluten auftauche und jedem Gast mit seinem Dreizack eine Badehose reiche. Wir würden Willie glatt verzeihen, dass er originale altgriechische und römische Gebäudeteile in seine Beton-Akropolis hineingebastelt hat.

Die Gästehäuser hingegen sind auf Andalusien getrimmt. Hier, so erfahren wir, haben schon Erroll Flynn, Katharine Hepburn und Johnny Weissmüller logiert. Natürlich weisen die Gästezimmer jeden erdenklichen Luxus auf, vom obligaten Einzelbad mit Dusche bis zum Sammelsurium unbezahlbarer Antiquitäten. Die werten Gäste nächtigten in echt gotischen Bettgestellen, selbstverständlich mit moderner Sprungfedermatratze, und unter echten Bildern, so ab Rembrandt aufwärts. Hearst selbst übrigens pflegte sich nachts mit einem originalen, mehrere hundert Jahre alten Papstgewand zuzudecken.

Weiter geht es, hinaus auf die sogenannte Esplanade, wo früher die Gäste mit Cocktailgläsern in der Hand entlangflanierten. Dabei passieren wir fast beiläufig eine ägyptische Sekhmet-Statue "von vor 3.000 Jahren", wie Hearst zu sagen pflegte. Diese hier ist selbstverständlich echt, das Modell im Museum in Kairo ist eine Nachbildung.

Bald stehen wir vor dem Haupthaus, der "Casa Grande". Sie hat zwei Glockentürme und ist der Kathedrale von Sevilla nachgebildet. Aber innen findet man keine Kirche vor, sondern die Speise- und Aufenthaltsräume, und mit den 36 Glocken wurde seinerzeit zum Essen gebimmelt. Die hölzerne Giebelverzierung ist natürlich original und aus einem spanischen Kloster.

Hearst Castle - Casa Grande

Innen gibt es jetzt wirklich die geballte Packung - schade, dass man das nicht knipsen darf! Im Refektorium beispielsweise präsentiert sich gotisches Chorgestühl zum flämischen Gobelin aus dem 16. Jahrhundert unter den Originalfahnen italienischer Adelsgeschlechter und vor dem Kamin aus einem abgerissenen Loireschloss. Und so geht es weiter – italienische Walnussdecke, indische Tempellampen, Tisch aus dem 14. Jahrhundert, Herkunft: Ein spanisches Kloster; dann persische Bildkacheln und barocke Porzellanfiguren.

Eigentlich müsste jeder kunstbeflissene Ästhet in dieser Monsterkulisse nach wenigen Minuten bewusstlos zusammenbrechen. Doch seltsamerweise sind wir eher fasziniert als geschockt und können uns eines Grinsens nicht erwehren. Für die Amis ist diese Anlage hier tatsächlich Kunst, wie wir den begeisterten Ausrufen der Besucher entnehmen können. Sie pilgern hierher wie unsereiner, sagen wir mal, zu den Uffizien nach Florenz. Ist es nicht oft gerade diese optimistische Unbekümmertheit, dieses Losgelöstsein von Tradition und Etikette, das uns die Amerikaner so sympathisch macht? Eine erdbebensichere Kathedrale aus Beton finden sie eben einfach besser als das Vorbild in Sevilla, und wenn dieses hundertmal das Original ist. Und so hat Hearst Castle auch für uns auf gewisse Weise seinen Reiz. Natürlich darf man das genausowenig zugeben wie dass man gerne zu McDonald’s essen geht. Auf jeden Fall: Hätte Hearst uns zur Pool Party eingeladen, wir wären sicher gekommen. Und außerdem hat bestimmt nicht jeder schon mal texanische Steaks mit Napoleons Tafelsilber gegessen.

San Simeon markiert nicht nur ein skurriles Highlight am Pacific Coast Highway, sondern, rein geografisch betrachtet, auch den Übergang nach Südcalifornien. Unglaublich, wie genau man das merkt, von einem Meter auf den andern! Ab sofort ist es dauerhaft warm und trocken, absolut null Nebel von hier bis San Diego. Auch die Architektur ist anders, spanisch–mexicanisch geprägt, so mancher Ort hat sein weißes Missionskirchlein.

Mission Santa Barbara

Die Orte tragen klangvolle spanische Namen wie Santa Barbara, Guadalupe (oder auch Los Angeles). Und irgendwie haben sie Lebensgefühl.

In Morro Bay finden wir einen schönen Supermarkt. Sybille geht hinein zwecks Zusammenstellung des Mittagsmenüs; ich warte draußen bei den Rädern. Sofort steht eine ganze Menge freundlicher Menschen da. Sehr angenehm unterhalte ich mich mit einem älteren Ehepaar – der Mann war als Soldat sechseinhalb Jahre in Germany (Ramstein) und hat außerdem voriges Jahr mit seinem Kumpel zusammen in nur 20 Tagen (!) den ganzen Westcoast Highway von Vancouver bis Mexico abgeradelt. Alle Achtung, das würden wir vielleicht ohne Gepäck und ohne jeglichen Besichtigungs-Zwischenstopp gerade schaffen. Während wir uns angeregt auf Englisch unterhalten, kommt noch eine ca. 60jährige Frau dazu und sagt, dass ich ganz bestimmt aus Stuttgart komme, sie sei nämlich aus Tuttlingen und könne ganz genau am Slang unterscheiden, ob jemand aus Stuttgart, dem Raum Heilbronn oder von der Schwäbischen Alb komme. Wir lachen alle, herzlich verabschiedet (Good luck, be careful). Nett, sowas – vom Nordwesten sind wir das eher nicht gewohnt, und auch so mancher Radler hält auf einen kurzen Plausch.

Weiter geht es; durch ein wunderschönes Tal mit Blumen- und Gemüsekulturen erreichen wir bald San Luis Obispo. Wir schauen kurz bei der historischen Mission vorbei, sitzen relaxed auf der Plaza – und beschließen spontan, die Nacht über hier zu bleiben. Schnell haben wir in einem günstigen Motel eingecheckt. Dass wir mit eine gute Wahl getroffen haben, zeigt sich beim abendlichen Stadtbummel. Heute ist nämlich (wie jeden Donnerstag) Farmer Market. Die Bauern verkaufen an Ständen in der Higuera Street ihre Feldfrüchte, von der Tomate über die Wassermelone bis zu unzähligen uns unbekannten zucchini- und kürbisartigen Gewächsen. Dazu spielt an jeder Ecke fetzige Live Music, von Country bis Salsa.

San Luis Obispo Farmer Market

Es gibt Spare Ribs vom Grill, leckere Knoblauchbrote und jede Menge Eis; auf jedem Randstein sitzen die Bürger in Reih’ und Glied und mampfen, was das Zeug hält. In zahlreichen Buden gibt es alles vom Hausschuh bis zur Sofort-Akupressur, Juggling Jim jongliert mit Fußbällen und die Kids verfolgen, in einer Hand das Eis und in der anderen den Luftballon, gespannt und mit roten Ohren die Späße des Clowns. Das ist hier kein Markt, das ist die reinste Fiesta! Alle, wirklich alle sind hier auf der Straße und freuen sich des Lebens. Easy going ist angesagt, man hat eine positive Lebenseinstellung, auch wenn man nur Tagelöhner oder unterbezahlter mexikanischer Erntehelfer ist.

Dazu die Strände! Immer schöner werden sie, je weiter wir in den Dunstkreis von Los Angeles hineinradeln. Der Verkehr allerdings, der wird immer dichter. Die US 101, auf der wir uns seit kurzem wieder befinden, präsentiert sich hier als Freeway, hat aber zum Glück einen Radfahrstreifen. Radler gibt es einige, aber so mit Sack und Pack wie wir – im Einzugsgebiet von L.A. fühlen wir uns fast ein wenig wie Exoten; in Oregon und in Northern California war das anders gewesen.

am Old Coast Highway

Bald werden wir auf den Old Coast Hwy. ausgeleitet, wo Wohnmobil an Wohnmobil steht. Es hat eine tolle Brandung, viele versuchen sich im Surfen, aber nur ein paar packen die richtige Welle, die anderen dümpeln im Wasser wie Seehunde nach Feierabend. Einige tollkühne Jetski-Piloten sind auch zu bewundern, die nach jedem Wellenkamm ein paar Meter in die Luft fliegen. Andere tollen mir ihren Hunden herum, lassen ihre Drachen steigen, viele angeln — ob bei dem Krach einer anbeißt? Alles gemütlich und relaxed — Sunday at the beach. Später dann biegt die ausgeschilderte Bike Route ab ins Hinterland. Wir passieren Ölpumpen, Brachland, zwei Kraftwerke, Erdbeerfelder, Gebrauchtwagenmeilen, eine Gokart-Bahn, Industriegelände, Rentnerwohnparks (Retirement Colony - Age 55 and over) und die Point Mugu Air Weapons Station mit kleiner Gebrauchtraketen-Ausstellung. Und am frühen Abend sind wir endlich in Santa Monica.

Santa Monica, das ist praktisch der äußerste Saugnapf der Krake Los Angeles. Bestimmt gibt es keinen angenehmeren Ort in L.A., um sich für zwei Nächte festzusaugen. Zum einen ist Santa Monica für uns ein bisschen mit Nostalgie verbunden, denn hier endete vor einigen Jahren unsere USA-Durchquerung auf den Spuren der Route 66. Zum anderen freuen wir uns schon lange auf das Getty Center droben in den Bergen (das absolut tollste Kunstmuseum, das wir je gesehen haben!) Und ein Sunset auf dem Santa Monica Pier ist ein absolutes Muss!

California Sunset

Auch ein Abendspaziergang durch die Fußgängerzone gehört dazu – da ist der Bär los, wie immer. Viele Deutsche sind in der Stadt; California boomt gerade, das merkt man. Vor einer Kneipe werden wir vom Platzanweiser angehauen: "Kommts rein, ihr Deitschen, wenn’s mal wieder recht essen wollts. Wir san’s hier lauter Österreicher und ham an Steyrer in der Kich’n". Woran der uns wohl identifiziert hat? "Am ganzen Aufzug, und die Amis trog’n den Ehering links". Aha! Aber unser Hotelzimmer ist so teuer, dass wir unseren L.A.-Etat schon in einer Nacht überschritten haben und uns lieber auf dem Balkon was Feines kochen.

Wie gut, dass es ab Santa Monica einen schönen Strandradweg gibt! Früh am Morgen nehmen wir die letzten 200 California-Kilometer in Angriff, davon mehr als 100 durch Metropolitan Los Angeles. Eine Stadt in der Ausdehnung von Stuttgart bis Straßburg, das muss man sich erst mal vorstellen! Nur ein paar Inline Skater, Jogger und Freizeitradler sind unterwegs, während zwei Blocks weiter der Verkehr achtspurig über den Freeway tobt. Venice Beach mit seinen ganzen Muskelprotzen, die man hier normalerweise beim Training sieht, ist noch verwaist; das eigentliche Beach Life beginnt immer erst am Nachmittag, und auch beim Surfen sieht man nur ein paar Anfänger, die fürchterlich viel Wasser schlucken müssen.

Leaving Santa Monica

Aktivität herrscht aber schon am Airport LAX, dessen Startbahn der Radweg genau am Ende passiert. Eine Boeing der Southwest Airlines startet genau über unseren Köpfen, und hinterher sind wir ein paar Minuten lang nur noch zur Konversation in Zeichensprache fähig. Daneben, zwischen Startbahn und Heizkraftwerk, sieht man Familien am Strand spielen – sagenhaft; L.A. scheint die Sinne wirklich gewaltig abzustumpfen.

In Redondo Beach endet der Radweg leider, weil sie in die gestopften Wohnviertel Palos Verdes und Rolling Hills niemand hineinlassen (Sorry, folks, for habitants only), und wir müssen wieder auf den Highway One. 30 Kilometer arbeiten wir uns durch die Vororte Torrance, Lomita und Wilmington. Immer, wenn hinter uns eine Ampel grün wird, ergießt sich eine donnernde Verkehrslawine vorbei, dann ist wieder kurz Ruhe. Wir passieren auch den Hafen, wo wir mit unzähligen Eisenbahnschienen und verstärktem Schwerverkehr zu kämpfen haben. Dieselruß reizt die Lungen, und ein Tag Stadtverkehr in L.A. ist sicher mit einer Packung Rothhändle ohne Filter gleichzusetzen. Gottseidank können wir später in ruhigere Wohnstraßen ausweichen.

Queen Mary

Natürlich schauen wir auch bei der guten alten Queen Mary vorbei. Wo sonst hat man heute noch die Gelegenheit, einen kompletten historischen Luxusliner zu besichtigen? Seit 1967 liegt der alte Dampfer in Long Beach vor Anker. Er ist allerfeinstens renoviert und dient heute als schwimmendes Hotel und als Museum - allein der Kommandostand auf der Brücke ist eine Augenweide!

Queen Mary Kommandobrücke

Die Queen Mary war lange Zeit das größte Schiff auf allen Weltmeeren. Gleich 1936 errang sie bei ihrer Jungfernfahrt das Blaue Band; sie brauchte von Southampton nach New York gerade noch viereinhalb Tage. Zu Hause haben wir ein historisches Foto, geknipst aus dem Zeppelin "Hindenburg" auf dessen vorletzter Fahrt, bevor er beim spektakulären Brand in Lakehurst zerstört wurde.

Eigentlich sollten die Zeppeline die Epoche der Transatlantik-Schifffahrt beenden, aber die Queen Mary hat sie alle überlebt. Nicht nur wegen Lakehurst, sondern auch deshalb, weil sowohl Prominente als auch Parvenüs den verschwenderischen Luxus der Ozeandampfer schätzten. Schön, dass der Queen Mary der Schneidbrenner erspart blieb. Fetzig sieht sie aus mit ihren schrägen Schornsteinen, außerdem ist sie ein echtes Technikdenkmal und ein unwiderbringliches Stück gute alte Zeit. Winston Churchill, Clark Gable und Fred Astaire sind auf ihren Planken gestanden, da wollen auch wir nicht fehlen. Zu gerne hätten wir gleich im Schiffshotel eingecheckt, aber das ist auch heute noch First Class und liegt geringfügig oberhalb unserer pekuniären Möglichkeiten.

Am späten Nachmittag unseres 35. Reisetags, fast exakt 2500 Kilometer seit Seattle, erreichen wir die North Bay und sehen im Hintergrund San Diegos Skyline hervorspitzen.

Downtown San Diego

War schon ein echtes Highlight, unser Pacific Coast Bike Trip! (Schöner als Alaska/Yukon? Schwer zu sagen – fast neigen wir zum Ja, schon wegen der vielen Besichtigungs-, Kultur- und Downtown-Abstecher!). Wir nehmen uns für die nächsten drei Tage ein Zimmer im Super 8 Motel, schließlich wollen wir ja mal zu Sea World, und San Diego ist für uns (da sind wir vorbelastet) one of the best places in U.S.A.! Schnell sind die Räder abgepackt und wir machen uns, mal wieder zu Fuß, auf den Weg zu einer ausgedehnten Sause ins Gaslamp Quarter. Irgendwann reihen wir uns dann vor der Old Spaghetti Factory in die Schlange ein, die hier gewöhnlich bis auf die Straße hinaus steht; der Salat mit dem köstlichen warmen Knoblauchbrot, die Spaghetti with Meat Balls und ein Pitcher Bud Light sind für uns ein echtes Ritual an jedem Ankunftsabend in San Diego. Und als wir nach opulentem Essen wohlig und zufrieden mit einem Espresso in den Seilen hängen, da ist für uns die Etappe erst richtig erfolgreich abgeschlossen – Mission Seattle / San Diego completed.

Für den Rückweg ins Motel winken wir eins der zahlreichen gelben Taxis heran. "Wo kann i eich absetza?" fragt der freundlich grinsende Fahrer in bestem Schwäbisch. Das hätten wir von dem dunkelhäutigen, etwas zerknittert wirkenden Burschen in der Baseballjacke jetzt eigentlich nicht erwartet. Wir müssen lachen, und er erzählt uns, dass er, gebürtig aus Hawaii und aufgewachsen in Arizona, vor mehr als zehn Jahren in den Stuttgarter Kelley Barracks seinen Service abgeleistet habe. "Mensch Meier," spricht er weiter, "it was such a wonder-, wonderful time. Sometimes I miss my Spaetzels and my Cordon Blue." Ha – da hätten wir fast Heimweh bekommen. Aber jetzt, jetzt freuen wir uns auf México!

 

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